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Prosa und Poesie kunstgeschichtlicher Verhältnisse

  • Johannes Rößler: Poetik der Kunstgeschichte. Anton Springer, Carl Justi und die ästhetische Konzeption der deutschen Kunstwissenschaft. (--- ---) Berlin: Akademie 2008. IX, 443 S. S. --- Abb. Gebunden. EUR (D) 59,80.
    ISBN: 978-3-05-004451-4.
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Dass sich die Kunstgeschichte so intensiv mit ihrer eigenen Geschichte befasst, liegt wohl weniger in dem häufig angenommenen Vorhaben begründet, sich aus identitätspolitischen Gründen der disziplinären Eigenständigkeit und deren Genealogie rückversichern zu müssen. Man kann diese Tendenz zur Selbstbespiegelung mit Friedrich Schlegel noch grundsätzlicher deuten: »Die Theorie der Kunst ist ihre Geschichte«. 1 Demnach ist es nicht besonders sinnvoll, festzulegen, was Kunst sei (und sein könnte), ohne darauf zu schauen, was in historischer Hinsicht dafür gehalten und mit welchen Mitteln dieser Wertschätzung Ausdruck verliehen wurde. Ein Blick auf die Kunstgeschichte ist also in gleichem Maße immer auch ein Blick auf die theoretischen Annahmen über Kunst, wie diese theoretischen Annahmen in der Aufbereitung des historischen Materials erst sichtbar werden. Von diesem chiastischen Standpunkt aus betrachtet, ist eine Unterteilung in eine eigentliche, nur am Objekt orientierte Kunstgeschichte auf der einen Seite und einen – mehr oder weniger müßigen –»fachhistorische[n] Metadiskurs« 2 auf der anderen Seite problematisch. Darauf hat Hubert Locher vor kurzem hingewiesen:

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Die Kunstgeschichte verdient denn auch die Bezeichnung einer Kunsttheorie, da sie nicht bloß die Diskussion um die Kunst ihrer Zeit einfing oder spiegelt; sie beteiligt sich selbst an der Diskussion, indem sie anhand alter oder neuer Kunstwerke ihre besondere, immer zeitgenössische Theorie der Kunst formuliert. 3
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Doch dieser sich durch die Analyse der Kunstwerke aussprechenden theoretischen Dimension auf die Spuren zu kommen, ist nicht immer ganz einfach. Denn sieht man einmal von der lautsprecherischen Theorie-Programmatik der Frühromantiker ab, so gibt sich jenes theoretische Destillat häufig eher unauffällig und scheint hinter dem Gegenstand, den es strukturiert, zu verschwinden.

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In besonderem Maße gilt jener Umstand wohl für die nachromantische Kunsthistoriografie des 19. Jahrhunderts. Zumindest legt dies die von Johannes Rößler bei Ernst Osterkamp und Horst Bredekamp 2006 verteidigte Dissertation mit dem Titel Poetik der Kunstgeschichte nah. Die Studie beschäftigt sich ausführlich mit der »problemgeschichtliche[n] Signatur der kunstwissenschaftlichen Epoche von etwa 1850 bis 1890« (S. 3) anhand zweier ihrer bekanntesten Protagonisten: Anton Springer (1825–1891) und Carl Justi (1832–1912).

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Das, was die Schriften der Kunsthistoriker, und vor allem ihre narrativen und deskriptiven Texte zur Kunst, aussagen, steht in Zusammenhang mit einer Methodenreflexion, die – wird sie nun explizit formuliert oder nicht – hermeneutische Grundfragen berührt und die geschmacks- und ideengeschichtliche Dimension des kunsthistorischen Denkens verrät (ebd.).
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Rößler geht es um die »spezifische Semantik« und die »formale Struktur« (ebd.) der Argumentation, mithin um die Textualität kunsthistorischer Praxis. Dieses dezidiert kunstgeschichtshistoriografische Interesse fokussiert Springers und Justis Arbeiten im Brennpunkt ihres Bemühens, textuelle Kohärenz herzustellen. Da sich die Kohärenz-Strategien beider Historiker grundlegend voneinander unterscheiden, lassen sich auch die implizierten kunstgeschichtlichen Modellbildungen gut voneinander abheben und in ihren geistesgeschichtlichen Bezügen würdigen.

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Gliederung des Materials und Hauptthesen der Arbeit

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Rößler verteilt sein Material zu Springer und Justi auf zwei, je einem Kunsthistoriker gewidmete Großkapitel; diese teilen sich wiederum in übersichtliche Untergliederungen auf. Der Grundtendenz nach, Ästhetiktheorie und empirische Kunstforschung miteinander ins Gespräch zu bringen (wenn sie das nicht schon immer waren) und als einheitliche historische Diskursformation zu lesen, steht der Autor in guter Gesellschaft, wie einschlägige Publikationen zu diesem Thema beweisen. 4

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Das bereits im Titel anklingende Bemühen, (kunst-)wissenschaftliche und literarische Texte auf ihre Gemeinsamkeiten zu befragen, appliziert die aus der wissenschaftlichen Historiografie-Forschung bekannte Diskussion um die literarische Qualität geschichtswissenschaftlicher Texte auf dezidiert fachhistorisch akzentuierte Fragestellungen. Das ist originell. Implizit wird damit die interessante These formuliert, die Überwindung der Spannung von System-Ästhetik und Kunst-Empirie lasse sich am Leitfaden einer Analyse der literarischen, tropologischen Konzepte kunstgeschichtlicher Praxis erzählen.

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Historisch präziser formuliert – das zeigt ein Blick auf das erste, Springer gewidmete Hauptkapitel –, geht es Rößler zunächst darum, Historiografie und zeitgenössische realistische Literatur zueinander in Bezug zu setzen. Springers Orientierung am Realismus, so Rößlers These, fördere ein »stimmiges Konzept […], das zwischen empirischer Wissenschaft, systematischer Ästhetik und politischem Bewußtsein« (S. 6) vermittele. Deutlich wird hier das Bemühen, die darstellungsästhetischen Strategien auch in ihrer politischen Dimension ernst zu nehmen und damit die Funktionalität kunstgeschichtlicher Rede nicht nur im eigenen, disziplinären Feld zu analysieren, sondern auch im Rahmen von national- und identitätspolitisch motivierten Positionierungsstrategien. »[P]ublizistische Ästhetisierungsstrategien« werden so zu einem wichtigen Bestandteil des auch politisch sanktionierten »Methodenentwurfs« (ebd.) erklärt. Die »Vertextungsstrategien«, so Rößlers These, sind letztendlich nicht etwas, das den Schriften äußerlich wäre und gegenüber dem dargestellten Inhalt nachrangig; vielmehr müssen sie als eine »zentrale methodische Operation der (kunst-)historischen Sinnbildung« (ebd.) interpretiert werden.

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Bei Justi, dem das zweite Hauptkapitel der Studie gewidmet ist, tritt die literarische Dimension seines Schaffens noch deutlicher hervor (auch wenn seine Poetik freilich einen impliziten Charakter trägt). Justis vernunft- und wissenschaftsskeptische Kunstschriftstellerei hat kaum etwas mit dem für Springer so charakteristischen Insistieren auf die Objektivität des Faktischen zu tun. Eben deshalb kann er unbefangen unterschiedliche Textsorten – wie in seiner berühmten Monografie zu Velázquez – miteinander kombinieren. Bleibt Springer in darstellungsästhetischer Hinsicht sowohl an die Vorgaben eines epistemologisch begründeten Idealrealismus als auch – ganz konkret – an die Konzeption des programmatischen Realismus im Umfeld des Grenzboten gebunden, so inauguriert Justi – Rößler folgend – eine »autonome [...] Form der Kunstgeschichtsschreibung« (ebd.).

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Springers Poetik des Prosaischen

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Springers Werk ist noch weit über den eigentlichen Junghegelianismus hinaus bis hin zu seiner großen Arbeit Raffael und Michelangelo (1878) einer anti-romantischen Religions- und Allegoriekritik verpflichtet. Sein klassizistischer Realismus lehnt sich (teilweise bis hin zu Paraphrase und Übernahme) an Gustav Freytag (vgl. Kap. II/4) und Friedrich Theodor Vischer (vgl. Kap. II/2; II/3.2) an. Deutlich arbeitet Rößler die Veränderungen heraus, die sich im Vergleich zu einem romantischen Werkverständnis ergeben. Springer gelingt es demnach in unübersehbarer Aversion gegenüber jeglicher Inspirationsmetaphysik den ästhetischen Schaffensprozess recht nüchtern in den Blick zu nehmen, einzelne Werkstufen zu analysieren und das fertige Werk somit aus seiner konkret nachweisbaren, sozusagen positiven Verfertigungsgeschichte heraus zu deuten. »Die Sensation der ästhetischen Erfahrung«, fasst Rößler die Ergebnisse der Veränderung von einem romantischen Idealismus zu einer realistischen Werkprozessschau zusammen, »ist nicht mehr die Präsenz des vollendeten und aller Zeitlichkeit entrückten Werks, sondern der in der zeitlichen Ordnung und am Material (Skizze, Vorstudie) nachvollziehbare künstlerische Schaffensprozeß« (S. 43).

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Die daraus resultierenden Spannungen mit einer idealistischen Wirkungsästhetik – auf die Springers Realismus insofern nicht gänzlich verzichten kann, als dass er eben einem das tatsächlich Vorfindliche transzendierenden »Idealrealismus« [Hervorhebungen jeweils im Original] (S. 22) verpflichtet ist – arbeitet Rößler heraus (S. 43).

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Nun liegt es nah, die Prozessualität, die Springer bei der Analyse des Werkprozesses geltend macht, auch auf Seiten des Beschreibungsverfahrens zu suchen. In gleichem Maße, so könnte man meinen, in dem sich das künstlerische Werk als ein Gemachtes zeige, verweise auch der kunsthistoriografische Text auf die Darstellungsverfahren, die seine (objektivistische) Kohärenz mitbestimmen. Doch dem ist nicht so. Das realistische Credo steht einer exhibitionistischen Darstellungsreflexion entgegen. Während der »idealrealistische Forschungsimperativ« also an einer »Rekonstruktion der Werkgenese« arbeitet, muss die »wissenschaftliche Darstellung« (S. 142) jegliche genealogische Spuren der Darstellungs-Arbeit tilgen. Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, wie unpoetisch Springers Poetik der Kunstgeschichte ist. Rößlers einlässliche Analyse der Biografie-Konzeption im Grenzboten-Zirkel (vgl. Kap. II/5.3) macht deutlich, dass Springers Parallelbiografie Raffael und Michelangelo von einer Evidenzvorstellung bestimmt ist, »die durch die Synthese der Einzelteile scheinbar höchste Transparenz erzeugt« (S. 143). Gleichzeitig muss jedoch das Medium dieser Transparenzsuggestion, der realistische Text, möglichst unauffällig funktionieren.

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Mit Blick auf die Charakteristika realistischen Erzählens ist dies sicherlich nicht besonders bewerkenswert – trifft dies doch für mehr oder weniger alle konzeptionellen Realismen seit dem 19. Jahrhundert zu. Interessant ist aber der Umstand, dass ein solcher Realismus das proto-positivistische Autopsieprinzip auf ein Ideal hin fokussiert und somit vom Vorwurf des ordnungslosen, einer selektionslosen Aufmerksamkeit gehorchenden Empirismus entlastet. Die Prosa der Poetik steht demnach im Dienst eines unauffälligen, aber wirkungsvollen Idealismus.

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Konkrete Charakteristika von Grenzboten-Texten, die sich auch bei Springer finden, sind nach Rößler: 1.) die »Einheit von Inhalt und Ausdruck« (S. 136), Klarheit ist demnach kein stilistischer, sondern ein genuin »epistemischer Wert« (S. 137); 2.) die »[s]trenge Strukturierung nach dem Kausalnexus« (S. 137); 3.) die »Reinheit des Stils« (S. 138); 4.) die »Ausscheidung des Anekdotischen und Aphoristischen« (S. 138); die »Rationalisierung der Gesamtstruktur« (S. 139). Die »topische Unterscheidung zwischen res fictae und res factae« (ebd.) wird letztendlich eingeebnet. Im Ergebnis unterscheidet sich diese Realismus-Konzeption – und dies hat die Lektüre von Springer bis heute geprägt – kaum von einem naiven Realismus, der sich um die Differenz von res fictae und res factae nicht besonders kümmert.

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Justi und die Möglichkeiten einer poetischen Poetik

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Im Gegensatz zu Springer steht Justi einer spiritualisierten Kunstgeschichte nicht per se skeptisch gegenüber, auch wenn er kaum etwas für jene frühromantische Idolatrie übrig hat, wie sie Springer am Beispiel der Nazarener kritisiert. Justis Gewährsmänner sind Schleiermacher, Dilthey, Schopenhauer und Goethe (vgl. Kap III.). Sein (biografisches) Programm ist dezidiert antiklassizistisch und von einem individualethischen Imperativ geprägt, der eine Funktionalisierung des Kontextes zu einer maßgeblichen Einflussgröße auf das künstlerische Werk und den Künstler ablehnt. Dass Justi seine Rolle als Vermittelnder und sich Geschichte Aneignender reflektiert, bestimmt auch das Modell seiner Geschichtsschreibung: »Die im Nachvollzug der Historie gegebene Horizonterweiterung subsumiert die geistige Kontinuität und den Wandel des Verfassers als historiografischen Erfahrungszusammenhang«. (S. 209) Wo Springer den Verfasser als Kohärenz-Stifter aus seinen Texten eliminiert (und die Fakten sprechen lassen will), führt ihn Justi wieder ein, und zwar in der Rolle dessen, der seine eigene Biographie (»entelechial-exklusives Modell«, S. 210) zur Maßgabe historischer Lebensbeschreibungen macht. Die Differenz von res gestae und historia rerum gestarum, die Springer in inszenierter Kunstlosigkeit einzuebnen sucht, wird für Justi irrelevant. So schreibt er in seiner Velazquez-Studie dem Spanier vorsätzlich Aussagen zu, die nachweislich nicht von ihm stammen. Zudem montiert er unterschiedliche Gattungen zusammen, die den einen idealrealistisch verbürgten, auktorialen Standpunkt bewusst zu zerstreuen suchen:

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Die perspektivierte Detailanschaulichkeit erzeugt somit eine scheinbar biografisch relevante Information, welche die Bildungskonzeption nur simuliert, aber einen auf Tatsachen gründenden Informationsgehalt nicht mehr vermitteln kann. (S. 232)
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Die Fakten, so die Argumentation Rößlers, sind aus der von Justi eingenommene Perspektive kontingent; sie haben mit der im großen künstlerischen Individuum angelegten, autarken und kontextunabhängig formulierten Zielsetzung nichts zu tun. Von hier aus betrachtet, erscheint Justis Einfallsreichtum (von Zeitgenossen auch Fälschung genannt), als ein »Ausdruck seines gesamten methodischen, historiographischen und produktionsästhetischen Denkens« (S. 241).

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Eine Poetik der Kunstgeschichte – soviel wird an dieser Stelle klar – gewinnt bei Springer und Justi ganz unterschiedliche Konturen. Stellt man beide disziplinäre Poetiken unter die Auspizien einer allgemeinen Poetologie – wie dies Rößler zweifelsohne impliziert –, bleiben Formen des Wissens der Bezugspunkt für eine Analyse sprachlicher Muster. Das divergierende Verhältnis gegenüber dem Wissensbegriff begründet dann auch die Unterschiede in der kunsthistoriografischen Praxis. Auf der einen Seite – bei Springer – identifiziert Rößler ein positives Wissen, das objektiviert werden kann; auf der anderen Seite – bei Justi – Wissensskepsis. Drastischer formuliert: Wissen fällt bei Justi mit Erfahrung zusammen. Die Historiografie wird zum psychologistischen Medium einer Spiegelung des Selbstbewusstseins. ›Wissenschaftliches‹ Wissen hingegen erscheint aus dieser Perspektive als leere Hülle dessen, was man eben nicht selbst erfahren hat oder was nicht entelechial in einem Individuum angelegt ist – und aus diesem Grund auch nicht die Struktur für das Verständnis kunsthistorischer Prozesse sein kann. Justis Psychologismus steht damit grundsätzlich einem jeden Historischen skeptisch gegenüber, das sich einer »Wiedergewinnung im eigenen Subjekt« (S. 260) verweigert. Auch wenn Rößler diese Parallele vermeidet, verweist doch eine in dieser Weise psychologisierte Geschichtsmetaphysik in der konkreten Bildbeschreibungspraxis zurück auf die romantische Inspirationsrhetorik:

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Justi stellt […] eine divinatorische Einheit zwischen psychologischer Charakterstudie und malerischer Faktur her, indem er den bildimmanenten Kausalbezug zwischen Einzelsegment und Gesamtordnung vernachlässigt und ihre Vermittlung auf rein intuitiver Basis erzeugt (S. 292).
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So sehr Justis antiszientistische Kunsthistoriografie sich in wissenspoetologischer Hinsicht von Springer unterscheidet, so sehr tut sie dies auch in zeitdiagnostischer: Bei Justi spiegelt sich der »Nachvollzug der Geschichte im kritisch denkenden Forschersubjekt« (S. 208), nicht – wie bei Springer – im nationalliberal sanktionierten Zukunftsoptimismus: »Gegenüber der realklassizistischen Auffassung Springers hat damit Justis Historiographie ihr selbstkritisches Potential zurückerobert.« (S. 208)

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Rößler attestiert Justis Beschreibungskonzeption einen spielerischen, jedoch nicht unernsten Charakter. Der an Goethes Winkelmann und sein Jahrhundert erinnernde Einsatz der »genera mixta« (S. 230); die Verbindung unterschiedlicher Stilebenen; der formale Rückgriff auf die rhetorische Tradition, der in ideeller Hinsicht »eher auf vernunftskeptische und antisystematische Entwürfe wie den Essay« ( S. 306) verweise: Nahezu alles wird von Rößler auf seinen epistemologischen Mehrwert befragt. Mit gutem Grund. Da nicht nur die ideengeschichtlichen, sondern auch die darstellungsästhetisch-narrativen Bezüge Justis äußerst eklektisch anmuten, ist ersichtlich, dass hier mit Blick auf die kunsthistoriografische Tradition noch kaum legitimierte Größen zueinander in Bezug gesetzt werden, die äußerst kommentierungsbedürftig sind.

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Darstellungsästhetik in der Kunstgeschichtsschreibung:
Der Historiker als Dichter?

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Rößler hebt in seiner Studie die disziplinäre Trennung von Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte auf. Es ist also nicht so, dass von kunsthistorischer Seite auf die literaturwissenschaftliche geschaut würde oder umgekehrt. Bereits im Ansatz erweist sich die die Frage nach dem impliziten poetischen Gehalt der kunsthistorischen Rede als einerseits explizit literaturwissenschaftliche Fragestellung; andererseits sind literarische Darstellungstechniken in anderen Diskursen nicht nur für den Literaturwissenschaftler interessant.

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Hubert Locher macht es sich zu einfach, wenn er die Analyse kunstgeschichtlicher Rede im 19. und 20. Jahrhundert mit dem Argument für nicht besonders ergiebig erklärt, dass die »große Mehrzahl der Kunsthistoriker, so sehr sie sich der Macht ihrer gedanklichen Konstruktionen und auch ihrer Sprache bewusst gewesen sein mögen«, nicht »›dichten‹« 5 wollten.

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Poetik wird hier auf eine (normgerechte) Dichtung bezogen, deren lediglich innerfiktional gültige Wahrheitsmuster der Kunsthistoriker nicht zum Ziel haben könne. Dass die Historiker nicht »›dichten‹« wollen, ist aber kein Argument dagegen, dass sie sprachliche Muster, die die Literatur verwendet, gleichfalls nutzen. Freilich – und darauf sollte das Hauptaugenmerk liegen – in anderer Absicht.

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Ein wissenspoetologischer Fokus thematisiert genau eine solche Verwendung literarischer Aussageweisen (z. B. Metaphern-Gebrauch) in anderer Absicht, d. h. in nicht-literarischen Kontexten und befragt sie auf ihre wissenskonstitutive Funktion. Eine solche Poetologie ist meistens implizit. Die Rede von der Implizität der strukturierenden Normen eines Textes soll dabei deutlich machen, dass es um ein anderes Verhältnis von Theorie und Praxis geht, als dies in der traditionellen Beziehung von Regelpoetik und Regeldichtung der Fall ist: Theorie und geschichtliche Praxis –»Die Theorie der Kunst ist ihre Geschichte« 6 – lassen sich nur schlecht voneinander trennen.

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Rößler bekommt jedenfalls alle poetologischen Implizitäten, die den Arbeiten Springers und Justis zu Grunde liegen, bestens in den Griff. Dies liegt u. a. darin begründet, dass er den Wissenshorizont beider Autoren in seiner Geschichtlichkeit ernst nimmt und nicht auf eine fachgeschichtlich konsolidierende Rolle beschränkt. Das auf diesem Weg rekonstruierte Diskursfeld verweist auf eine Indifferenz von durch die Literatur und Literaturtheorie bereitgestellten Narrativen, ästhetischer Modellbildung und kunstgeschichtlicher Empirie, das die Angewiesenheit der einen Aussageform auf die andere evident erscheinen lässt. Aus diesem Grund ist für Rößlers Argumentation auch weniger ein methodisch sanktionierter Interdisziplinaritäts-Imperativ maßgeblich, als die – wenn man so will – aus der rekonstruierten Diskursgeschichte selbst abgeleitete ursprüngliche Vernetzung (aus heutiger Sicht) distinkter Disziplinen (Kunstgeschichte, philosophische Ästhetik, Literaturtheorie, Geschichte).

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Diskussionswürdig ist allerdings der von Rößler projektierte Einsatzpunkt poetischer Integrationskraft. Indem er die synthetisierende Funktion einer auf impliziten poetologischen Annahmen fußenden Kunsthistoriografie in der Mitte des 19. Jahrhunderts ausmacht – als Antwort auf Empirie-Druck und Spekulations-Zweifel –, blendet er den Beitrag des (späten) 18. Jahrhunderts zu einer Poetik der (Kunst-)Geschichte aus. Man gewinnt auf diesem Weg den Eindruck, dass es die – prosaische (!) – realklassizistische Kunstgeschichtsschreibung der Jahre nach 1850 ist, die überhaupt erst das Bewusstsein für die poetischen Valenzen geschichtlicher Rede geschärft hat. Herders Historismus 7 und Schillers Gespür für die Standpunktabhängigkeit des Historikers und die literarische Qualität seiner Texte 8 hätten in diesem Zusammenhang zumindest als Vorgeschichte eine Erwähnung finden können.

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Doch diese Einwände ändern nichts an der Anschlussfähigkeit von Rößlers Arbeit. Die Frage danach, wie poetisch Kunstgeschichtsschreibung gewesen ist und – normativ akzentuiert – sein darf, stellt sich zunächst mit Blick auf eine Zeit vor Springer und Justi: Genannt sei an dieser Stelle nur Karl Friedrich von Rumohr, der nicht nur als Autor der berühmten Italienischen Forschungen (3. Bde., 1827–1831) Interesse verdient, sondern auch als Verfasser von Novellen. Mögliche gemeinsame Nenner literarischer und kunsthistoriographischer Praxen ließen sich an diesem Beispiel sicherlich gut studieren.

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Die Frage nach einer spezifischen Poetizität der Kunstgeschichte stellt sich aber auch mit Blick auf die (Grundbegriffs-)Theoretiker um 1900. Interessant wäre hier zum Beispiel ein Blick auf August Schmarsow. Seine kunstphilosophischen Überlegungen zu Barock und Rokoko (1897) legt er in einer unverwechselbar verschwurbelten Syntax vor, die jeder (wissens-)poetologisch orientierten Kunstgeschichtshistoriografie Freude machen dürfte. Doch wie genau – so muss gefragt werden – wirkt in seinem Fall die ästhetische Konzeption an der kunsthistorischen Sinnbildung mit?

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Mit Rößlers gewichtigem Beitrag – soviel steht fest – kann die Diskussion für eröffnet erklärt werden.

 
 

Anmerkungen

Vgl. zu dieser Denkfigur ausführlich Ernst Behler: Die Theorie der Kunst ist ihre Geschichte. Herder und die Brüder Schlegel. In: Ders.: Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie II, Paderborn: Schöningh 1993, S. 187–205.   zurück
Hubert Locher: Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst. 1750–1950. München: Fink ²2009, S. 23.   zurück
Ebd., S. 25 f.   zurück
Vgl. etwa die Verbindung von philosophischer Ästhetik und empirischer Kunstforschung (allerdings bei grundsätzlich anders gelagerter Thesenbildung): Regine Prange: Die Geburt der Kunstgeschichte. Philosophische Ästhetik und empirische Wissenschaft. Köln: Deubner 2004. Vgl. dazu nach wie vor grundlegend: Stephan Nachtsheim: Kunstphilosophie und empirische Kunstforschung 1870–1920. Berlin: Gebr. Mann 1984.   zurück
Hubert Locher (Anm. 2), S. 530, unter explizitem Rekurs auf Hayden White und Rößlers Poetik der Kunstgeschichte.    zurück
Ernst Behler (Anm. 1).    zurück
Vgl. ebd., S. 191.    zurück
Vgl. Daniel Fulda: Schiller als Denker und Schreiber der Geschichte. Historische Gründungsleistung und aktuelle Geltung. In: Hans Feger (Hg.): Schiller. Die Realität des Idealisten. Heidelberg: Winter 2006, S. 121–150.   zurück