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Performative Geschichtsschreibung im späten Aufklärungszeitalter

  • Stephan Jaeger: Performative Geschichtsschreibung. Forster, Herder, Schiller, Archenholz und die Brüder Schlegel. (Hermaea. Neue Folge / Germanistische Forschungen 125) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2011. XII, 384 S. Hardcover. EUR (D) 109,95.
    ISBN: 978-3-11-025908-7.
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Die Studie befasst sich mit der Formierung einer performativen Geschichtsschreibung im Alten Reich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Anknüpfend an die Analysen von Daniel Fulda (Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860, 1996) und Johannes Süßmann (Geschichtsschreibung oder Roman? von Schiller bis Ranke, 2000) sowie an die Perspektiven des (hier unberücksichtigten) Sammelbandes von Walter Hinck Geschichte als Schauspiel (1981) wird die Problematik der Ent- und Re-Rhetorisierung bzw. Re-Ästhetisierung der Geschichtsschreibung untersucht. Die deutsche Geschichtsschreibung, die sich von der ars historica (als Teil der Rhetorik) entkoppelt hatte und sich alsdann als scientia verstand, litt in den 1760er Jahren unter einem Darstellungs- und Sinnbildungsdefizit, das insbesondere vom Göttinger Gatterer, einem der wichtigsten »Erneuerer« der Geschichtsschreibung, immer wieder bedauert wird: deutsche Historiker würden schlecht schreiben, nicht plastisch, und ihre Erzählungen sich in einfachen Enumerationen von Ereignissen erschöpfen statt Zusammenhänge zu erforschen und hervorzuheben. Indem Jaeger erforscht, wie Geschichte nicht nur »erzählt«, sondern »inszeniert« oder »präsentisch« gemacht wird, liefert er einen neuen interessanten Beitrag zu der in den letzten Jahrzehnten zum wichtigen Gegenstand der Forschung gewordenen Entstehung einer »neuen« Geschichtsschreibung bzw. -wissenschaft in Kombination mit einer starken Geschichtstheorie (Chladenius usw.) und der Geschichtsphilosophie ab ca. 1760 in Deutschland.

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Im Forschungsbericht werden zuerst die Entwicklungslinien der Geschichtsschreibung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dargelegt und die Beiträge u.a. Kosellecks und Foucaults zur Kulturgeschichte sowie eingehender Hayden Whites und Paul Ricoeurs zum Performativen besprochen. Dann skizziert der Verf. einen interessanten Vergleich mit der englischsprachigen Historiographie (hauptsächlich Gibbon, dessen The Decline and Fall einen Geschichtsprozess performativ inszeniert). Allerdings hätten die Zusammenhänge zwischen der Entstehung einer performativen Geschichtsschreibung und der Situation des Romans nicht nur in England mit Gibbon, sondern auch in Deutschland näher untersucht werden können.

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Während die meisten deutschen Historiker (Gatterer, Schlözer, Spittler, Möser...) die Geschichte nicht als diskursives Konstrukt des Historikers, sondern als ein System verstehen, das sie gleichsam entziffern müssen, d.h. das ihnen kausal-analytisch zu untersuchen obliegt, heben sich einige wenige von dieser Perspektive deutlich ab. Ein wichtiges Verdienst von Jaegers Buch liegt in der sukzessiven Untersuchung dieser Schriften, die sowohl in der Form als auch in der Thematik historische Diskurse sowie Diskurse über Geschichte vertreten und somit Geschichte gleichsam vor den Augen des Lesers vorführen.

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Forsters Reise um die Welt (zuerst auf englisch als A Voyage around the World, 1777, deutsche Übersetzung 1778–80) dient als erstes Beispiel für performative Geschichtsschreibung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Am Beispiel der Südseekulturen des Pazifiks wird von Forster, der an der Cook-Expedition teilgenommen hatte, die Menschheitsgeschichte in ihrer Diachronie und Prozessualität rekonstruiert bzw. »inszeniert«. Damit unterscheidet sich sein Bericht deutlich von Cooks einige Monate später erschienener Reisebeschreibung, die – wie es im Aufklärungszeitalter üblich geworden war – hauptsächlich faktische Berichterstattung empirischer Beobachtung liefert. Zwar sind an mehreren Stellen Forsters Aufzeichnungen sowohl performativ als auch kulturhistorisch weniger relevant, so dass Jaeger feststellen kann, dass sein Anspruch, eine philosophische Reisebeschreibung zu verfertigen, »nur teilweise eingelöst« wird (S. 118). An vielen anderen Stellen aber inszeniert Forster die historische Entwicklung der Menschheit in einer Form, die den Kulturprozess durchspielt. Man könnte hinzufügen, dass seine Analyse sich in die damalige Reflexion zu den Kulturstufen einreiht.

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Während mit Forsters Text eine »Partikularkultur« (wie es im Wortschatz des 18. Jahrhunderts hieß) als Menschheitsgeschichte spatialisiert und verzeitlicht wird, dienen als zweites Beispiel Herders universalgeschichtsphilosophische Schriften, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) und die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791). Jaeger kann sich auf Herders Shakespeare-Aufsatz von 1771–72 stützen, der bei Shakespeare eine performative Perspektive feststellt: die Darstellung der Geschichte in Shakespeares Dramen schafft die Illusion einer geschichtlichen Bewegung, eines Geschichtsprozesses. Jaeger zeigt auf, mit welchen rhetorischen Mitteln (ironische Distanz, Interpunktion, Interjektionen, Metaphern usw.) Herder die trockene Berichterstattung vermeidet, der die Ideen weitgehend wieder verfallen, weil sie den historischen Wandel nicht präsentisch bzw. präsentierend, sondern nacherzählend und beschreibend vortragen. Richtig eingeschätzt wird auch der von Herder erkannte kulturgeschichtliche Stellenwert der Phönizier (mit den Ägyptern das einzige Volk, das nicht zum Vier-Weltreiche-Modell gehört und dennoch in Auch eine Philosophie der Geschichte Platz findet). Jaeger betont auch zu Recht, dass Herder in den Ideen den Handel, der –»positiv abgesetzt gegenüber reinen Eroberungen« (S. 164) – die Zirkulation der Kulturformen im Mittelmeerraum ermöglicht, zum Grundprinzip der Menschheitsentwicklung macht. Herders Europabegriff wird ebenso richtig als »imaginäres Europa« definiert, aber die Unterscheidung, die S. 169 zwischen Europa in den Ideen und Auch eine Philosophie der Geschichte vorgenommen wird, erscheint dem Rez. übertrieben spitzfindig und unnütz, und der Terminus »Sekundärgeschichtsschreibung« (für Philosophie der Geschichte) wirkt geziert und unklar.

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Die in den folgenden Kapiteln untersuchten Schriften gelten als »Partikulargeschichten«. Die eine handelt von einem nichtdeutschen Stoff: Schillers immer noch weitgehend unterschätzte und unzureichend untersuchte Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung (1788). Auch hier erfolgt eine präzise Untersuchung des Inszenierungscharakters dieser Schrift und der Fortentwicklung der Menschheit zur Freiheit, betont wird der Platz, den Schiller dem Zufall im Verlauf der Geschichte zuweist. Jaeger arbeitet in diesem Kapitel wie in anderen kontrastiv (wie Schiller die Quellen umschreibt) und analysiert seine rhetorischen Mittel (Spiel mit den drei Fokalisierungsarten etc.). Ein Blick auf andere Werke bildet eine nützliche Ergänzung: nach einer allerdings viel zu kurzen Anspielung auf Schillers Don Carlos werden Goethes Egmont und besonders Schillers Geschichte des dreißigjährigen Krieges (1791–93) eingehender behandelt.

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Die im nächsten Kapitel untersuchte »Partikulargeschichte«, Archenholz‘ Geschichte des siebenjährigen Krieges (1793), bezieht sich wie Schillers Geschichte des dreißigjährigen Krieges auf eine Episode deutscher Geschichte. Archenholz, der selbst – wie es der Verf. betont – kein professioneller Historiker ist, doch (oder gerade deswegen) als erster (wir würden eher sagen: als einer der ersten: man denke z.B. an Justus Möser) deutsche Geschichte in geschichtsphilosophischer Perspektive inszeniert, steht wie Schiller »auf der Grenze zwischen rhetorischer und ästhetischer Geschichtsschreibung« (S. 264). Auch hier untersucht Jaeger den Umgang mit den Quellen und hebt eine »eurozentrische« Perspektive bei Archenholz hervor: Die friderizianische Kriegsführung – wie etwa in der Schlacht bei Leuthen – wird nicht (oder nur ansatzweise) national gefärbt, sondern im Kontrast zu den primitiven Strategien der Asiaten oder der Kreuzfahrer »zum Triumph des aufgeklärten Europas stilisiert« (S. 304).

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Zum letzten Beispiel und zugleich Abschlusskapitel werden die geschichtsphilosophischen Schriften der Gebrüder Schlegel und Novalis. Diese Reflexionen kreuzen sich mit der Auffassung der »progressiven Universalpoesie« (S. 317). Jaeger zeigt auf, dass mit ihnen die performative Geschichtsschreibung zu einem provisorischen Abschluss kommt, denn die geschichtsphilosophischen Schriften der Romantiker – Novalis‘ Die Christenheit oder Europa. Ein Fragment (1799) oder die Vorlesungen der Schlegels – schlagen eine gänzlich andere Richtung ein: Geschichte wird bei ihnen zu etwas Prozesshaftem, Offenem, Unendlichem, aber das Besondere wird zugunsten des Allgemeinen ausgeblendet (S. 316). Dass Friedrich Schlegel in seinen Vorlesungen zu der alten Unterscheidung zwischen universeller und spezieller Geschichte zurückgreift und dabei betont, letzterer fehle der Zusammenhang, aber nur das in den speziellen Geschichten thematisierte Besondere könne eine ästhetische Wirkung auf den Leser hervorrufen (S. 328), darf nicht verwundern: Schlegel fügt die ästhetische Dimension in das alte Schema der Universalgeschichtsschreibung und über sie hinaus der Philosophie der Geschichte ein.

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Wie Forster, Herder und Schiller erkennt F. Schlegel »die Relativität der historischen Erkenntnis« (S. 340), aber »der Gestus ist nicht präsentisch, sondern verknüpft rückblickend historische Ereignisse« (S. 342). In seinen Vorlesungen Über die neuere Geschichte werden »weder der Geschichtsprozess noch die Wahrnehmungsprozesse von Geschichte inszeniert« (S. 346). Genau so wenig präsentisch fällt Schlegels Reise nach Frankreich (1803) aus: Diesen philosophischen Reisebericht charakterisiert Jaeger als »eine anti-erzählerische Darstellung« (S. 319), die auf »Erinnerungsdenkmälern, nicht auf Geschichtserzählung« (S. 320) beruht und in der sich gegenwärtige Eindrücke mit vergangenen Bildern in einer »imaginären Synthese von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« zusammenschmelzen.

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Jaegers angeführte Beispiele lassen erkennen, dass performative Geschichtsschreibung erst dann möglich wird, wenn aus einem besonderen Blickwinkel Geschichte geschrieben wird, wenn der Geschichtsschreiber sich ein abgegrenztes Untersuchungsthema aussucht, mag es sich um einen chronologischen Abschnitt (Archenholz, Schiller, Gibbon) oder eine philosophische Fragestellung (Herder, im gewissen Maße Forster, wiederum Gibbon!) handeln. Die Feststellung, »dass die Schaffung von Sinn sich zuerst einmal auf abstrakte Menschheitsgeschichte (Forster, Herder) oder auf europäische Realgeschichte (Schiller) zu beziehen scheint«, bevor sie in Nationalgeschichten wie etwa Johannes von Müllers Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaften (1786–1808), Schillers Geschichte des dreißigjährigen Krieges, oder Archenholz‘ Geschichte des siebenjährigen Krieges erfolgt, bestätigt anhand z.T. wenig beachteten Materials längst bewährtes Wissen: aufgrund der durch seine eigene Säkularisierung verstärkten Prägnanz des heilsgeschichtlichen Modells konnte bis ins späte 18. Jahrhundert hinein eine historische Sinngebung, wenn nicht ausschließlich, doch zumindest vorwiegend nur durch eine universalgeschichtliche Perspektive als möglich betrachtet werden. Erst mit »spezialgeschichtlichen« oder thematischen Querschnitten, wie sie bereits Gibbon, Montesquieu oder auch Möser praktiziert haben, konnten der stolzen Isolation der Universalgeschichte (und ihrer »Tochter«, der Geschichtsphilosophie) andere »philosophische« Stoffe entgegengesetzt werden. Deswegen hätte die Berücksichtigung der Diskussionen des 18. Jahrhunderts über Narrativität in Roman und Enzyklopädik (Universalhistorie vs. Partikulargeschichte und: was heißt Universalgeschichte?) vorliegende interessante Untersuchung noch um eine Dimension bereichern können.