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Frauen reisen in den Orient - eine postkoloniale Lektüre

  • Ulrike Stamm: Der Orient der Frauen. Reiseberichte deutschsprachiger Autorinnen im frühen 19. Jahrhundert. (Literatur - Kultur - Geschlecht 57) Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2010. 368 S. Broschiert. EUR (D) 49,90.
    ISBN: 978-3-412-20548-5.

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Wie werden die Frauen im Orient gesehen von den reisenden Europäerinnen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts? Den Topos der sinnlichen Orientalin in Bildender Kunst und Literatur, dies macht Ulrike Stamms Studie an vielen Belegen deutlich, bedienen die deutschsprachigen Autorinnen meist nicht. Die weitgereiste Bankiers-Gattin Marie Espérance von Schwartz etwa schreibt: »Die Frauen sind hier, wie ich bis jetzt bei allen orientalischen Völkern gefunden habe, eine sehr unerfreuliche Erscheinung.« (zit. n. S. 239). Frauen entwerfen in ihren Reiseberichten offenbar ein etwas anderes Bild des Orients, das den üblichen Exotismus häufig konterkariert und die Überschneidungen von race und gender kritisch registriert.

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In ihrer Studie geht es Ulrike Stamm »um die Frage, welche Auswirkungen diese Überlagerung der Kategorien von ethnischer und sexueller Differenz sowohl für die Weiblichkeitskonzeptionen als auch in Bezug auf die Repräsentation des Orients hat.« (S. 11) Die Verbindung eines in der deutschen Germanistik immer noch schwach ausgeprägten postkolonialen Theorieansatzes mit einer feministischen Fragestellung erweist sich als besonders produktiv. Es gelingt Stamm auf überzeugende Weise, »einen wichtigen Ausschnitt des ›weiblichen‹ Orientalismus zu rekonstruieren und gleichzeitig ein marginalisiertes Segment der literarischen Produktion von Frauen zu erschließen.« (S. 14)

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Untersuchtes Textkorpus

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Der Untersuchungszeitraum wird auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts begrenzt. Damit schließt Ulrike Stamm an Andrea Polascheggs Studie Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination (Berlin, New York 2005) an und kann so ein Forschungsdesiderat aufarbeiten. Nach 1856 brechen die Orientberichte von Frauen erst einmal ab. »Dieser Bruch verweist auf den nach dem Scheitern der 48er Revolution praktisch und/oder symbolisch verengten Radius weiblicher Mobilität.« (S. 15) In der Zeit davor wurden Aspekte der Geschlechterdifferenz sowie Fragen nach Stellung und ›Natur der Frau‹ durchaus noch kontrovers diskutiert. Später findet dann eine Verengung und Erstarrung der Sicht auf das Andere – die Frauen und den Orient – statt.

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Neben den bekannten und von der Forschung auch beachteten Reiseschriftstellerinnen, wie Ida Pfeiffer (1797–1858) und Ida Hahn-Hahn (1805–1880), untersucht Stamm unbekanntere Autorinnen wie Therese von Bacheracht (1804–1852) und in Vergessenheit geratene reisende Frauen wie Maria Belli (1788–1883), Maria Schuber (1799–1881) oder Marie Espérance von Schwartz (1818–1899). Während diese mehrere Reisetexte über den Orient und andere Reiseziele schrieben, haben die anderen untersuchten Autorinnen – Regula Engel-Egli (1761–1853), Anna Fornereis (1789-?), Wolfradine Minutoli (1794–1868) und Friederike H. London (die 1840/41 in Tunis weilte, deren Lebensdaten aber nicht bekannt sind) – jeweils nur einen Reisebericht verfasst. Die Autorinnen entstammen unterschiedlichen sozialen Schichten und ihre Reisen haben ganz unterschiedliche Gründe und sind folglich jeweils anders angelegt und ausgestaltet. Ida Pfeiffer reiste bekanntlich allein und verwertete ihre Reiseberichte, um weitere Reisen finanzieren zu können. Dagegen begleiteten Maria Belli, Regula Engel-Egli, Wolfradine Minutoli und Marie Espérance von Schwartz ihre Ehemänner auf deren Reisen.

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Für ihre Analyse entwickelt Ulrike Stamm ein Set an Fragen, die es ihr gestatten, differenzierte Vergleiche anzustellen. Dabei werden zwar Pfeiffer, Hahn-Hahn, Bacheracht und Schuber in besonderer Weise profiliert – den anderen Reiseschriftstellerinnen sind keine eigenen Kapitel gewidmet. Es erweist sich aber durchaus als Vorteil unter thematischen Gesichtspunkten vergleichend zu verfahren, anstatt die Autorinnen einzeln abzuhandeln. Aufgrund des Textkorpus sind verallgemeinerbare Aussagen möglich und außerdem kann das zugrunde gelegte Analyseraster auch für weitere Lektüren von Frauen im 19. Jahrhundert geschriebenen Reiseberichten verwendet werden.

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Theoretischer Rahmen:
Reisen und Schreiben, Autorschaft und die Konstruktion des Anderen

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Ausgangspunkt der Studie ist Edward Saids Orientalism (1978), dessen Kolonialismuskritik im Hinblick auf die Reiseberichte der Frauen diskutiert wird. »Die vorliegende Arbeit liest dementsprechend die Reiseberichte der hier untersuchten Autorinnen vor dem Horizont des Kolonialismus, d.h. als Reflexion sich etablierender orientalisch-kolonialer Denkmuster, die sich vor allem in der Wiederholung und Modifikation von hegemonial ausgerichteten Stereotypen niederschlagen.« (S. 28) Es gelingt Ulrike Stamm die Heterogenität der Instrumentalisierung des Orients sowie die Vielschichtigkeit und auch die Widersprüchlichkeit orientalischer Repräsentationsformen in den Reiseberichten aufzuzeigen. Dabei verweist sie im Anschluss an Homi Bhabha auf die »Mischungsverhältnisse zwischen Kulturen« (S. 32) und auf die »Überschneidung von national, geschlechtsspezifisch, religiös oder anderweitig bestimmten Interessen« (S. 32).

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In Übereinstimmung mit Fernando Coronilis Forderung eines ›Kritischen Okzidentalismus‹ 1 bemüht sich Stamm darum, »die Korrelation von Repräsentationen des Orients und Selbstrepräsentation herauszuarbeiten« (S. 39). Dies ist für die im Orient reisenden Europäerinnen von besonderer Relevanz, denn die ›weißen Frauen‹ sind stets doppelt kodiert: Sie sind dominant und marginalisiert gleichermaßen, eine prekäre Position, die sich in ihrer Selbstermächtigung als Schriftstellerin und der Entwertung ihres Schreibens wiederholt. Durch den »doppelten Tabubruch von weiblicher Mobilität und Autorschaft« (S. 67) wird diese Situation weiter verschärft.

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Als ›hybrides‹ Genre ist der Reisebericht eine den schreibenden Frauen zugängliche Gattung (vgl. S. 45ff.), die geforderte Objektivität erschwert allerdings eine weibliche Aneignung des Genres. Deshalb gewinnt auch das Modell der ›sentimentalen Reise‹ für die Autorinnen besondere Bedeutung (vgl. S. 48ff.). Ulrike Stamms kenntnisreiche Diskussion der Frauenreiseliteratur erfolgt zum einen im Hinblick auf die Hypothese vom »Tod des Autors« (vgl. S. 54ff.), zum anderen im Hinblick auf den Stellenwert bzw. Skandal weiblicher Autorschaft (vgl. S. 57ff.), wobei die unterschiedlichen »Autorschaftsstrategien schreibender Frauen« (S. 63ff.) herausgestellt werden. Sie zeigt eindrücklich, dass »Entschuldigungsformeln« (S. 70) und »Demutsgesten« (S. 74) dem Wunsch nach Selbstverwirklichung im Schreiben, also einer Selbstsetzung, entgegenstehen.

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Magdalena Heuser hatte vergleichbare »Autorisierungsrhetoriken« bereits 1990 2 für die Vorreden zu von Schriftstellerinnen verfassten Romanen herausgearbeitet (vgl. S. 77ff.). Demgegenüber finden sich »offensive Anfänge« bei Maria Schuber, die eine Pilgerreise unternimmt und dabei durchaus emanzipatorische Aspekte zur Geltung bringt, und bei Ida Hahn-Hahn, die ihre Orientalischen Briefe (1844) ihrer Mutter widmet und so »einen dezidiert weiblichen Rezeptionszusammenhang« (S. 82) herstellt, der das Buch damit einem Urteil der zeitgenössischen Kritik zumindest partiell entzieht. Zu Recht diskutiert Stamm in einem eigenen Unterkapitel den von Ida Pfeiffer kultivierten »Blick von außen« (S. 89–107), der bereits durch Alexander von Humboldt gewürdigt wurde, indem er sich dafür einsetzte, die Reisende zum Ehrenmitglied in der Berliner Geographischen Gesellschaft zu ernennen.

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Modelle des reisenden Selbst

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Die Tabubrüche weiblichen Reisens und Schreibens erfordern spezifische Tarnungen. Da die Autorinnen »nicht auf vorgefertigte Rollenmodelle zurückgreifen« (S. 109) können, fällt die Selbstpositionierung beim Aufbruch zu ihren Reisen entsprechend individuell aus (vgl. S. 112ff.). Vor allem durch ihre Kleidung können die Reisenden »in vielschichtiger Weise ihre ethnische, sexuelle oder soziale Gruppenzugehörigkeit zum Ausdruck bringen« (S. 120). Bemerkenswert ist, »dass keine der Autorinnen einen dauerhaften vestimentär signifikanten Wechsel […] wagt« (S. 120). Maria Schuber etwa reist im Habit der Nonne, was sie gegen Übergriffe schützt und die religiöse Motivation ihrer Pilgerfahrt nach Jerusalem betont. Berühmt ist Ida Pfeiffers Reisekostüm (knöchellanger Rock und Kniehosen), womit sie »eine Position zwischen den Kodes von männlicher und weiblicher Aufmachung« besetzt und »ihren Anspruch auf Bewegungsfreiheit und Mobilität« demonstriert (S. 127). Gleichwohl handelt es sich, wie Stamm mit Recht betont, hierbei weniger um »Maskeraden des Weiblichen« im Sinne Joan Rivieres 3 als um eine primär pragmatischen Gründen entspringende »geschickte Reisestrategie« (S. 127).

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Bei der Selbstkonstruktion der Reisenden unterscheidet Ulrike Stamm zwischen einem ›heroischen‹ und einem ›sentimentalen‹ Präsentationsmodus. »Den beiden Modi sind verschiedene Modelle von Handlungsmächtigkeit zugeordnet: ist das heroische Subjekt in der Lage, kraft seines Willens die Welt zu beherrschen, so wird dagegen das sentimentale Subjekt zunächst einmal eher als Rezeptor (von Eindrücken) und Objekt (von Einflüssen) aufgefasst.« (S. 133) Laurence Sternes Sentimental Journey (1768) liefert das Orientierungsmodell sentimentalen Reisens, das vor allem einer ›responsiven Gefühlsdisposition‹, die seit der literarischen Epoche der Empfindsamkeit verstärkt den Frauen zugeschrieben wird, entgegenkommt.

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Bereits das Vorwort des Herausgebers zu Thereses Briefen aus dem Süden von Bacheracht (1841 anonym publiziert) markiert die Autorin als eine »wahrhaft schöne Seele« (vgl. S. 157). Bacheracht verkörpert damit den Modus des Sentimentalen, der ihr »die Möglichkeit einer vielschichtigen Selbstdarstellung bietet und zugleich dazu dienen kann, normative Ordnungen und Konventionen in Frage zu stellen.« (S. 159) Die Forschungsreisende Ida Pfeiffer hingegen, die für ihre intensive Sammeltätigkeit auch wissenschaftlich geehrt wurde, verkörpert den »Modus des Heroischen im Zeitalter der Rationalisierung« (S. 138). Stärke, außerordentliche Leistungsfähigkeit und Willenskraft, mit der sie Gefahren bewältigt und Fremdheitserfahrungen kaschiert, kennzeichnen die psychische Disposition Pfeiffers. Zutreffend bemerkt Stamm allerdings: »Eine reisende Frau, deren Leistung als ›heldenhaft‹ gewürdigt wird, stellt kein mögliches Vorbild für andere Frauen mehr dar, sondern verortet sich in einer Sphäre, die in der Tat außerhalb der ›normalen‹ Ordnung angesiedelt ist.« (S. 146)

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Durch ihre genaue Lektüre gelingt es Ulrike Stamm, die einander oft widerstrebenden Präsentationsmodi zu fassen. Ida Hahn-Hahn etwa, die in ihrer Zeit wohl bekannteste Autorin, die sehr gut verdient und ihre Kritik an der Unterdrückung der Frauen nachhaltig vertritt, schwankt in ihrer Selbstdarstellung als Reiseschriftstellerin zwischen weiblicher Autonomie und Sentiment (vgl. S. 166–174). Eine Ausnahmeposition nimmt hingegen Maria Schuber ein, die zur Legitimation ihrer Pilgerreise den Diskurs der Hysterie in produktiver Weise in Dienst nimmt (vgl. S. 175–189). Dazu schreibt Stamm treffend: Ihr »Glaube an die unveränderliche Gegenwärtigkeit des Göttlichen wird von Schuber ›wörtlich‹ genommen und zum Ausgangspunkt ihrer hysterischen Selbstdarstellung gemacht. Insofern betreibt sie mit der Beschwörung des Ortes Jerusalem einerseits die Affirmation normativer Ordnungsmuster, nützt aber andererseits diesen biblischen Ort als Aktionsfeld subjektiver, quasi hysterischer Verwandlung.« (S. 181)

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Repräsentationen des Orients

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Gegenüber den bekannten Stereotypen, mit denen der Orient als exotische Welt, das Fremde schlechthin, charakterisiert wird – Stereotype, die sich etwa aus der Erzählsammlung 1001 Nacht (1704–1717 in deutscher Übersetzung erschienen) speisen und durch viele Reiseberichte des 18. Jahrhunderts bestätigt werden und noch in der kulturellen Imagination des Orient nicht nur im 19., sondern auch bis weit ins 20. Jahrhundert prägend bleiben – beschreiben die Schriftstellerinnen einen ›anderen Orient‹. »Besonders deutlich ist der Wille zur Entzauberung des Orients bei Ida Hahn-Hahn« (S. 195), die ihrerseits wiederum eine Reihe negativer Stereotype aufruft: »Geldgier, Eitelkeit, Unehrlichkeit, Faulheit, Hochmut, Aberglaube, Grausamkeit, Wahnsinn, Irrationalismus, Schmutz und Verfall« (S. 195f.). Kaum nötig zu erwähnen, dass Hahn-Hahn damit die Überlegenheit des Westens manifestiert. Der ›imperiale Blick‹ auf den Orient ist also auch für die reisenden Frauen ein gängiges Wahrnehmungsmuster; stark ausgeprägt ist diese Sichtweise auch bei Ida Pfeiffer. Ferner finden die Stereotype orientalischer Grausamkeit und orientalischen Wahnsinns in den Reisebeschreibungen der Frauen ihre Bestätigung (vgl. S. 203–211).

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Positive Orientstereotype sind demgegenüber selten; denn oft implizieren sie zugleich ihr Gegenteil. Zu Recht betont Ulrike Stamm, dass »nostalgische Faszination abwertende und rassistische Sichtweisen keineswegs ausschließt« (S. 211); diese Ambivalenz gilt auch für den Topos vom ›zeitlosen‹ Orientalen. Bei einer sentimental-nostalgischen Perspektive kann es zu einer »Destabilisierung des Selbst durch den Anderen« (S. 211) kommen, ein risikoreiches Unterfangen, das es zu vermeiden gilt. Deshalb finden sich in den Texten nur selten Momente ›absichtsloser‹ Faszination. So lässt etwa Therese von Bacheracht in ihrem Reisebericht »Gefühle von Fremdheit« zu (vgl. S. 229) und macht so die »Erfahrung der ethnographischen Entdeckung« (Fritz Kramer). Ein Bemühen um einen Austausch zwischen Orient und Okzident findet sich auch bei Maria Schuber, die versucht, die arabische Sprache zu lernen und die sich für arabische Schönheitstechniken interessiert (vgl. S. 232). Im Rekurs auf universalistische Annahmen, die dem Humanismus der Aufklärung ebenso zu Grunde liegen wie dem Christentum, kann Schuber von der Gleichheit aller Menschen ausgehen und ein Ideal des ›Auf-einander-Zugehen‹ propagieren (S. 237). Damit werden positive Möglichkeiten eines Umgangs mit dem Fremden evoziert.

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Korrekturen an Orientbildern aus weiblicher Perspektive

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Unter den Repräsentationen des Orients herausragend sind der Topos der sinnlichen Orientalin und der hyperbolische Raum des Harems. Aus der Perspektive der Reiseschriftstellerinnen werden daran Korrekturen vorgenommen. Der Figur der ebenso schönen und verführerischen wie untreuen, sinnlich zügellosen Frau, wie sie aus literarischen Erzählungen oder auch aus der Malerei des Orientalismus bekannt ist, wird ein Ideal starker Männlichkeit gegenübergestellt; der Orient repräsentiert dem Klischee zufolge also eine festgefügte Geschlechterdichotomie, was ihn für entsprechende Projektionen prädestiniert. So kreisen erotische Orientphantasien im 19. Jahrhundert bekanntlich um den Wunsch, die orientalische Frau zu entschleiern und die Geheimnisse des Orients zu enthüllen (vgl. S. 245). Einem solchen Szenario des männlichen Voyeurismus und der europäischen Superiorität folgen die Reiseberichte der untersuchten Frauen nicht. Aus weiblicher Perspektive – das ist hier deskriptiv, nicht substantiell gemeint – zeigt sich die Orientalin anders. Ulrike Stamm unterscheidet zwischen vier spezifischen Modifikationen:

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erstens die völlige Vermeidung des Themas wie bei Maria Schuber, zweitens die eher neutrale Darstellung der Orientalin, die aber nur in den vor 1830 geschriebenen Texten vorkommt, drittens das Lob weiblicher Schönheit – eine Version, die allerdings eine Ausnahme darstellt und nur bei Therese von Bacheracht auftaucht – und viertens schließlich die Negation des gängigen Topos, die sich allerdings zu einer regelrechten Umkehr steigern kann und unterschiedlich motiviert ist. (S. 250)
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Neben »Annäherungen unter egalitärem Vorzeichen« (S. 252), wie sie etwa für Regula Engel-Egli und die Generalin Minutoli zu konstatieren sind – zwei Autorinnen, die noch nicht im »monolitischen, hegemonial beherrschten Orient des 19. Jahrhunderts« (S. 252) reisen –, registriert Stamm auch »einen visuellen Genuss an der Schönheit der Orientalinnen« (S. 255). So findet sich bei Therese von Bacheracht eine solche erotisierte Wahrnehmung des Orients, wobei sich Stamm zufolge nicht entscheiden lässt, inwieweit diese »Diskursivierung des Sehens […] geschlechtsspezifisch vorgeprägt« (S. 256) ist.

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Sehr viel verbreiteter jedoch ist in den untersuchten Reiseberichten das Bild der ›hässlichen‹ Orientalin, in dem »Paradigmen rassischer und sexueller Differenz zusammenspielen und sich überkreuzen« (S. 262). Außerdem beobachtet Ulrike Stamm »Dynamiken des Ausschlusses«, die vor allem der Abwehr einer Verbindung von Weiblichkeit und Sexualität gilt (vgl. S. 264), d.h. der »männliche Mythos der Orientalin« wird negiert (vgl. S. 265). Dem ambivalenten Verhältnis von Orientalismus und Feminismus bei Ida Hahn-Hahn widmet Stamm darum auch ein eigenes Kapitel (vgl. S. 267–281), das ihre differenzierende Lektüre erneut unter Beweis stellt: »In der Disqualifizierung dieser [der von Hahn-Hahn beschriebenen orientalischen, C.H.] Frauen amalgamieren sich somit beide Tendenzen der Projektion: sie werden sowohl zu Trägern der verworfenen eigenen Körperlichkeit wie auch zur Verkörperung einer unselbständigen Weiblichkeit und beide Formen der Projektion überlagern und verstärken sich gegenseitig.« (S. 277)

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Entzauberung des Harems

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Das orientalische Frauenhaus gilt sowohl als Gefängnis als auch als Bordell. Die ambivalenten Bilder des Orients, die Sinnlichkeit und Grausamkeit umgreifen, kulminieren im »Harem als Sinnbild patriarchaler Ordnung« (S. 283). Während europäischen Männern der Zugang zum Harem grundsätzlich verwehrt ist, können die reisenden Frauen von ihrem Besuch und ihren Erfahrungen in diesem exterritorialen Raum exklusiv berichten, was sie zur »Entzauberung des vorgegebenen Topos« (S. 289) nutzen.

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Ulrike Stamm betont, dass vor allem »die klassenspezifische Reaktion der Autorinnen entscheidend für die Deutung und Wertung des Haremsbesuchs wird« (S. 290). Bei den aristokratischen Besucherinnen werden »weder Luxus und Untätigkeit der dort lebenden Frauen verurteilt noch wird das Thema Sexualität zum Auslöser grundsätzlicher Abwehr. Dementsprechend wird auch die Polygamie entweder kaum erwähnt oder wenn, dann im Sinne einer lässlichen männlichen Verfehlung, die ähnlich der auch in Europa bekannten Verhältnisse bewertet wird.« (S. 291) Darüber hinaus kann der Harem als Sehnsuchtsort für verhinderte Aus- und Aufbruchphantasien ebenso fungieren wie als »Raum ästhetisierten Begehrens« (S. 299); Marie Espérance von Schwartz etwa nimmt eine entsprechende Re-Inszenierung des orientalischen Paradigmas vor (vgl. S. 299ff.).

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»Die bürgerliche Perspektive auf den Harem ist an anderen Werteordnungen orientiert als die der adligen Autorinnen; Luxus und Untätigkeit erscheinen grundsätzlich als derart kritikwürdig, dass die Pracht dieses Frauenbereichs entweder nicht erwähnt oder negativ kommentiert wird.« (S. 307) Das lässt sich etwa in Ida Pfeiffers Reiseberichten beobachten, die »den Vergleich mit dem Orient zu einer Kritik an der Lage der europäischen Frauen« (S. 310) nutzt. Damit durchbricht sie zwar »die weithin dominierende Vorstellung einer grundsätzlich europäischen Überlegenheit« (S. 310), bestätigt zugleich aber die These von Gayatri Spivak (1985), dass die Emanzipation der Frauen im Westen auf Kosten einer Abwertung der Orientalin erreicht, mithin die Kolonisierung aus weiblicher Perspektive fortgesetzt wird.

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Fazit

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Mit ihrer »historisch orientierte[n], literaturwissenschaftliche[n] Mikrostudie« kann Ulrike Stamm »dem Desiderat der historischen Spezifizität begegnen« (S. 35). Dank der gelungenen Verbindung von postkolonialem und feministischem Theorieansatz, welche deren entscheidende Analysekonzepte auf instruktive Weise aufnimmt, liefert die Arbeit ein vielschichtiges, aber handhabbares Analyseraster für Reisebeschreibungen von Frauen, das differenzierende Vergleiche ermöglicht. Hierin liegt ein großes Potenzial für weitere Untersuchungen.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Coronil, Fernando: Jenseits des Okzidentalismus. Unterwegs zu nichtimperialen geohistorischen Kategorien. In: Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M. 2002, S. 176–219.   zurück
Vgl. Heuser, Magdalena: »Ich wollte dieß und das von meinem Buche sagen, und geriet in ein Vernünfteln«. Poetologische Reflexionen in den Romanvorreden. In: Helga Gallas/Magdalena Heuser (Hg.): Untersuchungen zum Roman von Frauen um 1800. Tübingen 1990, S. 52–66.   zurück
Vgl. Riviere, Joan: Weiblichkeit als Maskerade. In: Liliane Weissberg (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt a.M. 1994, S. 34–47.   zurück