IASLonline

Selbst-Vollzüge in concreto

  • Gunter Gebauer / Ekkehard König / Jörg Volbers (Hg.): Selbst-Reflexionen. Performative Perspektiven. München: Wilhelm Fink 2012. 268 S. Kartoniert. EUR (D) 39,90.
    ISBN: 978-3-7705-5114-9.
[1] 

Der vorliegende Sammelband enthält mit wenigen Ausnahmen die überarbeiteten Beiträge der Jahrestagung des Sonderforschungsbereichs »Kulturen des Performativen«, die vom 19. bis 21. November 2009 am Institut der Theaterwissenschaft der FU Berlin stattgefunden hat. Jahrestagung und Sammelband widmen sich dem in der Beschreibung des Forschungsbereichs herausgestrichenen selbstreferenziellen Charakter von performativen Handlungen. 1 Der Aufbau des Sammelbandes zeugt vom Fokus auf das Verhältnis von Performativität und Textualität und weist letztere als Spezialfall von ersterer aus, wenn Einzelstudien zu Selbst-Reflexionen im Medium der Schrift und Literatur die Publikation abrunden.

[2] 

Die Thematik des Sammelbandes lässt sich ausgehend von seinem Titel Selbst-Reflexionen. Performative Perspektiven umreißen. Nicht das Selbst, sondern die Selbstbezüge bilden die Ausgangslage, um das, was heuristisch den Titel ›Selbst‹ trägt, in den Blick nehmen zu können. Indem der Begriff ›Reflexionen‹ fett gedruckt ist und im Plural auftritt, werden die Bezüglichkeiten, aufgrund welcher das Selbst überhaupt anvisiert werden kann, in den Vordergrund gerückt. Oder mit den Worten der Herausgeber in der Einleitung zum Sammelband: »Das Selbst kommt mit all seinen Facetten – als Subjektivität, als Selbstbezug, als Erfahrungsraum und Identität – nicht als Substanz in den Blick, sondern als Prozess 2 Ist heute – in der Ära nach der Postmoderne – vom Selbst die Rede, werden immer schon Selbstbezugnahmen und folglich die Kontextgebundenheit mitbedacht und das Selbst als Verhältnis oder Vollzug konzeptualisiert. Durch ein pluriperspektives Fragen nach dem Selbst soll der erstaunlichen Widerständigkeit des Subjekts – trotz der Ausrufung seines Todes – begegnet und Transformationen der Selbstkonzepte vorgestellt werden.

[3] 

Der Sammelband ist nach einer kurzen Einleitung durch die Herausgeber in vier unterschiedlich lange Sektionen eingeteilt. Unter dem Titel ›Das Selbst als Gegenstand theoretischer Perspektiven‹ wird der Bezug auf das Selbst aus philosophischer, kognitionswissenschaftlicher und linguistischer Perspektive referiert. Die zweite Sektion ›Das Selbst in der performativen Praxis‹ widmet sich explizit der performativen Dimension der Selbstkonstitution und -reflexion. In der dritten Sektion wird unter dem Stichwort ›Selbstregierung‹ die konstitutive Funktion des Anderen des Selbst thematisiert und den Abschluss bildet die unter einem selbsterklärenden Titel stehende Sektion ›Selbst-Konstitution in Texten‹. Der Band enthält neben einer Einleitung und einem Personenregister fünfzehn Beiträge aus acht unterschiedlichen Disziplinen und richtet sich in Folge an ein interdisziplinäres Publikum.

[4] 

Fragen nach dem Selbst

[5] 

Wie der Klappentext des Sammelbandes zu verstehen gibt, sollen die versammelten Beiträge darin übereinkommen, dass sie eine Justierung des postmodernen Abgesangs auf das Subjekt vornehmen. Durch eine Verschiebung des Akzents auf das (weniger umstrittene?) Selbst können die Prozesse, ohne die es nicht zu denken, sagen etc. ist, fokussiert und das Fragen nach dem Selbst und implizit nach dem Subjekt 3 rehabilitiert werden. Die Fragen nach dem Selbst schließen insofern an die postmodernen Debatten an, bei denen das Subjekt als Negativfolie seiner selbst erhalten geblieben ist. Letztere soll aus performativen Perspektiven neu besetzt werden. Die Einleitung wiederum liefert das Fundament für die Hinwendung zu den performativen Perspektiven, indem die Tradition der Demontage des Subjekts von der Antike her aufgerollt und die Diskussion um das Selbst über die postmoderne Subjektkritik hinausgehend verankert wird. Inwiefern »ein facettenreiches Bild, das präzise Bestandsaufnahmen mit neuen Ansätzen kombiniert« 4 geliefert wird, soll in Folge diskutiert werden.

[6] 

Bei der Hinwendung zur Prozessualität und der Praxis ist auffällig, dass der alte, in mehreren Gewändern auftretende Gegensatz von frei vs. unfrei – Selbstdisziplin vs. Selbstdisziplinlosigkeit bei Gunter Gebauer, Gertrude Steins human nature vs. human mind bei Torsten Jost und Matthias Weiss – zum Zug kommt. Dies geht einher mit einer konservativen Anlage des Sammelbandes, bei der der interdisziplinäre Zugang zum Thema durch eine disziplingeschuldete Gruppierung der Beiträge abgeschwächt wird. Dass die Sektionen allerdings nach den Perspektiven oder Hinsichten auf das Selbst geordnet sind, sei positiv hervorgehoben. Zu bedauern ist allerdings, dass die theaterwissenschaftlichen Beiträge allesamt aus der ersten, theoretisch orientierten Sektion verbannt sind und so der Eindruck entsteht, als seien theoretische Perspektiven an bestimmte Disziplinen – in diesem Fall Philosophie, Kognitionswissenschaften und Linguistik – gebunden. Durch die Hintertür wird so wiederum die Dichotomie zwischen einem Selbst als Gegenstand der Theorie und als Gegenstand der Praxis restituiert.

[7] 

In Hinblick auf die Zuteilung der Beiträge zu einer Sektion lässt sich eine gewisse Zufälligkeit ausmachen. So ließe sich Richard Nates Aufsatz zu Aldous Huxleys schriftlichem Selbstexperiment auch der vierten Sektion zuteilen, scheint er mit Andrea Siebers Überlegungen zu Elsbeth von Oyes autobiografischer Praxis verwandt zu sein. Dies geht einher mit dem unterschiedlich starken Einheitscharakter der Sektionen und verleiht der postulierten Vielfältigkeit der Herangehensweisen implizit Ausdruck. Dass in der Einleitung kein roter Faden durch die einzelnen Beiträge oder Sektionen hindurch skizziert wird, unterstreicht diese Beobachtung. Jeder Aufsatz fungiert als Perspektive, die wiederum mehrere, teilweise auch widersprüchliche Perspektiven versammelt. Die Perspektiven beleuchten unterschiedliche Bereiche des durch den Begriff ›Selbst‹ aufgespannten Bezüglichkeitsgeflechts. Dass die Referenztexte und -autoren von Artikel zu Artikel, von Sektion zu Sektion, aber auch innerhalb der jeweiligen Sektion stark divergieren (vor allem innerhalb der ersten und vierten Sektion), überrascht in Folge wenig. In Analogie zum ›Fehlen‹ der zu erwartenden Theoretikern – Descartes wird vorerst nur gestreift und erst in Udo Tietz‘ Artikel eingehender behandelt – werden der Praxisbezug und die performativen Perspektiven unterstrichen. Die anderswo zu kritisierende lose Einheit des Bandes ist wesentlich der Thematik geschuldet und bringt auf einer sehr allgemeinen Ebene die Herkunft und den Anspruch der Publikation zum Ausdruck.

[8] 

Selbstbezüglichkeiten

[9] 

Die erste Sektion, die sechs theoretische Perspektiven versammelt, wird durch einen Beitrag aus den Kognitionswissenschaften eröffnet. Bettina Hannover führt in Rückgriff auf die Forschungstradition vor, dass das Selbst als flexible Größe und vom jeweiligen Kontext der Selbstrepräsentation geprägt zu verstehen ist. Anhand zweier Studien zeigt sie, dass sowohl hinsichtlich des Selbstwissens als auch des Selbstwertes – ein symptomatischer Begriff – die Kulturin(ter)dependenz bei der Selbstreferenz und Performanz eine zentrale Rolle spielt.

[10] 

Während Valerie Gray Hardcastle’s englischer Aufsatz die narrative Verfasstheit des Selbst verteidigt, skizzieren zwei linguistische Aufsätze die Herkunft (Ekkehard König) und das Feld (Katerina Stathi) des Wortes ›Selbst‹ beziehungsweise ›selbst‹. Gunter Gebauers Aufsatz widmet sich den Möglichkeitsbedingungen eines Selbstbezuges. Gebauer führt – implizit den Titel des Sammelbandes ausleuchtend – vor, inwiefern die Konzeption des Selbst gleich problematisch ist wie die des Performativen. Bei der Paradoxie des Selbst ansetzend wird das Selbst als Grenzphänomen – zugleich prozessual und fix, innen und außen etc. – beschrieben. Indem Gebauer in Rückgriff auf Pierre Bourdieu das Selbst als eine im weiten Sinn handelnde Instanz zu verstehen sucht, werden Performativität und Selbstkonstitution verzahnt. Die Sektion beschließend unternimmt Udo Tietz’ Beitrag eine historische Verortung des Selbstdenkens, wobei das Selbst und die Performativität relativ spät und über einen unvermittelten Jetztzeitbezug eingeführt werden.

[11] 

In der zweiten, zwei Aufsätze umfassenden Sektion wird mehr (Christina Deloglu) oder weniger (Adam Czirak) nahe an den Beispielen argumentiert und ausgehend von der inszenatorischen Praxis das Selbst in den Blick genommen. Beide Aufsätze widmen sich zeitgenössischen Inszenierungen. Das Verhältnis von Zuschauer und Künstler wird ins Zentrum gerückt und in seiner Gebrochenheit beleuchtet. Während sich Czirak auf die Blick-Regie konzentriert und die Vorteile des Konzepts des Individuums statt des Selbst herausstreicht, zeigt Deloglu anhand von Jeremy Wades I offer myself to thee auf, inwiefern das Rollenangebot auf der Bühne eine Interaktion zwischen Künstler und Zuschauer begünstigt, die das implizite oder explizite Machtspiel offenlegt. Cziraks Ansatz zielt letztlich in dieselbe Richtung, wenn er entlang von drei Beispielen die Radikalisierung der Zuschauer-›Rolle‹ und letztlich die Selbstfindung des Zuschauers fokussiert. Beide Aufsätze überlassen der Leserschaft zu reflektieren, ob nach wie vor ›Selbste‹ angenommen werden müssen, um innerhalb der Grenzen einer Inszenierung verbleiben zu können.

[12] 

Die dritte, vier Aufsätze umfassende Sektion ist einheitlicher konzipiert als die übrigen. Der zentrale Aufsatz von Ulrich Bröckling hebt pointiert hervor, was unter Selbstregierung verstanden werden kann. Wie bereits Gebauer rückt er die im Titel des Sammelbandes genannte Problematik der Frage nach dem Selbst ins Zentrum seiner Überlegungen. Bröckling schreibt:

[13] 
Wenn wir das sind, was wir aus uns machen (sollen), dann lassen sich die Figurationen des Selbst nur erschließen über die Semantiken, Wissenskomplexe und Technologien, die zu seiner theoretischen Bestimmung und praktischen Formung aufgerufen wurden und werden. 5
[14] 

Auch wenn der Artikel nicht eigens für den vorliegenden Sammelband verfasst wurde, kann mittels der Betonung des Paradox‘ der Selbstkonstitution – vorgeführt am ›unternehmerischen Selbst‹ – der praktische Aspekt der Fragestellung hervorgehoben werden. Das Paradox der Selbstkonstitution wird als prozessierendes Problem und folglich als praktische Aufgabe verstanden, was der Idee des Sammelbandes Ausdruck verleiht.

[15] 

Kai van Eikels‘ Aufsatz schließt daran an, indem er die historisch zu verankernde Verschiebung von der Fremd- zur Selbstregierung skizziert und in Folge das Gegenstück zu letzterer, die Selbstdisziplinlosigkeit, auf ihre positiven (Neben)Effekte befragt. Anhand des ›guten Prokrastinierens‹ 6 wird ein alternatives Modell zur Selbstdisziplin diskutiert und als eine Form der Selbstverwirklichung verstanden. Auf Bröckling und van Eikels folgend fokussiert Volker Woltersdorff das ›neue‹ Leitmodell des Lebenskünstlers, worin die vorerst konträr wirkenden Forderungen an das heutige Selbst: »Mach aus Dir selbst ein Kunstwerk! Mach aus Dir selbst ein Unternehmen!« 7 gipfeln. In kritischer Absicht wird die Selbstverwirklichung als eine Form der (verdeckten) Selbsterschaffung kenntlich gemacht.

[16] 

Den Abschluss dieser Sektion bildet Richard Nates Aufsatz zu Aldous Huxleys Grenzgang zwischen wissenschaftlicher Objektivität und introspektiver Selbsterfahrung im Rahmen seiner wissenschaftlichen und literarischen (Schreib)Tätigkeit.

[17] 

Die vierte und letzte Sektion umfasst drei Aufsätze, die in der Hinwendung zur textuellen Selbstkonstitution übereinkommen. Während sich Andrea Sieber der autobiografisch erfolgenden Selbstkon- und destruktion der Mystikerin Elsbeth von Oye widmet, zeigt Henning S. Hufnagel auf, inwiefern Giordano Brunos Dialoge sowohl der Konstitution einer bestimmten Philosophie als auch einer Autorität auf institutioneller Ebene Vorschub geleistet haben. Hufnagel kann aufzeigen, inwiefern Dialog und Selbstbezug in eins fallen und eine wirkmächtige Form der Verbindung von Theorie und Praxis darstellen.

[18] 

Den Abschluss der Sektion und des Sammelbandes bildet ein Aufsatz von Torsten Jost und Matthias Weiss, die sich Gertrude Steins Selbstdarstellung in Texten und auf Porträtfotografien annehmen und aufzeigen, dass das Wirken von Stein als Oszillieren zwischen den Polen human nature und human mind zu verstehen ist.

[19] 

Das Selbst bleibt eine Aufgabe

[20] 

Die vorliegende Publikation versammelt unterschiedlichste Ansätze und zeigt auf, wie vielfältig das Fragen nach dem Selbst ausfallen kann. Dass dieses Fragen damit zu keinem Ende gekommen ist und kommen darf, macht der Sammelband nicht nur inhaltlich, sondern auch durch seine Konzeption einsichtig. Nicht nur, weil die durch Social Media wie Facebook, Twitter, Youtube etc. eröffneten Portale für Selbstdarstellungen im weiten Sinn (noch) keine Behandlung erfahren haben, sondern auch weil die präsentierten Materialien, Denktraditionen etc. weiter und in anderen Zusammenhängen befragt werden können. Der Sammelband bildet eine gute Ausgangslage für weitere Revisionen von Selbstkonstitutionen und -performanzen, allenfalls auch für solche, die über den europäischen Forschungsraum und die westlich geprägte Forschungskultur hinausreichen, sodass auf der Ebene der Gesamtanlage der bei Hannover thematisierten Kulturinterdependenz von Selbstreferenzen und -performanzen Rechnung getragen würde. Der anschlussfähige Sammelband führt das Fragen nach dem Selbst vor und umschifft gekonnt die durch seine Thematik drohende Vereinheitlichung und Vergegenständlichung.

 
 

Anmerkungen

Gunter Gebauer, Ekkehard König und Jörg Volbers (Hg.): Selbst-Reflexionen. Performative Perspektiven. München: Wilhelm Fink Verlag 2012, S. 12.   zurück
Vgl. Ulrich Bröckling: »Der Ruf des Polizisten – Die Regierung des Selbst und ihre Widerstände«. In: Selbst-Reflexionen, S. 139–153, hier S.140.   zurück
Selbst-Reflexionen, Klappentext.   zurück
Ulrich Bröckling (Anm. 3), S. 141.   zurück
Vgl. Kai van Eikels: »Meine Trägheit ist ebenso furchtlos wie mein Zorn. Ein Lob der Selbstdisziplinlosigkeit«. In: Selbst-Reflexionen, S. 155–178. Beim guten Prokrastinieren handelt es sich um ein aktives Nutzen der beschränkten Aufmerksamkeit der Umwelt, was mit dem gängigen Konzept des Zeitmangels in Konflikt steht, vgl. S. 166.   zurück
Volker Woltersdorff: »Lebenskünstler als Selbstunternehmer: Über gegenwärtige Diskurse zur Ästhetisierung und Ökonomisierung des Selbst«. In: Selbst-Reflexionen, S. 179–194, hier S. 179.   zurück