IASLonline

Neue theoretische Konzepte zum Kolonialismus

  • Ortrud Gutjahr / Stefan Hermes (Hg.): Maskeraden des (Post-)Kolonialismus. Verschattete Repräsentationen ,der Anderen' in der deutschsprachigen Literatur und im Film. (Interkulturelle Moderne 1) Würzburg: Königshausen & Neumann 2012. 365 S. EUR (D) 39,80.
    ISBN: 978-3-8260-4090-0.
[1] 

Der vorliegende Band gehört zu den bemerkenswerten Studien, die in den letzten Jahren zu deutschsprachigen kolonialen und postkolonialen Romanen und Filmen erschienen sind, und dem man deswegen eine große Verbreitung wünscht. Er versammelt eine Reihe theoretischer, interpretatorischer und informierender Aufsätze, in denen fiktionalisierte Darstellungen des deutschen Kolonialismus der Wilheminischen Ära vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart diskutiert werden. Wie der Titel des Buches zeigt, sollen dabei Aspekte der Maskerade bei den Kolonisierenden und der Unterrepräsentation bei den Kolonisierten im Vordergrund stehen. »Maskerade« wird dabei von der Herausgeberin und dem Herausgeber definiert als »Verfahren des Verbergens von Angst, Aggression und Begehren«, das »im Dienste sozialer Positionierung und kultureller Differenzzuschreibung steht« (S. 7).

[2] 

Birthe Kundrus weist in »Spurensuche« darauf hin, dass sich in der Gegenwart bei den kulturwissenschaftlichen Ansätzen in der Geschichtswissenschaft eine Tendenz weg vom früheren herrschaftssoziologischen hin zu einem verflechtungsgeschichtlichen Ansatz abzeichnet. Dabei wird deutlich, dass in der Weltwahrnehmung der Kolonisierenden mit der imperialen Selbstermächtigung zivilisatorische Selbstverunsicherung einherging. Die sogenannte rassische Überlegenheit war ideologisch weder stabil noch kohärent. Nicht wenige Schriftsteller glaubten nach Asien aufbrechen zu müssen, um zu den Quellen menschheitlicher Weisheiten vordringen zu können. Mit Lacans Begriff des Begehrens operiert Christian Weller in »Liebe und Arbeit«, wenn er an Reiseberichte aus dem 18. Jahrhundert über »exotische Länder« erinnert. Eigentlich richte sich das Begehren des Kolonisators auf »den Anderen«, aber mit Hilfe des Konzepts »Erziehung zur Arbeit« werde er selbst bei der autochthonen Bevölkerung zum Objekt des Begehrens. Diese Verschiebung sei auch im Programm der deutschen Kolonialpolitik auszumachen.

[3] 

Interpretationen

[4] 

Neben diesen theoretischen Arbeiten gibt es eine Fülle von ausgezeichneten Interpretationen und Vergegenwärtigungen. Ortrud Gutjahr analysiert in »Koloniale Maskeraden« Frieda von Bülows Romane »Ludwig von Rosen« und »Tropenkoller«, die in der frühen Auseinandersetzung mit den Kolonialideen von Carl Peters, dem Gründer Deutsch-Ostafrikas, entstanden waren. Peters meinte, dass Deutschland das imperiale Großbritannien nachahmen müsse, wenn es zu einer Weltmacht aufsteigen wolle. Aus der wechselseitigen Anerkennung der Kolonisierenden seien bei Bülow die »Anderen« ausgeschlossen worden. Gutjahr untersucht den kolonialen Blick im Werk der Autorin, der im Dienst der Gewinnung einer hegemonialen Position und der Ausblendung von Ambivalenzen stehe. In der Chronologie der behandelten Romane folgt eine Studie von Medardus Brehl mit dem Titel »›Grenzläufer‹ und ›Mischlinge‹«über Gustav Frenssens »Peter Moors Fahrt nach Südwest«, dem Kolonial-Bestseller der Wilhelminischen Epoche. Brehl stellt dabei die Einschätzung der »Mischlinge«, der sogenannten »Bastarde«, in den Mittelpunkt seiner Studie. »Rassenmischung« war, das zeigt auch Frenssens Roman, eine Provokation, eine massive Irritation für das bürgerliche Verständnis von Politik und Sexualität, und die Toleranz gegenüber sogenannten »Halbblütigen«, die durchweg als moralisch verwerflich geschildert wurden, war innerhalb der kolonialen Ideologie nicht existent.

[5] 

Klaus Scherpe und Alexander Honold gehören zu den Begründern der literatur- und kulturwissenschaftlichen postkolonialen Forschung in Deutschland. Honold steuert in »Menschenfresser/ Hungerkünstler« scharfsinnige Analysen über Kafkas »Bericht für eine Akademie« und den »Hungerkünstler« bei, also zu Texten, in denen das Kolonialthema nicht direkt angesprochen wird. Im Mittelpunkt des interpretatorischen Interesses steht das Zurschaustellen von exotischen Tieren und Menschen, wie es damals in Zoos, im Zirkus und bei den Weltausstellungen üblich war. Kolonialistische Ideologie und Praxis, so zeigt Kafka nach Honold, ist nicht nur eine Sache imperialer Herrschaft auf fremden Kontinenten, sondern bezeichnend für die Mentalität des Europäers allgemein. Auch Scherpe belegt in »Szenarien des Kolonialismus in den Medien des deutschen Kaiserreichs«, dass die Öffentlichkeit des Wilhelminischen Deutschlands durchsetzt war von einer kolonialistischen Kulturökonomie, von einem gleichsam »sekundären Kolonialismus«, in dem Rassismus, Exotismus und Konsumismus eine unheilige trinitarische Einheit bildeten. Dabei rückt Scherpe auch die Bildsprache der Werbung in den Blick, etwa die sich wandelnde Darstellung aber gleich bleibende Wirkung des sogenannten Sarotti-Mohrs in der Reklame für eine Schokoladenmarke. Prägnant umreißt Scherpe auch die Absicht und Wirkung der gegen Carl Peters gerichteten Rede August Bebels im Reichstag: Hier bot sich eine Gelegenheit, die moralische Fragwürdigkeit und das Abenteuerliche an der Kolonialpolitik des Kaisers am Beispiel des bekanntesten deutschen Kolonialisten publikumswirksam vor Augen zu führen.

[6] 

Yixu Lü diskutiert in »Authentizität und Maskerade« zwei Romane aus der Zeit um 1900 des Jugendschriftstellers Paul Lindenberg. Darin geht es um die Abenteuer eines jungen Deutschen zur Zeit der Wilhelminischen Besatzungs- und Verwaltungsansprüche in China. Dem Autor wird bescheinigt, dass er auf die zeitgenössische Dämonisierung chinesischer Kultur im Stil von Kaiser Wilhelms Warnung vor der »Gelben Gefahr« weitgehend verzichtet. Auch Axel Dunker zählt zu den bewährten Experten im Gebiet literaturwissenschaftlicher Kolonialismusforschung. In seinem Beitrag »Durch die Wüste undsoweiter«geht er ein auf Karl Mays Roman »Durch die Wüste« aus dem Orientzyklus, auf Else Lasker-Schülers Erzählbände »Die Nächte der Tino von Bagdad« und »Der Prinz von Theben« sowie Hubert Fichtes Marrakesch-Roman »Der Platz der Gehenkten«. Bei Karl May interessiert Dunker die koloniale Mimikry, wie sie dem Verhalten des arabischen Dieners zu entnehmen ist und die nicht subversiv im Sinne der Theorie von Homi Bhabha wirksam wird, sondern Autorität und Dominanz des kolonialen Europäers nur bestätigt. Im Fall von Lasker-Schüler sieht er eine Autorin am Werk, die auf subtile Weise exotische Motive benutzt, um die zeitgenössische Schaustellung des »Anderen« als Schau zu entlarven. Fichte wiederum benutzt Formen des Umgangs mit Fremdkulturellem auf anti-, nicht- und postkoloniale Weise. Stefan Hermes, Mitherausgeber des hier besprochenen Bandes und Autor der ausgezeichneten Monographie »Fahrten nach Südwest« über die Kolonialkriege gegen die Hereros und Nama in der deutschen Literatur, schaut sich in »›Leere Räume‹ –›treue Neger‹«Romane aus der Zwischenkriegszeit an, und zwar das berühmt-berüchtigte »Volk ohne Raum« von Hans Grimm und »Das harte Brot« von Adolf Kämpfer. Da Grimm die Schwarzen als rassisch ›minderwertig‹ einstufte, ist seine Nähe zur nazistischen Ideologie offensichtlich, aber anders als die Nationalsozialisten vertrat er eine (übrigens von deutschen Kolonialpolitikern nicht selten geteilte) paternalistisch-kulturmissionarische Position, deren Ziel die »Zivilisierung« und »Modernisierung« der Afrikaner war. Das sei sogar noch Kämpfers Einstellung gewesen, dessen Romane zur Zeit des Hitler-Regimes veröffentlicht wurden. Ein sehr interessanter Exkurs über Thomas Pynchons »V.« findet sich in Sibylle Benninghoff-Lühls Aufsatz »Die Masken des schwarz-weiß-roten Todes«. Das ist eine weit ausgreifende – und Beziehungen zu Nietzsches Vorstellung vom Herrenmenschentum nicht unterschlagende – Darstellung früher Kolonialromane. Pynchon hatte offenbar das für die Friedensverhandlungen in Versailles im Auftrag der Westmächte erstellte »Blue Book« über die Verbrechen der Deutschen in ihren Kolonien gelesen. Er arbeitet in seiner Darstellung des hässlichen Deutschen als Imperialisten mit einer Übertreibungs-, Überbietungs- und Verkehrungstechnik, die einen Zug ins Karnevalistische nicht verleugnen kann. Hans-Jörg Bay beschäftigt sich in »Vom Waterberg nach Auschwitz?« mit der postkolonialen Gegenwartsliteratur und untersucht »Erinnerungsräume« in Büchern von Stephan Wackwitz, Christof Hamann und Uwe Timm. Er konstatiert die schon aus dem kolonialen Roman bekannte Unterrepräsentation des Kolonisierten bei Wackwitz und Hamann (im Gegensatz zu Buch und Timm). Und schließlich beschäftigen sich Wolfgang Struck in »Reenacting Colonialism« und Evelyn Annuß in »Für immer Afrika« mit Fernsehsendungen zum Modethema Afrika, zum Beispiel mit »Afrika, mon amour« und »Für immer Afrika«. Da werden unspezifische Sehnsuchtsorte nach dem Schema des Heimatromans der 1950er Jahr beschworen, und es gilt das Prinzip »Harmloses, bitte«, so dass der Genozid an den Hereros und Hamas erst gar nicht thematisiert wird.

[7] 

Fragen und Fazit

[8] 

Nach der Lektüre dieses weiterführenden Bandes drängen sich einige Fragen auf: Dass die afrikanische Bevölkerung als amorphe Masse, die Kolonialisten dagegen als individualisierte Figuren gezeichnet werden, zeigen fast alle Beiträge. Konzepte wie »Maskierung« und »Maskerade«, die Ortrud Gutjahr als Kennzeichen der kolonialen Literatur profiliert, werden jedoch von den übrigen Beiträgern nur selten fruchtbar gemacht. Die Maskerade sei das Mittel, die Differenz von Dominanz und Subalternität zu profilieren und die Hierarchien im Herr-und-Knecht-Verhältnis zwischen Europäern und Afrikanern zu etablieren oder zu befestigen. Es fragt sich, ob der Begriff des Bourdieuschen Habitus hier nicht besser greift als der der Riviereschen Maskerade. Der Habitus mit Uniformfetischismus, Kasernenton und militärischer Rigidität war bei den künftigen deutschen Kolonialherren bereits vor Beginn ihres imperialen Projekts ausgeprägt und auch außerhalb der militärischen Elite akzeptiertes Kennzeichen sozialen Verhaltens. Wenn aber im kolonialen Kontext Maske und Maskierung so stark betont werden, wie es in der Einleitung der Fall ist, und wenn in den postkolonialen Studien die Stimme der Unterprivilegierten hörbar gemacht werden soll, wäre es von Interesse zu untersuchen, welche Rolle die Maskierung in der Kultur der Afrikaner spielte und welche kulturellen Verwerfungen sich ergaben im Konkurrenzverhältnis zwischen der Maske der alten autochthonen Kultur, die unter anderem auch Hierarchien bezeichnete und disziplinierende Funktion besaß, und jener der kolonisierenden Deutschen bzw. Europäer.