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Die mittleren Temperaturen des Eros

Kannibalismus-Angst, Triebkontrolle und deutsche Männlichkeit

  • Eva Bischoff: Kannibale-Werden. Eine postkoloniale Geschichte deutscher Männlichkeit um 1900. (Postcolonial Studies 8) Bielefeld: transcript 2011. 382 S. zahlreiche Abb. Paperback. EUR (D) 32,80.
    ISBN: 978-3-8376-1469-5.
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»Wolfstum bei Radio und Elektrizität«

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Als sich im Jahr 1924 alle Welt fragte, was Fritz Haarmann wohl dazu gebracht haben könnte, mindestens 24 jungen Männern beim Geschlechtsakt die Kehle zu zerbeißen, ihre Überreste zu zerstückeln und diese – so wollte es das populäre Gerücht – als Wurst zu verkaufen, bot einer der Prozessbeobachter, der Philosoph und Publizist Theodor Lessing, eine Erklärung für das Spektakel des Haarmann-Falles an: »Wir normalen und beherrschten Menschen«, so Lessing, hätten uns den »vormenschlichen Triebdämonen« durch »geistbedingte wachsende Abkältung der Erdkraft« entzogen. Dann aber komme mit Haarmann »noch einmal durch eine Art Regiefehler ein Naturspiel wie dieser Triebmonomane in eine Schicht von Lebewesen, wo nur mittlere Temperaturen des Eros die Bürger-Rechte haben.« Urmenschliche Triebe also inmitten einer Welt bürgerlicher Beherrschtheit, in der die Verbindung von »Tod und Wollust« gerade deshalb so abscheuliche Formen annehme, »weil in einer selber verfratzten und depravierten ›Kulturmenschheit‹ auch das Naturantlitz nur in Form der Fratze und Entartung durchbrechen« könne. 1

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Weniger also dass es Haarmann, den atavistischen »Regiefehler«, überhaupt gab, war für Lessing erklärungsbedürftig, als vielmehr die Gesellschaft selbst und ihr Umgang mit dem Serienmörder: die Hysterie und die Forderung nach Lynchjustiz etwa, die diskursive Vertierung Haarmanns, die paranoiden Gerüchte vom Fleischhandel und von Haarmanns angeblichem Kannibalismus, die Herabwürdigung seines Milieus und seiner Opfer, die Pathologisierung seiner Homosexualität und seiner Psyche, die vorverurteilenden psychiatrischen Gutachten, die öffentlichkeitssensitive Prozessführung. Gewöhnt an Triebkontrolle und Selbstdisziplin habe diese Öffentlichkeit dabei aber vergessen, dass auch »die Moral der Kulturmenschheit nur eine Art versetzte und ›veredelte‹ Wollust« berge, dass gerade das »Wolfstum bei Radio und Elektrizität, der Kannibalismus in feiner Wäsche und eleganter Kleidung« ein Merkmal sei »für die Seele der abendländischen Wolfsmenschheit überhaupt«.

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Nur ein dünner Firnis logos- und ethoszentrierter Kultur trennte für Lessing den modernen Menschen von seiner früheren Natur, mit der er gebrochen habe, jedoch nur unvollständig und nicht erfolgreich. Im Gegenteil: Der Kulturmensch sei so »triebunsicher geworden, daß man auch den stärksten, kühnsten und klügsten mit leichter Mühe durch ein paar Tage Käfig zu allem Bösen wie allem Irrsinnigen bringen kann«. 2 Das Böse – es stecke in jedem Menschen, und besondere Umstände, fehlende Hemmungen oder die Gelegenheiten des modernen Lebens, seien geeignet, dieses Böse hervorbrechen zu lassen.

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These: Triebkontrolle als Distinktionsmerkmal

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Mit dieser kritischen Diagnose seiner Zeit lag der Philosoph ganz auf der Linie eines Diskurses über weiße, bürgerliche und vor allem männliche Triebbeherrschung, dessen Ausprägungen um 1900 Eva Bischoff mit dem hier zu besprechenden Band, einer leicht überarbeiteten Fassung ihrer 2008 an der LMU München vorgelegten Dissertation, auf der Spur ist.

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Ausgangspunkt ist dabei die Figur des Kannibalen, der Inbegriff des ›Wilden‹, dem, so die zeitgenössische Auffassung, jede Triebbeherrschung fehle und der das scheinbar extremste menschliche Tabu breche, indem er aus Wildheit und Gier, aus Sitte und Aberglaube andere Menschen verspeise. Diese Figur und der Kannibalismus als solcher wurden in der deutschen Gesellschaft breit thematisiert. Angebliche Kannibalen wurden in Völkerschauen gezeigt, gehörten zum »ikonographischen Inventar der imperialist imagination« (S. 10), bevölkerten Abenteuerromane. Gleichzeitig wurde der Kannibalismusvorwurf im Sinne einer verschärften Herabwürdigung instrumentalisiert, wenn etwa die in den 1920er Jahren bei der Rheinlandbesetzung dort stationierten afrikanisch-französischen Soldaten als Kannibalen stereotypisiert und diffamiert wurden oder man den bekannten Serienmördern der Zeit (Carl Großmann, Karl Denke, Fritz Haarmann) auch noch Kannibalismus nachsagte.

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All diese Thematisierungen jedoch problematisierten zugleich auch, so Bischoff, die hegemoniale, die weiße, deutsche, heterosexuelle Männlichkeit in den Kolonien und im (post-)kolonialen Mutterland, indem sie eine permanente Bedrohung dieser Männlichkeit durch zwei Gefahren konstruierten: In der Kolonie durch die Gefahr, von Kannibalen (und dem gleichsam kannibalischen Klima) verschlungen zu werden, und im Mutterland durch die Gefahr, wegen fehlender Triebkontrolle selbst zum Kannibalen zu werden. Diese Konstruktion einer doppelten Gefahr verschränkte Kolonie und Metropole mit vielfältigen diskursiven und nicht-diskursiven Wechselwirkungen, was Bischoff stimmig mit dem Konzept der ›geteilten Geschichte‹ fasst. Damit setzt sie die koloniale Situation innerhalb des deutschen Kolonialprojekts mit der (post-)kolonialen Situation in der deutschen Gesellschaft in Beziehung und analysiert die Wirkung des Wissens vom Kannibalen hier wie dort.

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Im Rahmen dieser geteilten Geschichte wurde, so Bischoff, der ›wilde Kannibale‹ als diskursiver Referenzpunkt etabliert, als eine »Männlichkeitskonstruktion, die durch ihre animalische Instinkthaftigkeit, ihre Impulsivität und unkontrollierte Gier sowie ihren Hang zum Aberglauben gekennzeichnet war und als eine Verkörperung der evolutionären Vergangenheit der Menschheit galt« (S. 70). Die ›Wilden‹ als unzivilisierte Vorstufe des Kulturmenschen, und der Kannibale als Ver-Körperung des triebhaften, primitiv-impulsiven Mannes, als die Negativfolie, an der die legitime, triebkontrollierte, eben die hegemoniale Männlichkeit kontrastiert wurde. Mit der zeitgenössischen Auffassung, dass der Kannibale in jedem Manne hause, avancierte, so die zentrale These der Autorin, Triebkontrolle »zum primären Distinktionsmerkmal weißer, bürgerlicher, heterosexueller Männlichkeit« (S. 10).

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Damit entfernt sich Bischoff von der in der ethnologisch-historischen Forschung bislang gültigen Auffassung, dass mit der Thematisierung des wilden Anderen eigentlich das Eigene kommentiert und die sexualisierte kannibalische Alterität klar von einer weißen, bürgerlichen, heterosexuellen Identität abgegrenzt werde. Mit ihrer schlüssigen Beobachtung, dass der zeitgenössische Diskurs dem Körper des Mannes grundsätzlich primitive und sexualisierte Impulse zugeschrieben habe, postuliert Bischoff demgegenüber, dass »anstelle einer binär codierten Differenz zwischen kannibalischem Anderen und weißer Männlichkeit vielmehr ein Kontinuum der männlichen (Ab)Normalität entworfen wurde, in dem jeder einzelne Mann verortet werden konnte« – in Abhängigkeit zum je unterschiedlichen Grad der Triebkontrolle (S. 200). Eine männliche Identität auszubilden, Mann-Werden, hieß demnach, so Bischoff, seine Triebe zu kontrollieren und sich zu zügeln; Kannibale-Werden umgekehrt, begehren und fressen zu wollen (S. 16).

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Sie zeigt dies anhand zweier Felder, die sich an den oben genannten Gefährdungen des weißen männlichen Körpers orientieren: Der ›wilde Kannibale‹ und die Gefährdung des weißen Körpers durch Einverleibtwerden in der Kolonie sind Gegenstand der Kapitel 2 und 3. Ihre Analyse des entsprechenden zeitgenössischen Diskurses basiert auf dem ethnologischen und stereotypen Wissen vom ›kannibalischen Wilden‹ aus Reiseberichten und Abenteuerromanen. Am Beispiel des Prozesses gegen mutmaßliche Kannibal/innen im deutsch-ostafrikanischen Iringa (heute Tansania) 1908/09 wird sodann beschrieben, wie dieses Wissen von verschiedenen Akteuren genutzt wurde, um einerseits die selbstgewählte zivilisatorische Mission der deutschen Kolonialmacht zu legitimieren und andererseits neue, bio-politische Formen der kolonialen Gouvernementalität zu fordern: Nicht nur sollte der ›wilde Kannibale‹ zivilisiert werden; er sollte zudem als Objekt der rasse- und biopolitischen Intervention von staatlicher Seite normalisiert werden (S. 118).

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Der »kannibalische Lustmörder«, also die Inkarnation der Gefährdung hegemonialer Männlichkeit durch fehlende Triebkontrolle, wird in den Kapiteln 4 bis 6 behandelt. Hier erarbeitet Bischoff den Diskurs, das kriminologische und stereotype Wissen über vermeintlich kannibalische Sexualmörder, aus fachwissenschaftlichen Publikationen. In Kapitel 5, am Beispiel der Diffamierungskampagne gegenüber den afro-französischen Besatzungstruppen im Rheinland in den 1920er Jahren, zeigt Bischoff zudem, wie das im kolonialen Diskurs formierte Wissen über den ›wilden Kannibalen‹ zur Abwehr der politischen Demütigungs- und Bedrohungserfahrungen nach Ende des Ersten Weltkriegs instrumentalisiert wurde.

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Dem kriminologischen Feld des ›Lustmords‹ und Bischoffs Analyse seiner Beziehungen zum Diskurs über den ›kannibalischen Wilden‹ soll, angesichts der für diesen Rezensionsort maßgeblichen Fragen zu Kriminalität und Kriminologie, im Folgenden weitere Aufmerksamkeit gelten.

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Serienmord und Triebkontrolle

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Innerhalb nur eines Jahrzehnts war die deutsche Gesellschaft mit gleich vier Serienmordfällen konfrontiert. Während die Taten Carl Großmanns (1922) und Karl Denkes (1924) in der Öffentlichkeit etwas weniger Beachtung fanden, entfalteten sich um Fritz Haarmann (1924/25) und Peter Kürten (1930/31) Medienspektakel bislang unbekannten Ausmaßes. Serienmordfälle erregen die mediale Aufmerksamkeit deutlich über das übliche Maß der Kriminalitätsberichterstattung hinaus: Der Täterpersönlichkeit und ihrer Ergründung wird breiter Raum gegeben, wodurch nicht nur die Umstände der Taten, sondern auch die Motivation des Täters und damit seine, so wird oft sogleich insinuiert, pathologische Natur heraus gestellt werden. Vordergründig mag es einer angstlüsternen, einer faszinierten und zugleich abgestoßenen, Medienöffentlichkeit darum gehen, den Serientäter zu verstehen – zumindest darum, ihn verurteilt zu wissen. Implizit wirken wohl auch Mechanismen der Exklusion, wenn der Serientäter als ›das Andere‹ vom normkonformen Mitglied der Gesellschaft abgesetzt wird.

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Bischoff vermutet zudem auch Prozesse der Inklusion, die über die Bestimmung dessen, was nicht mehr erlaubt ist, die Grenze des Erlaubten sichtbar machen. Sie geht davon aus, dass der »kannibalische Lustmörder« als unerwünschte Erscheinung des triebgesteuerten, zur Selbstkontrolle unfähigen Männerkörpers etabliert wurde und somit dabei half, »dasjenige Maß an Gewalttätigkeiten, das ein Mann legitim ausüben durfte« (S. 219) zu bestimmen.

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Dem Aspekt des Kannibalismus kam dabei, so Bischoff, besondere Bedeutung zu: Der ›wilde Kannibale‹ habe in der (post)kolonialen Situation als ein erprobtes und wirksames Modell von Alterität bereit gestanden (S. 199) und leicht auf andere Alteritätskonstrukte übertragen werden können. Gelungen sei dies über einen Verweiszusammenhang zwischen Ethnologie und Psychiatrie/Kriminologie (S. 174), zwischen den ethnologischen Vorstellungen vom ›wilden Kannibalen‹, der aus Aberglaube und wilder Gier Menschen verspeise, und den kriminologischen Deutungsmustern des »kannibalischen Lustmörders«, dessen Gier nach Menschenfleisch einer sexuellen Perversion als Folge von Psychopathie und damit von Willensschwäche und mangelnder Triebkontrolle entspringe.

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Aus diesem Verweiszusammenhang sei allmählich ein Analogieschluss zwischen ›Wilden‹ und Kriminellen geworden (S. 186). Auf diese Weise »wurde die Aufrechterhaltung der Kontrolle über die eigenen Triebe, über die eigene Sexualität zum entscheidenden Kriterium in der Frage der psychischen Gesundheit und der Normalität eines Mannes« dessen Willensstärke ihn »gegenüber kranken und erblich belasteten weißen, aber auch gegenüber nicht-weißen indigenen Männern« auszeichnete (S. 208 f.). Anders gewendet: Die angebliche Willensschwäche der ›Naturvölker‹ und die des kriminellen Psychopathen seien diskursiv parallelisiert worden.

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Bischoff versteht die Analogie ›Wilder‹/Krimineller (›Lustmörder‹) als Teil eines breiteren Konzepts hegemonial-männlicher Triebkontrolle, das, wie schon dargestellt, graduell den weißen Mann, der dazu fähig war, vom dazu unfähigen weißen Mann ebenso unterschied wie den weißen Mann vom (kannibalischen) ›Wilden‹. Die Autorin liest den zeitgenössischen Diskurs gegen die übliche Forschungsperspektive und stellt überzeugend heraus, dass Mediziner, Psychiater und frühe Kriminologen um 1900 nicht alle und nicht ausschließlich von einer scharfen Grenze zwischen Konformität und Abweichung ausgingen, sondern durchaus ein Kontinuum der (Ab)Normalität mit einem ›Normalfeld geistiger Gesundheit‹ und fließenden Grenzen zu ›anormalen Anschlusszonen‹ annahmen (S. 207) – was die historische Kriminologieforschung in der Tat selten differenziert.

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Wie aber wurde nun dieses Konzept einer graduell unterschiedlichen Triebkontrolle als Distinktionsmerkmal in den konkreten Serienmordfällen wirksam und welche Rolle spielten sie und der Kannibalismusdiskurs hinsichtlich der von Bischoff in den Blick genommenen Konstruktion hegemonialer Männlichkeit?

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Zunächst einmal konstatiert auch Bischoff, dass die Zeitgenossen das Auftreten dieser bestimmten Art von Mordfällen im Zuge der Selbstdiagnose ihrer Umwelt auf die ›Verwilderung der Sitten‹ nach dem Weltkrieg und infolge der Inflationszeit zurückführten. Serienmörder galten als »Verkörperung einer allgemeinen Entsittlichung und des Verlustes der Selbstkontrolle«; hier verdichtete sich, so Bischoff, der damalige Kannibalismusdiskurs, denn es ging in den Fällen jener Zeit »um Gier, Konsum und kapitalistische Bereicherung, Hunger und die Gewöhnung an Menschenfleisch, um Gewalt, Männlichkeit und Triebhaftigkeit« (S. 243).

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Während Denke und Großmann deutlicher innerhalb dieses zeitgenössischen Krisendiskurses verortet waren, spielte in den Fällen Haarmann und Kürten das sexuelle Motiv eine größere Rolle. Wie die Prozessgutachter herausstellten, habe Kürten seinen Sadismus, der seit Krafft-Ebing als pervertierter Sexualtrieb galt, nicht kontrollieren können, was, so zeigt Bischoff schlüssig, auch die Frage nach einer möglichen Einschränkung der freien Willensbestimmung durch den Sexualtrieb klar verneinte (S. 218). Und auch Haarmann warf die Staatsanwaltschaft fehlende Triebkontrolle vor, denn er hätte in den weiteren Fällen nach der ersten Tötung seine Handlungsweise, wenn er seine Opfer mitnahm, voraus sehen und die Taten mittels Willensstärke vermeiden können. Kürten und Haarmann wurden, so Bischoff, letztlich verurteilt, »weil sie bei der zentralen männlichen Eigenschaft versagt hatten: der Triebkontrolle« (S. 219).

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Diesem Zitat kommt bei der Beurteilung des vorliegenden Buches eine gewisse Schlüsselstellung zu. Denn einerseits gilt: Die Aussage ist völlig richtig. Das Quellenmaterial zu den Fällen zeigt eben diesen Aspekt auf und es bringt die Forschung ein gutes Stück weiter, ihre Deutung der wissenschaftlichen Serienmorddiskurse der 1920er und 30er Jahre um die damals herrschende Auffassung von einem Kontinuum der männlichen Triebkontrolle ‑ an dessen Nullpunkt der Serienmörder verortet wurde ‑ zu erweitern. Bischoffs Analysen zeigen, dass der Serienmörder ebenso wenig wie der ›wilde Kannibale‹ als binär codiertes Gegenüber beziehungsweise als Abjektion des Mannes konstruiert, sondern als inhärenter Bestandteil seiner Identität (S. 287) verstanden wurde – zumindest in der kriminologischen Fachliteratur.

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Kannibalische Lustmörder?

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Andererseits muss die Frage gestellt werden, ob in der öffentlichen Wahrnehmung von Serienmordfällen Kannibalismus tatsächlich die von Bischoff angenommene Rolle eines Katalysators männlicher Identität gespielt hat, mit dem die Grenzen des Erlaubten definiert wurden. Dieser Zweifel rührt daher, dass der Kannibalismusverdacht zum einen nicht bei allen Serienmördern der Zeit und zum anderen nicht nur in der postkolonialen Situation der 1920er Jahre geäußert wurde. Außerdem wurde der Kannibalismus in den untersuchten Fällen nie bewiesen, was ihn zwar nicht gleich ins Reich der Fantasie befördert, zumindest aber in die Sphäre des Gerüchts.

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Festzuhalten ist zunächst, dass ›nur‹ Großmann, Haarmann und Denke Kannibalismus vorgeworfen wurde, Kürten hingegen »Vampirismus« (er hatte zugegeben, vom Blut seiner Opfer gekostet zu haben). Warum aber wurde jenen der Konsum vom Fleisch ihrer Opfer nachgesagt, nicht aber diesem? Das ist, auch in Bezug auf Bischoffs Implikation, dass Kannibalismus wegen seiner identitätsmarkierenden Funktion ein durchgängiges Begleitattribut für die Serienmörder im postkolonialen Deutschland gewesen sei, erklärungsbedürftig.

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Hierzu bietet sich ein Vergleich mit anderen Serienmordfällen an: Wie Kürten begingen zum Beispiel auch Adolf Seefeld (1935), Jürgen Bartsch (1961) oder Ted Bundy (1978) ihre Taten im Freien; und auch sie zerstückelten ihre Opfer nicht. Ihnen wurde ebenfalls kein Kannibalismus unterstellt. Hingegen töteten auch beispielsweise Ed Gein (1957), Fritz Honka (1975) oder Jeffrey Dahmer (1991) wie die hier untersuchten Mörder in der Abgeschlossenheit ihrer Wohnungen. Auch sie zerstückelten ihre Opfer und entsorgten sie in kleinen Paketen, bewahrten aber auch Teile davon auf. Auch ihnen wurde Kannibalismus vorgeworfen – und ebenfalls nie nachgewiesen. Die Heimlichkeit fremder Wohnungen aktiviert ohnehin das voyeuristische Bedürfnis des Menschen. Doch wo die Neugier beim realen Blick hinein nur die Banalität des Alltags der Anderen findet, ersetzt die Fantasie den verwehrten Blick in die ›Horrorwohnung‹ des Serienmörders durch einen imaginativen und durch die bange Frage, welche unsagbaren Grausamkeiten dort wohl geschehen sein mögen. Kannibalismus rangiert dabei ganz am finsteren Ende der Skala menschlicher Handlungspotenziale, gleich neben Pädophilie und Nekrophilie.

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Sicherlich erfordert die historische Gebundenheit der jeweiligen Fälle eine spezifische Analyse, was Bischoff für die postkoloniale Situation in Deutschland mit dem Hinweis auf einen diskursiven Verweiszusammenhang, auf die Analogisierung von ›wilden Kannibalen‹ und »kannibalischen Lustmördern«, unternimmt. Der Vergleich mit den späteren Fällen jedoch scheint die Gebundenheit zu relativieren, denn es ist fraglich, ob die Analogie trotz der zeitlichen Entfernung zu ihrem (post)kolonialen Ursprung bis heute nachwirkt und auch in den späteren Fällen den Kannibalismusvorwurf aktiviert hat. Der Kannibalismustopos vielmehr scheint in solchen Fällen zur Anwendung zu gelangen, wo die Tatbegehung eine besondere informatorische Leerstelle mit immanenter Anreizung zur fantasievollen Ausdeutung zur Folge hat, bedingt durch die gegenseitige Verstärkung von Heimlichkeit, Zerstückelung und Fantasie.

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Kontextabhängig hingegen dürfte der besondere Fokus auf Fleisch in den hier untersuchten Fällen gewesen sein. Der krisenbedingte Fleischmangel wirkte meines Erachtens aber nicht als Ursache, den Mördern Kannibalismus zu unterstellen, sondern als zeittypischer Verstärker: Fleisch war, wie auch Bischoff konstatiert, von besonderer Bedeutung, da die Mangelgesellschaft auf Fleisch (und auf seine Abwesenheit) orientiert war. Versteht man den Kannibalismus-Vorwurf und die Unterstellung, Großmann, Haarmann und Denke hätten Handel mit Menschenfleisch getrieben, jedoch als Zuschreibungen der Gesellschaft an die Serienmörder, dann sagt der geführte öffentliche Diskurs vielleicht mehr darüber aus, wie stark jene Gesellschaft mit Fleisch und den Vorgängen seiner Verarbeitung beschäftigt war, als über die Notwendigkeit, mittels des Kannibalismustopos Alterität und männliche Identität zu verhandeln. Zumal weniger der Kannibalismus der Täter das bestimmende Thema war, als vielmehr die Angst vor dem eigenen, ungewussten Kannibalismus, davor also, selbst das vom Täter ›verarbeitete‹ und gehandelte Fleisch der Opfer verspeist zu haben. Eine Menschenfleisch-Psychose wie etwa im Fall Haarmann gab es übrigens beim Kürten-Fall nicht, der dafür andere Psychosen wie die Überfall-, die Vermissten- und die Briefpsychose kannte. 3

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Damit berühren wir das Feld der Gerüchte. Interessanterweise schenkt Bischoff dem Umstand, dass der Kannibalismusverdacht eben diesen Charakter hatte, wenig Aufmerksamkeit. Gerüchte entstehen dort, wo die Situation unklar ist, aber zugleich ein großes kommunikatorisches Bedürfnis herrscht. Im informellen Gespräch werden (immer übertriebenere) Vermutungen geäußert, was wirklich geschehen sei – und übrig bleibt jene Erklärung, die von den meisten Beteiligten als plausibel erachtet und geteilt wird. 4 Aus Verdacht wird Gewissheit, aus Anekdote Wahrheit. Das Gerücht ist damit eine spezifische Form der kommunikativen Teilhabe an einem Sachverhalt; es bietet die Erklärung der informatorischen Leerstelle an, mit der Tendenz zur kontrafaktischen Ausgestaltung. Dies gilt zum einen dann, wenn die Verdachtsmomente untersuchungstechnisch nie erhärtet werden. Zum anderen kommt in Serienmordfällen noch der starke Affekt gegenüber der Grausamkeit und Unvorstellbarkeit der Taten hinzu. Dieser Affekt aber setzt, so Aleida Assmann, eine ganz eigene Dynamik in Gang:

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Der Affekt als Potenzierer von Wahrnehmung konserviert Erinnerungselemente, die als Teile oder Ganzes oder eingefaltete Mikroerzählungen beziehungslos nebeneinander stehen. […] In Richtung auf symbolische Kodierung bilden sie [die Erinnerungselemente; TK] das Material für sekundäre Vorgänge narrativer und deutender Stabilisierung. Dazu gehört an erster Stelle […] die Versprachlichung in der Erzählung, die Anekdote. Bei solchen Erinnerungen, die durch wiederholtes Erzählen regelrecht poliert worden sind, verlagert sich die Kraft der Stabilisierung allmählich vom Affekt in die sprachliche Formel. 5
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Möglicherweise ist der »cannibal talk« als sprachliche Formel in bestimmten Serienmordfällen (wieder: Heimlichkeit, Zerstückelung, Fantasie) eher Ausdruck des gesellschaftlichen coping, des Fertigwerdens mit den unvorstellbaren Taten, als die (bewusste?) diskursive Verwendung eines Topos zur Identitätsstabilisierung weißer Männer.

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Bei der Analyse von Gerüchten ist zudem Vorsicht geboten: Die Formulierung, dass der Kannibalismusverdacht durch die Ermittlungen gegen Großmann und Haarmann nicht ausgeräumt worden sei (S. 247), hinterlässt leider selbst eine gerüchtartige Leerstelle und impliziert, gleichsam in Umkehr der Beweislast, dass die betreffende Person des Kannibalismus solange schuldig ist, bis das Gegenteil bewiesen wird – also nie. In der Folge spricht Bischoff dann auch von den »kannibalischen Lustmörder[n] Karl [sic] Großmann, Karl Denke und Fritz Haarmann« (S. 249), als ob an dem ihnen unterstellten Kannibalismus kein Zweifel bestünde.

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Schlussbetrachtung

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Leider steht uns für die Messung des Eindrucks von historischen Serienmordfällen und der Wirkung der um sie kursierenden Gerüchte kein mit modernen qualitativen Methoden zum Beispiel der Medienwirkungsforschung vergleichbares Instrumentarium zur Verfügung. Deshalb ist es methodisch schwierig, einfach vom Diskurs auf dessen Wirkung zu schließen.

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Für den fachwissenschaftlichen Diskurs und auch für Teile der Berichterstattung kann sicherlich zum einen der von Bischoff beobachtete Verweiszusammenhang, zum anderen die Einordnung der Serienmörder in das Kontinuum der (Ab)Normalität festgestellt werden. Aber welche Wirkung hatte es? Erreichte der fachwissenschaftliche Diskurs eine breite Öffentlichkeit oder war die Rede vom »kannibalischen Lustmörder« als Nullpunkt des Kontinuums ›Mann‹ eben nur das: ein diskursives Ereignis? Zumal sich daneben und im öffentlichen Raum die diskursive Vertierung und Entmenschlichung der Täter mit Begriffen wie »Bestie« oder »Werwolf« finden lässt. Eben dieses Nebeneinander von In- und Exkludierung aber, die Ambivalenz der Zuschreibungen, die gleichzeitige Deutung des Serienmörders als Killer und als Kreatur, 6 zeigt, welch komplexe moralische Herausforderung Serienmordfälle für eine Gesellschaft sind.

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Dass aber auf einem so außergewöhnlichen Delikt wie Serienmord Konstrukte männlicher Identität gebaut sind, darf angesichts der Seltenheit der Fälle bezweifelt werden. Bischoff gibt dann auch bei der Analyse der historischen Situationen keine Hinweise auf die identitätsstabilisierende Wirkung des vorgeblich »kannibalischen Lustmörders« und kann damit den Nachweis des Zusammenhangs zwischen Identität, Alterität und der Rolle des Kannibalismustopos in Serienmordprozessen leider nicht führen.

 
 

Anmerkungen

Alle folgenden Zitate: Theodor Lessing (1996): Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs und andere Gerichtsreportagen. Hrsg. v. Rainer Marwedel. 2. Aufl. München, S. 180.   zurück
Ebd. S. 190.   zurück
Ernst Gennat: »Die Düsseldorfer Sexualverbrechen«. In: Kriminalistische Monatshefte 4 (1930).   zurück
Vgl. zum Beispiel: Klaus Merten: »Zur Theorie des Gerüchts«. In: Publizistik 54 (2009), S. 15–42.   zurück
Aleida Assmann: »Stabilisatoren der Erinnerung – Affekt, Symbol, Trauma«. In: Jöm Rüsen / Jürgen Straub (Hg.): Die dunkle Spur der Vergangenheit. Erinnerung, Geschichte, Identität. Bd. 2. Frankfurt/M. 1998, S. 131–152, hier S. 151.   zurück
Martin Lindner: »Der Mythos ›Lustmord‹. Serienmörder in der deutschen Literatur, dem Film und der bildenden Kunst zwischen 1892 und 1932«. In: Joachim Linder / Claus-Michael Ort (Hg.): Verbrechen – Justiz – Medien. Tübingen 1999, S. 273–305, hier S. 274.   zurück