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Pluralistische Utopien

  • Judith Leiß: Inszenierungen des Widerstreits. Die Heterotopie als postmodernistisches Subgenre der Utopie. Bielefeld: Aisthesis 2010. 297 S. Kartoniert. EUR (D) 27,90.
    ISBN: 978-3-89528-768-8.
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Die Utopieforschung boomt und ist längst unüberschaubar geworden. Verschiedene Forschungstraditionen, die teilweise wenige Berührungspunkte aufweisen, existieren nebeneinander, Nomenklatur und Forschungsfragen sind alles andere als einheitlich. Dies ist auf den ersten Blick überraschend, sind doch nur wenige literarische Gattungen über die Jahrhunderte hinweg so stabil geblieben wie die Utopie. Während bei Gattungen wie Phantastik oder Horror nicht einmal Konsens besteht, welche Werke mit diesen Labels bezeichnet werden sollen, sind die Klassiker der utopischen Literatur im Großen und Ganzen unbestritten. Zwar gibt es einen ganzen Forschungszweig, der sich nicht mit literarischen Utopien, sondern mit utopischen Bewegungen und Gemeinschaften beschäftigt, aber selbst, wenn wir uns auf die Literatur beschränken, bleibt die Forschungslage unübersichtlich. Allerdings gründet diese fehlende Überschaubarkeit weniger im Gegenstand selbst als vielmehr in der Tatsache, dass auch literarische Utopien immer mehr oder zumindest auch etwas anderes waren als »bloß Literatur«. In utopischen Romanen geht es stets um die Frage, wie ein Staat organisiert sein soll, also um Problemkreise von großer politischer Brisanz. Entsprechend war die Utopie nie alleiniges Herrschaftsgebiet der Literaturwissenschaft, sondern immer auch Gegenstand der Philosophie, Politologie und Soziologie.

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Judith Leiß hat offensichtlich keine Angst vor großen, diffusen Wissenschaftsfeldern, denn sie stellt der Utopie in ihrer Dissertation Inszenierungen des Widerstreits mit der Postmoderne respektive dem Postmodernismus zwei noch schwammigere Begriffe – sie selbst spricht von »Begriffsmonstern« – zur Seite. Leiß’ Interesse gilt der Heterotopie, die sie als postmodernistische Ausprägung der Utopie versteht. Der Begriff der Heterotopie, der ursprünglich aus der Medizin stammt, wird bei Michel Foucault verwendet, um eine spezifische Form der Un-Ordnung zu beschreiben;

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die Dinge sind darin ›niedergelegt‹, ›gestellt‹, ›angeordnet‹ an in dem Punkte unterschiedlichen Orten, dass es unmöglich ist, für sie einen Raum der Aufnahme zu finden und unterhalb der einen und der anderen einen gemeinsamen Ort zu definieren. 1
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Was Foucault in dieser alles andere als leicht verständlichen Passage zum Ausdruck bringen will, ist, dass die Heterotopie nicht bloß eine Abwesenheit von Ordnung darstellt, sondern vielmehr eine unmögliche Ordnung, ein Arrangement, das inkommensurable Dinge vereinigt, oder, wie es Leiß ausdrückt, das »Negativ eines kohärenten Ordnungsraumes« (S. 38). Zwar versteht Foucault die Heterotopie als Gegensatz zur Utopie, meint mit den beiden Begriffen aber primär nicht literarische Gattungen.

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Einzug in die SF- und die Utopie-Diskussion fand der Begriff der Heterotopie mit Samuel R. Delanys Roman Trouble on Triton (1976), der den Untertitel »An Ambiguous Heterotopia« trägt und sich ausdrücklich auf Foucault bezieht. Aber obwohl der Begriff der Heterotopie seither in der Utopieforschung immer wieder auftaucht, 2 handelt es sich dabei (noch) keineswegs um eine fest etablierte Gattungsbezeichnung.

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Dezidiert literaturwissenschaftliche Ausrichtung

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Leiß, deren Untersuchung dezidiert literaturwissenschaftlich ausgerichtet ist, knüpft weniger bei Foucault und Delany an – dessen Roman ist, wie sich zeigt, gemäss ihrem Ansatz gar keine echte Heterotopie –, sondern legt eine eigene Definition vor: Eine Heterotopie ist demnach das »postmodernistische Subgenre der Utopie« (S. 117), wobei Leiß scharf zwischen dem Epochenbegriff der »Postmoderne« und »Postmodernismus« als »Schreibweise« (S. 118) unterscheidet. Letztere zeichne sich dadurch aus, dass die »Inszenierung des Widerstreits als ästhetisches Grundprinzip« fungiert (S. 122). Mit der Betonung des Moments des Widerstreits bezieht sich Leiß auf François Lyotard, für den sich die Postmoderne im Gegensatz zur Moderne durch eine »Pluralisierung von Wahrheit und Sinn« (S. 29) charakterisiert. In den westlichen Industrienationen des ausgehenden 20. Jahrhunderts sei, so Lyotards oft zitierter Befund, ein Niedergang der »Großen Erzählungen« (grands récits) zu beobachten. Einheitliche Welterklärungsmodelle haben ausgedient, keine Position kann mehr exklusiv Wahrheit für sich beanspruchen; selbst ein verbindlicher Standpunkt, von dem aus die Welt betrachtet werden kann, ist abhanden gekommen. Diese Pluralität – und das ist für Leiß zentral – darf aber weder als Beliebigkeit missverstanden werden, noch stellt sie etwas Negatives dar: «Pluralität [erscheint] nicht als beklagenswerte, wenngleich nicht behebbare Abwesenheit von Einheit […], sondern als Gewinn« (S. 30).

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Pluralismus – und hier liegt sowohl die Herausforderung als auch die Pointe von Leißʼ Projekt – steht dem traditionellen Utopieverständnis vorderhand diametral entgegen. Denn die traditionelle Utopie lässt gerade nicht verschiedene Standpunkte gelten, sondern entwirft die eine, richtige, der menschlichen Natur tatsächlich entsprechende Staatsform, neben der alle anderen Formen des Zusammenlebens als minderwertig erscheinen. Für Leiß stellen Utopie und Postmodernismus allerdings nur scheinbar einen Widerspruch dar. Letzterer hat in ihren Augen durchaus utopische Qualitäten, denn das »Motiv des Postmodernismus Lyotardscher Prägung ist […] das Streben nach Gerechtigkeit« (S. 111). Ziel ist dabei keineswegs die Auflösung oder Aussöhnung der widerstreitenden Positionen, sondern ein Aushalten der Widersprüche. Eine derart verstandene postmodernistische Utopie kann im Gegensatz zur klassischen Utopie, die sich meist als fertiges Gebilde präsentiert, somit nie abgeschlossen sein; vielmehr würde »das Erreichen des Ideals das Scheitern der Utopie bedeuten« (S. 116).

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Utopie und Postmodernismus als formale Kategorien

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Diese Ausgangslage mag sich arg theoretisch und abstrakt anhören, Leiß gelingt es aber, ihre Fragestellung in handhab- und nachvollziehbare Kategorien zu fassen, da sie ihre zentralen Konzepte primär als formale versteht, die sich an konkreten Merkmalen im Text festmachen lassen. Dabei hebt sie für die Utopie das Zweiweltenmodell hervor: Grundlegend ist die »Kontrastierung zweier Gesellschaftssysteme W1 und W2, wobei W1 das fiktionale Pendant jener Gesellschaftsordnung W0 ist, die den sozio-politischen Entstehungskontext der Utopie bildet, während der alternative Gegenentwurf W2 als Vergleichsmaßstab und Katalysator für die kritische Beurteilung dieser Ordnung dient« (S. 74). Die Gegenüberstellung der beiden fiktionalen Welten W1 und W2 spiegelt also gewissermaßen auf die reale Welt W0 zurück.

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Auch Postmodernismus versteht die Autorin in erster Linie nicht inhaltlich; das bloße Thematisieren oder Befürworten postmodernistischer Ideen macht einen Text noch nicht zu einem postmodernistischen. Als Schreibweise zeichnet sich der Postmodernismus gemäß Leiß dadurch aus, dass der Widerstreit im Text selbst »auf verschiedenen Ebenen« (S. 248) inszeniert wird, dass sich etwa auf der Ebene der Weltenkonstruktion, der Narration, des Plots oder der Gattungskonventionen unauflösbare Widersprüche manifestieren. Auf diese Weise wird der Leser selbst »mit Widerstreitssituationen konfrontiert« (S. 126) und erhält die Gelegenheit, »sich der Irreduzibilität radikaler Pluralität zu stellen und sich im Aushalten des Widerstreits zu üben« (S. 126). Der Text fungiert auf diese Weise als eine Art postmodernistisches Trainingslager. Hier liegt auch der Unterschied zwischen der Heterotopie und der Form, die von Tom Moylan als critical utopia bezeichnet wird: Diese in den 1970er Jahren entstehende Variante – Paradebeispiel ist Ursula Le Guins Roman The Dispossessed (S. 1974) – zeichnet sich dadurch aus, dass W2 innerhalb des Roman selbst einer Kritik unterzogen wird. Obwohl die kritische Utopie somit dem universellen Anspruch der klassischen utopischen Entwürfe skeptisch begegnet, inszeniert sie auf der Ebene des Textes keine unauflösbaren Widersprüche.

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Pluralität in Trouble on Triton

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Ein Beispiel für einen derartigen Widerspruch wäre das Verhältnis von W1 und W2 in Peter Ackroyds The Plato Papers (1999); ob die beiden Welten hier zeitlich hintereinander angeordnet – und wenn ja, in welcher Reihenfolge? – oder räumlich übereinander arrangiert sind, lässt sich nicht klären, die entsprechenden Hinweise bleiben bis zum Schluss widersprüchlich. In Herbert W. Frankes Sirius Transit (1979) wiederum besteht für den Protagonisten – und den Leser – keine Möglichkeit eindeutig festzustellen, welche der sich widersprechenden und gegenseitig ausschließenden Passagen »real« sind und welche nur in der virtuellen Welt des Globoramas stattfinden. In Delanys Trouble on Triton dagegen werde mit Triton zwar eine Welt entworfen, »die sich in erster Linie durch Pluralität definiert« (S. 246), ein Widerstreit sei aber nur auf der inhaltlichen Ebene auszumachen – als Gegensatz zwischen Triton und den übrigen Welten. Davon »abgesehen bietet die Lektüre des Romans keine Möglichkeit, sich Widerstreitssituationen auszusetzen« (S. 248).

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Eine ausführliche Darstellung der Forschungslage gehört zu den Pflichtteilen einer Dissertation. Das Erledigen dieser Aufgabe gerät besonders bei deutschsprachigen Publikationen nicht selten zum langfädigen Dar- und Widerlegen von Konzepten, die für die eigentliche Untersuchung letztlich nur geringe Relevanz besitzen. Leiß meistert diese Herausforderung vergleichsweise elegant und versucht gar nicht erst, die beiden riesigen Forschungsfelder umfassend darzustellen. So bleibt etwa der im deutschsprachigen Raum breit rezipierte Politologe Richard Saage unerwähnt. Man mag dies kritisieren, doch entspricht dies der Logik der explizit literaturwissenschaftlichen Ausrichtung von Leißʼ Untersuchung und erspart dem Leser unnötigen Ballast. Zwei Unterlassungen überraschen dann aber doch: Marvin Chladas Heterotopie und Erfahrung 3 hat zwar einen anderen, stärker an Foucault ausgerichteten Fokus als Leiß, als einzige umfangreichere deutschsprachige Abhandlung zur Heterotopie müsste sie aber zumindest genannt werden. Dass Fredric Jameson, der sich sowohl als Theoretiker der Postmoderne als auch als Utopieforscher hervorgetan hat (zuletzt in Archaeologies of the Future) 4 , mit keinem Wort erwähnt wird, erstaunt ebenfalls. Dessen marxistischer Ansatz, der mehr als politische Gesellschaftsanalyse denn als Untersuchung literarischer Texte gedacht ist, hat zwar ebenfalls wenig mit Leißʼ Forschungsinteresse gemein, eine Fußnote wäre er aber wohl doch wert gewesen.

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Zum Verhältnis von Eutopie und Dystopie

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Leißʼ Definitionen der Utopie und des Postmodernismus sind sicher nicht unangreifbar, und zumindest bei der Frage, ob die klassische positive Utopie, die Eutopie, immer einen positiven Gegenentwurf darstellt, überzeugt ihre Argumentation nicht völlig. Die Feststellung, dass die Bewertung von W2 oft widersprüchlich ausfällt – auch innerhalb der Fiktion –, ist zweifellos korrekt. Bereits in Morusʼ Utopia (1516) sind offensichtlich nicht alle Einrichtungen der Utopier als ernst gemeinte Verbesserungen gedacht. Leiß weist auch zu Recht auf die Nähe von Utopie und Satire hin; ein Feld, das leider noch viel zu wenig erforscht wurde. Dass die »Klassifizierung utopischer Texte als eutopisch beziehungsweise dystopisch […] nur im Modus eines Mehr-oder-Weniger« erfolgen kann (S. 56), scheint mir aber für viele Dystopien nicht zuzutreffen. Dass es nur wenige Leser gibt (und gab), die in Utopia oder Campanellas Sonnenstaat leben möchten, ist wohl richtig; dass es umgekehrt aber Menschen gibt, denen die Welten von Orwells Nineteen-Eightyfour (1949) oder Huxleys Brave New World (1932) als attraktive Alternativen erscheinen, möchte ich doch bezweifeln. Oder anders gesagt: Ungeachtet ihrer Mehrdeutigkeit lassen sich Utopie und Dystopie in der Regel eben doch deutlich auseinanderhalten.

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Aufs Ganze gesehen sind das aber verzeihliche Schwächen. Insgesamt wissen Leißʼ Definitionen zu überzeugen; sie sind präzise, in sich schlüssig, und ihre Herleitung fällt erfreulich verständlich aus. Vor allem aber erweisen sie sich als brauchbare Kriterien für die konkrete Textanalyse. Leiß macht nie den Fehler, sich im Nebel vager theoretischer Konstrukte zu verlieren; eine Gefahr, die bei ihren beiden zentralen Konzepten auf Schritt und Tritt droht.

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Da ich zu meiner Schande gestehen muss, dass ich den Großteil des untersuchten Korpus nicht gelesen habe, kann ich zur eigentlichen Analyse, dem zentralen Teil der Untersuchung, relativ wenig sagen. Neben den bereits erwähnten Titeln führt Leiß Murakimi Harukis Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt (1985) sowie Alban Nikolai Herbsts Thetis. Anderswelt (1998) als Beispiele für Heterotopien an. Grenzfälle, die neben Trouble on Triton genauer diskutiert werden, sind Lanark. A Life in Four Books (1981) von Alasdair Gray, Der junge Mann (1984) von Botho Strauß sowie Thomas Lehrs 42 (2005). Soweit ich es beurteilen kann, sind Leissʼ Ausführungen fundiert und schlüssig. Störend ist einzig eine gewisse Redundanz, die allerdings ein typisches Merkmal der Textform Dissertation darstellt: Da sich die Analysen stets um die Frage drehen, ob ein gewisser Text als Heterotopie im Sinne von Leiß gelten kann, werden deren Merkmale wieder und wieder aufgeführt. Insgesamt ist die Studie aber erfreulich klar und leserfreundlich geschrieben.

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Fazit

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Das Ansinnen, eine neue Gattung zu entdecken, ist häufig Ausdruck eines naiven Gattungsverständnisses. Denn Gattungen sind keine platonischen Wesenheiten, die da draußen existieren und nur darauf warten, von einem fleißigen Forscher erlegt und präpariert zu werden, sondern diskursive Erscheinungen, die im Gebrauch entstehen und sich verändern. Leser und Autor treten jeweils mit einem bestimmten Gattungsbewusstsein an einen Text heran, einem Bewusstsein, das sich mit jeder Lektüre weiterentwickelt und wandelt. Nun ist es wohl unbestritten, dass ein solches Bewusstsein für eine Gattung namens »Heterotopie« – zumal im Sinne von Leiss – (noch) nicht existiert. Leiß macht denn auch deutlich, dass die Heterotopie »konstruiert werden muss« (S. 125) und für sie in erster Linie die Funktion eines analytischen Werkzeugs besitzt. Ihr geht es keineswegs darum, eine in freier Wildbahn existierende Gattung, von der noch niemand wusste, aufzuspüren; ihre Untersuchung hat vielmehr zum Ziel zu klären, ob und wie sich postmodernistische Schreibweisen in der Tradition der Utopie niedergeschlagen haben. Dass es für diese Spielart der Utopie, die erst einmal wie eine Contradictio in Adjecto erscheint, tatsächlich Beispiele gibt, dürfte sie mit ihrer sorgfältigen Untersuchung belegt haben; ob sich für diese Form der Utopie der Begriff Heterotopie etablieren wird, ob für das Konstrukt dereinst ein Gattungsbewusstsein existiert, wird sich freilich erst weisen müssen.

 
 

Anmerkungen

Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Aus dem Französischen übers. von Ulrich Köppen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974 (Original: Les mots et les choses. Paris 1966), S. 20.   zurück
Zum Beispiel bei Tom Moylan: Demand the Impossible: Science Fiction and the Utopian Imagination. London: Routledge 1986. Und Darko Suvin Darko: „Locus, Horizons, and Orientation: The Concept of Possible Worlds as a Key to Utopian Studies. In: Utopian Studies 1/2 (1990), S. 69–83.   zurück
Marvin Chlada: Heterotopie und Erfahrung. Abriss der Heterotopologie nach Michel Foucault. Aschaffenburg: Alibri 2005.   zurück
Fredric Jameson: Archaeologies of the Future. The Desire Called Utopia and other Science Fictions. London / New York: Verso 2005.   zurück