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Das Mittelalter hört (noch immer) nicht auf:

der neue Boom der Mittelalterrezeptionsforschung und ihrer Schwestern

  • Mathias Herweg / Stefan Keppler-Tasaki (Hg.): Rezeptionskulturen. Fünfhundert Jahre literarischer Mittelalterrezeption zwischen Kanon und Populärkultur. (Trends in Medieval Philology 27) Berlin [u.a.]: Walter de Gruyter 2012. VII, 447 S. zahlr. Abb. EUR (D) 149,95.
    ISBN: 978-3-11-026498-2.
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Das Mittelalter hört nicht auf – so hieß vor ein paar Jahren ein ziemlich breit inner- und außerhalb der Fachhistorie zur Kenntnis genommenes Büchlein des Zürcher Mediävisten Valentin Gröbner. 1 Es ist nur ein besonders prominenter unter zahlreichen Titeln der letzten Jahre.

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In ganz auffälliger Weise ist offenbar die Frage, welche Rolle das Mittelalter in der modernen Erinnerungskultur zwischen Hochliteratur und Mittelaltermarkt spielen kann, wieder en vogue. Nachdem sich in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren einige einschlägige, hauptsächlich literaturwissenschaftliche Bände mit dem Thema befasst haben, 2 ist es bis vor wenigen Jahren vergleichsweise ruhig darum geworden. Lediglich Otto Gerhard Oexle und einige andere haben ziemlich konsequent die Notwendigkeit des Mittelalters für das Selbstbild der Moderne weiter betont. 3 Nun schießen die Tagungen und entsprechenden Begleitpublikationen wieder aus dem Boden. Der (Rück-)Blick auf die Art und Weise, wie unsere und andere Generationen auf das Mittelalter zurückblickten, und wie dieser Rückblick ihre je eigene Gegenwart prägte, hat sich zu einer wenn nicht Kern-, so doch bedeutsamen Frage des Selbstverständnisses moderner europäischer Kultur gemausert.

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20 mal (Rück-)Blick auf den Rückblick

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Die insgesamt zwanzig Beiträge des Bandes sind unter drei chronologische und eine systematisch abgegrenzte Sektion gruppiert. Sie einzeln eingehend zu besprechen, ist hier nicht der Ort. Stattdessen sollen sie zunächst nur ganz kurz inhaltlich zusammengefasst werden, um ein Gesamtbild der behandelten Themen zu vermitteln.

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Die erste dieser Sektionen behandelt ein Feld, das noch vergleichsweise wenig unter der expliziten Perspektive der Mittelalterrezeption behandelt worden ist, nämlich die Literatur der Frühen Neuzeit. Insbesondere Johannes Klaus Kipfs Beitrag zur Frage »Wann beginnt im deutschen Sprachraum die Mittelalterrezeption?« (S. 15–49) gibt einen spannenden, thesensatten Aufriss, an dem man sich zukünftig wird immer wieder auch kritisch abarbeiten können. Die beiden Größen, mit denen er dabei operiert, versuchen das gemeinhin unterstellte »Epochenbewusstsein« 4 der nachmittelalterlichen Zeit näher auszudifferenzieren, nämlich im Blick auf ein »Bewusstsein sprachlicher Alterität« und ein »Bewusstsein historischer Distanz« (S. 34).

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Die zweite Sektion gruppiert Aufsätze, die sich mit Texten der Romantik und des Historismus auseinandersetzen. Sie ist nicht von ungefähr die umfangreichste, ist doch gerade diese Zeit eine Hochphase des (häufig affirmativen) Rückbezugs auf das Mittelalter. Neben vor allem Personal- und Werkstudien – unter anderem interessante Studien zu Eichendorff (Antonie Magen, S. 151–165), Walter Scott und Freytag (Stefan Keppler-Taskai, S. 185–209) und zur Forschungsgeschichte des Tristan (Johannes Dickheut, S. 248–268) – findet sich hier ein sehr lesenswerter Beitrag von Nathanael Busch über die »Logik des Altdeutschen« (S. 226–247), der elegant die Ideologie der ›guten alten Zeit‹ aufgreift.

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In der dritten Sektion werden Mittelaltermotive und -imaginationen in unterschiedlichen Medien der klassischen Moderne und der Postmoderne aufgegriffen. Neben der Literatur spielt hier vor allem der Film, aber auch das Computerspiel eine wichtige Rolle. Christine Knusts Beitrag zu Ken Folletts beiden Erfolgsromanen »Die Säulen der Erde« und »Die Tore der Welt« (S. 308–327) arbeitet schon im Titel mit »Historische[r] Realität«, obschon die Verfasserin sich im Folgenden dann alle Mühe gibt festzuhalten, es ginge eben nicht darum, Anachronismen und vermeintliche ›Fehler‹ zu bemäkeln. Wer als Referenzgröße »Historische Realität« aufmacht, begibt sich allerdings fast zwangsläufig zumindest in einen gefährlich nahen Diskurs.

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Die vierte Sektion schließlich zieht eine eher systematische denn chronologische Schneise, behandelte sie doch »Zugriffe der Jugendliteratur und Didaktik« – und bietet dafür neben einer Langzeitstudie zu »Ritterdarstellungen aus vier Jahrhunderten Kinder- und Jugendliteratur« (Sebastian Schmideler, S. 383–410) eine Studie zur Artuslegende in im Wesentlichen gegenwärtigen Kinder- und Jugendbüchern (Iris Mende, S. 411–424). Am Schluss stehen einige interessante Befunde und daran anschließende Überlegungen der Literaturdidaktikerin Ina Karg zur Vermittlung mittelalterlicher Stoffe im Deutschunterricht beider Sekundarstufen (S. 425–441).

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Soweit in aller Kürze zu den behandelten Themen. Erwartungsgemäß schwanken Anspruch und Qualität der einzigen Beiträge untereinander; das unterscheidet diesen nicht von anderen Sammelbänden. Das Panoptikum von Mittelalterbildern, -bezügen und -benutzungen ist insgesamt breit, zum Teil ein wenig selbstgenügsam-deskriptiv, zum Teil aber auch durchaus innovativ.

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Mittelalterrezeption – Mediävalisierung – Mediävalismen

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Man wird freilich sehr grundsätzlich fragen dürfen, ob der etwas in die Jahre gekommene Begriff ›Mittelalterrezeption‹ ein noch immer zielführender für die Erforschung der erinnerungskulturellen Funktion und kulturgeschichtlichen Bodensätze des Mittelalters sein kann, auf die sich die Herausgeber in ihrer Einleitung zu Recht immer wieder berufen. Zunächst einmal hat der Begriff fraglos eine inklusive Funktion: Man kann mit ihm Phänomene der Umarbeitung mittelalterliche Stoffe in der Frühneuzeit ebenso erfassen wie Playmobilritter aus den späten 1980er Jahren. Zugleich aber zeigt sich damit – und das muss man auch dem vorliegenden Band in gewisser Weise anlasten – seine Schwäche: er ist nämlich in hohem Maße unspezifisch.

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Theoretisch unhintergehbar bleibt dabei ein epistemologisches Problem: mit der Untersuchung von ›Rezeptions-‹Phänomenen wird nämlich ein hinter dieser Rezeption stehendes reales Rezeptionsobjekt vorausgesetzt, an dem sich die Ausdrucksformen, mithin die Qualität – horribile dictu: die ›Authentizität‹! – der Rezipierenden könnte messen lassen. Und dieser Anspruch, der von den Herausgebern durchaus nicht intendiert worden ist, aber bei der theoretischen Grundierung als Rezeptionsgeschichte oft gefährlich nahe liegt, ist ja zu Recht schon lange als unproduktiv verworfen worden. Als »eingeführter Begriff und Umbrella Term, der der Auslegung bedarf« (S. 2), verorten Mathias Herweg und Stefan Keppler-Tasaski »Mittelalterrezeption« jenseits einer bloßen Wirkungs- oder Motivgeschichte, um neben dem explizit-distanzierten Rückgriff auf das Mittelalter auch dessen implizite Nachwirkungen in den Blick zu bekommen. Diese Weitung wollen die Herausgeber mit dem neu eingeführten Kompositum »Rezeptionskulturen« einfangen, das auf die Einbettung einzelner Rezeptionsprozesse in größere kulturell bedingte Kontexte und Vorstellungswelten abhebt. Der so umrissene breite Rezeptionsbegriff von Herweg und Keppler-Tasaki will also neben den rezeptiven vor allem auch die imaginativen Dimensionen mit einschließen, wie der hier leider nicht bemühte Ludolf Kuchenbuch das vor einigen Jahren noch sehr treffend in seinem Beitrag im Handbuch der Kulturwissenschaften formuliert hat. 5 Das leuchtet insgesamt fraglos erst einmal ein.

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Umso mehr irritiert dabei aber, dass erinnerungskulturelle Forschungen mit Bezug auf das Mittelalter außerhalb der eigenen Disziplin, namentlich also der Germanistik, offenbar kaum (vgl. den kurzen Hinweis auf S. 6) bis gar nicht zur Kenntnis genommen worden sind. Und zwar nicht einmal nur neuere, sondern auch die Klassiker: Norman F. Cantors Inventing the Middle Ages wird in der Einleitung mit einer Fußnote immerhin gestreift; 6 aber: keine Carolyn Dinshaw, keine Katheleen Biddick, die in jeder neueren angloamerikanischen Arbeit zum Thema auftauchen würden. 7 Gerade die schon seit mehreren Jahrzehnten sehr rege medievalism-Forschung in Großbritannien und den USA 8 wird mit so auffälliger Konsequenz ausgeblendet, dass man dahinter beinahe eine bewusste Entscheidung vermutet. Wenn dem so ist, hätte aber eine Begründung oder wenigstens ein kurzer Hinweis darauf sicher manche Verwirrung vermeiden können. Gerade das – leider ebenfalls im Band an keiner Stelle erwähnte – jüngst noch inaugurierte und sehr ambitionierte Zeitschriftenprojekt Postmedieval scheint große Nähen zu dem neu eingeführten Begriff der »Rezeptionskulturen« zu zeigen. 9 All dieses Potenzial wird, so hat es den Anschein, grosso modo verschenkt.

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Nur Jutta Schloon bezieht sich in ihrem Beitrag über Stefan George (S. 289–307) überhaupt explizit auf den – dann eingedeutschten – Begriff »Mediävalismus«; Bastian Schlüter nimmt in seinem Beitrag über »Mittelalterbilder und Geschichtsdenken in der Klassischen Moderne« (S. 271–288) immerhin Oexles in dieser Hinsicht einschlägige Forschungen zur Kenntnis. Ganz neu eingeführt wird schließlich der seltsame Begriff »Mediävalisierung«, der ohne genaue Konturierungen offenbar konträr zu der – freilich auch noch lange nicht etablierten – Eindeutschung des – dagegen umso mehr etablierten – anglophonen medievalism läuft, ohne dass das irgendwo explizit gemacht oder problematisiert werden würde (vgl. Herwegs eigenen Beitrag, S. 136 ff.)

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Insgesamt bleibt man mit dem Rezeptionsbegriff aber vor allem stark disziplinär verortet – was natürlich durchaus nicht von sich aus schlecht ist. Mitunter kann es auch heilsame Effekte haben, sich den vorgetrampelten Pfaden der Mediävalismus- und Mittelalter&Moderne-Forschung zu entziehen und ganz andere, von anderen Ansätzen inspirierte Wege zu gehen. Positiv herauszuheben ist in diesem Zusammenhang etwa der Beitrag von Andrea Sieber (S. 366–379), die sich zwar ebenfalls nicht expressis verbis einem mediävalistischen Forschungszusammenhang verschreibt, dafür aber sehr selbständig und inspirierend medienästhetisch argumentierend für die Erforschung genau jener imaginativen Dimension moderner Mittelalterbilder plädiert, die das Forschungsprogramm »Mediävalismus« sich vorgenommen hat.

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20 mal Rezeptionskulturen: ein Florilegium

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Wollte man den Band als Ganzes bewerten, könnte man etwas kokett mediävalisierend sagen: er ist ein Florilegium. Die versammelten Beiträge sind sowohl thematisch als auch in ihrer Zugriffsweise ausgesprochen unterschiedlich; die Sektionen ordnen durch ihren sehr groben chronologisch-systematischen Charakter eher als dass sie Konzeptionelles leisten könnten – das wäre sicher auch ein überhöhter Anspruch, gerade an einen Tagungsband. Das alles ist nicht dramatisch, im Gegenteil: eher die Regel, und torpediert noch nicht die fruchtbare Lektüre der Einzelbeiträge. Problematischer scheint, dass mit einem neuen theoretischen Konzept und damit einhergehenden Anspruch operiert wird. Der wiederum wird nämlich von den einzelnen Beiträgen nicht konsequent genug verfolgt. Es fehlt über weite Strecken an Rückgriffen auf die konzeptionell-theoretische Grundierung, auf die man die Beiträgerinnen und Beiträger – ganz gleich, ob zustimmend oder kritisch distanzierend – deutlicher hätte verpflichten müssen.

 
 

Anmerkungen

Valentin Groebner: Das Mittelalter hört nicht auf. Über historisches Erzählen, München 2008.   zurück
Erinnert sei nur an Peter Wapnewski (Hrsg.): Mittelalter-Rezeption. Ein Symposium, Stuttgart 1986 oder die Tagungsbände der vier »Internationalen Symposien zur Mittelalter-Rezeption« (die ersten drei in Salzburg, das vierte in Lausanne), erschienen unter dem Titel: Mittelalter-Rezeption, Bd. 1–4, Göppingen 1979–1991.   zurück
Aus den ziemlich umfangreichen Forschungen in dieser Richtung vgl. nur Otto Gerhard Oexle: Das entzweite Mittelalter, in: Gerd Althoff (Hg.): Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter, Darmstadt 1992, S. 7–28 oder ders.: ›Das Mittelalter‹. Bilder gedeuteter Geschichte, in: János M. Bak (Hrsg.): Gebrauch und Missbrauch des Mittelalters, 19.-21. Jahrhundert, München 2008, S. 21–44.   zurück
Dieser Begriff geht hier wohl maßgeblich zurück auf Jan-Dirk Müller: »Alt« und »neu« in der Epochenerfahrung um 1500. Ansätze zur kulturgeschichtlichen Periodisierung in frühneuhochdeutschen Texten, in: Walter Haug, Burghart Waching (Hrsg.): Traditionswandel und Traditionsverhalten, Tübingen 1991, S. 121–144.   zurück
Ludolf Kuchenbuch: Mediävalismus und Okzidentalistik. Die erinnerungskulturellen Funktionen des Mittelalters und das Epochenprofil des christlich-feudalen Okzidents, in: Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1, Stuttgart 2004, S. 490–505.   zurück
Norman F. Cantor: Inventing the Middle Ages. The Lives, Works and Ideas of the Great Medievalists of the Twentieth Century, New York 1991.   zurück
Carolyn Dinshaw: Getting Medieval. Sexualities and Communities, Pre- and Postmodern, Durham/London 1999; Kathleen Biddick: The Shock of Medievalism, Durham 1998.   zurück
Vgl. nur die regelmäßigen Bände der Reihe This Year’s Work in Medievalism sowie der Medievalism Studies, die von der entsprechenden Society (http://www.medievalism.net) herausgegeben werden.   zurück