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Die monolinguale Norm und ihre Durchkreuzung

Studien zu Kafka, Adorno, Tawada, Özdamar und Zaimoglu

  • Yasemin Yildiz: Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition. New York: Fordham University Press 2012. 292 S. Hardcover. EUR 40,30.
    ISBN: 978-0-8232-4130-9.
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Der Monolingualismus, der als eine der prägenden kulturellen Ordnungen mit der modernen Nationsbildung einherging, scheint derzeit in eine Krise geraten zu sein. Angesichts veränderter Kommunikationsformen, globaler Migrationsbewegungen und der Bedeutung des Englischen als lingua franca verlieren standardsprachliche Normierungen an Verbindlichkeit. Code-switching und Mehrsprachigkeit im Sprachalltag stehen institutionell gestützten Formen einer bevorzugt zu gebrauchenden einheitlichen Hochsprache gegenüber.

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Yasemin Yildiz, Assistent Professor of German an der University of Illinois, nimmt diese aktuelle Bewegung zum Anlass, um in ihrer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Studie über Normierungen und Institutionalisierungen der Einsprachigkeit und die literarischen Möglichkeiten zu deren Durchkreuzung nachzudenken. Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition setzt dabei bewusst beim problematischen Begriff der Muttersprache ein, dessen Prägekraft auch noch dort spürbar ist, wo es eigentlich um die Überschreitung der Idee einer unhinterfragbaren, quasi angeborenen, sprachlich determinierten Zugehörigkeit geht. Um diese Spannung zwischen der Abarbeitung an herkömmlichen sprachlichen Identitätskonzepten einerseits und dem Entwurf neuer, multilingual strukturierter Ordnungen andererseits beschreiben zu können, schlägt Yildiz die Wendung ›postmonolingual‹ vor. Erfasst werden soll damit erstens der historische Bruch mit der monolingualen Norm, der sich gegenwärtig abzeichnet. Zweitens ein kritischer Umgang mit den Konzepten Monolingualismus und Muttersprachlichkeit, ein Aufbegehren gegen deren Normierungskraft, Ein- und Ausschlusslogiken, die sich in gegenwärtigen ebenso wie in früheren Texten finden lässt.

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In insgesamt fünf Kapiteln zeigt Yildiz textnah bestimmte Praktiken eines solchen ›postmonolingualen‹ Schreibens am Beispiel je eines Autors auf. Behandelt werden Franz Kafka, Theodor W. Adorno, Yoko Tawada, Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoğlu. Während die drei Gegenwartsautoren und Kafka für die Thematik einschlägig und dementsprechend in der Diskussion um Formen literarischer Mehrsprachigkeit omnipräsent sind, ist es ein besonderes Verdienst der Studie, mit Adornos Reflexionen zu Fremdwörtern in diesem Zusammenhang noch kaum beachtete Texte ins Gedächtnis zu rufen.

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Franz Kafka und die Einsprachigkeit des anderen

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Unter dem Titel »The Uncanny Mother Tongue« greift Yildiz mit Franz Kafka und Prag zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen zentralen Topos in der Diskussion um ›minoritäre Literaturen‹ auf, nämlich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Sprache und Nationzugehörigkeit, beziehungsweise nach den Aporien deutsch-jüdischer Literatur. 1 Für die Untersuchung nationaler und sprachlicher Zugehörigkeiten bietet sich Prag auch als Teil des multilingual geprägten Staatsgebildes Österreich-Ungarn sowie der Ersten Tschechoslowakischen Republik an.

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Anhand von Kafkas Auseinandersetzung mit dem Jiddischen, insbesondere in seiner Rede über den Jargon von 1912, verortet Yildiz Kafkas Beschäftigungen mit dem Deutschen als einer familiären und zugleich unheimlichen Sprache im Kontext zeitgenössischer antisemitischer Diskurse, die auf den Ausschluss von Juden aus der deutschen Sprache und Kultur abzielen. Derridas Ausführungen zum Monolingualisme de l’autre folgend, zeigt die Verfasserin, wie auch Kafka die Verfügbarkeit von Sprache überhaupt als eine illusorische, selbst für ihre scheinbar legitimen Besitzer, enttarnt. Auf diese Weise werde auch in seinen auf den ersten Blick monolingual strukturierten Texten die Spuren für ein »multilingual paradigm for a postmonolingual age« (S. 65) gelegt.

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Theodor W. Adorno und die Fremdwörter

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Ausgehend von Adornos Aufsätzen »Über den Gebrauch von Fremdwörtern« aus den 1920ern, Wörter aus der Fremde von 1959 sowie dem Aphorismus »Fremdwörter sind die Juden der Sprache« aus den minima moralia widmet sich die Verfasserin der Kategorie des ›Fremdwortes‹. Höchst verdienstvoll nimmt sie so eine Wortkategorie in den Blick, die kulturhistorisch und literaturwissenschaftlich bislang noch viel zu wenig Beachtung erfahren hat. In einer knappen Übersicht über die Diskussionen um das Fremdwort seit dem 17. Jahrhundert zeigt Yildiz, dass gerade hier Zugehörigkeiten, Deutschsein und Fremdheit innerhalb der deutschen Sprache beziehungsweise der deutschen Kultur verhandelt wurden. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert verbanden sich Fremdwortdiskussionen auch mit antisemitischen Ausschlussmechanismen.

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Vor diesem Kontext wird Adornos Auseinandersetzung mit Fremdwörtern als Auseinandersetzung mit dem Deutschen vor und nach dem Holocaust gelesen. Yildiz zufolge ist dabei gerade das Fremdwort der Ort, der es Adorno erlaubt, seine Bindung an die deutsche Sprache auch nach Auschwitz nicht aufzugeben. Adorno nütze so die von ihm konstatierte spezifische Spannung in der deutschen Sprache produktiv für das eigene Schreiben. Seine Bindung an das Deutsche funktioniere dabei gerade nicht über die Idee muttersprachlicher Zugehörigkeit, sondern über die Erfahrung der Ausstoßung. In diesem Sinne, so Yildiz, lässt sich der Aufsatz von 1959 auch als eine Reflexion zur deutschen Sprache, zum deutsch Schreiben nach dem Holocaust lesen. Während im früheren Essay die Fremdwörter ein utopisches und erotisches Versprechen bergen, lassen ebendiese im späteren Aufsatz die deutsche Sprache als Gräberfeld erscheinen. Sie sind so Orte des Gedenkens an die ermordeten Juden, verbunden mit einer schwachen, hoffnungslosen Hoffnung: »Hoffnungslos wie Totenköpfe warten die Fremdwörter darauf, in einer besseren Ordnung erweckt zu werden.« 2

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Schreiben in einer globalisierten »linguascape«

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Globale Bewegungen, neue Informations- und Transporttechniken haben in der Gegenwart auch ein neues framework für die Zirkulation von Sprachen geschaffen. Generiert wurde eine, wie Yildiz es nennt, linguascape, in der neue Formen von Sprachkontakt und -mischung entstehen und literarisch genutzt werden können. In drei Kapiteln werden mit Tawada, Özdamar und Zaimoğlu drei Autoren vorgestellt, die diese Zirkulation von Sprache(n) auf neue Weise inszenieren und sich dabei auf unterschiedliche Weise auch mit der Idee der ›Muttersprache‹ kritisch auseinandersetzen.

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Das Kapitel zu Tawada ist eher kursorisch und setzt gegenüber der in den letzten Jahren rasant angewachsenen Sekundärliteratur zu der Autorin keine neuen Akzente. Anders die beiden gelungenen Kapitel zu Özdamar und Zaimoğlu, die ausgesprochen lesenswert sind.

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Für alle drei Kapitel aber muss Yildiz‘ vertiefte Kenntnis postkolonialer Sprach- und Literaturstudien positiv hervorgehoben werden, die sie gerade davon abhält, deren Paradigmen unbesehen für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur zu übernehmen. Bestimmte literarische Techniken, wie die buchstäbliche Übersetzung, finden sich zwar auch im postkolonialen Kontext, wo sie als Möglichkeit gelesen werden, in der kolonisierenden Sprache die kolonisierte sichtbar werden zu lassen. Insgesamt gilt aber, dass es etwa in der sogenannten deutsch-türkischen Literatur nicht um die Anverwandlung einer Sprache geht, die in einem Akt der Kolonisation gewaltsam aufoktroyiert wurde. Vielmehr geht es um die Einforderung eines Rechts auf eine Sprache, von der eine gesamte Gruppe – in diesem Falle jene der türkischen Einwanderer und ihrer Nachkommen – mit dem Argument ausgeschlossen wird, sie seien nicht deutscher Muttersprachler.

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Anstelle von Hybridisierungsprozessen lenkt Yildiz den Blick auf einzelne Texte als Antwort auf ein internes ›Othering‹ durch die deutsche Gesellschaft und die Benutzung von einzelnen Bevölkerungsgruppen als kollektive Projektionsfläche für diffuse Ängste. Dabei treten auch die noch immer viel zu wenig beachteten intertextuellen Bezüge der sogenannten interkulturellen Literatur auf Autoren wie Lasker-Schüler, Heine, Brecht, Kafka und Hilde Domin in den Blick. Yildiz verweist hier darauf, dass Özdamar, Tawada und andere so an ein ›anderes‹, nicht national-ethnisch determiniertes Deutsch und dessen Literaturtradition, in erster Linie jüdischer Provenienz, anknüpfen.

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Emine Sevgi Özdamar: Sprachwechsel als Traumatherapie

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In ihrer Diskussion von Özdamars Texten stellt Yildiz zunächst eine genaue Untersuchung der Technik der buchstäblichen Übersetzung in den Vordergrund, über die Özdamar aus dem Türkischen deutsche Neologismen schafft. Yildiz sieht darin eine Korrespondenz zu dem von Adorno entworfenen Schreiben mit Fremdwörtern. Im Unterschied zu Adorno schaffe Özdamar aber durch die Bildung von Neologismen gezielt neue Fremdwörter. Yildiz These zufolge geht es hier nicht so sehr um eine Aneignung des Deutschen vor dem Hintergrund einer anderen Muttersprache sondern darum, im Umweg über die andere Sprache einen Weg zu finden, um die in der Muttersprache selbst erlebte Gewalt zu artikulieren und zu überwinden.

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Özdamar begreift die Schaffung des modernen Türkisch als monolinguale, nach westlichem Vorbild normierte Sprache durch Atatürk als gewaltsamen Eingriff: »[...] a cut that makes the written archive of a nation inaccessible to its subsequent citizens. Parts of cultural memory are deliberately cut off and oblivion deliberately produced […]« (S. 152).

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Den bei Özdamar thematisierten Verlust der »Mutterzunge« führt Yildiz dann auch auf diesen historischen Eingriff zurück. In der Migration nach Deutschland und der dabei gemachten Erfahrung von Entortung und Sprachlosigkeit werde dieses Trauma reaktualisiert. Yildiz zeigt überzeugend, wie durch die Begegnung mit einer neuen Sprache und die Erfahrung der Unzugehörigkeit zu dieser Sprache auch traumatische Erlebnisse des Ausschlusses und der Gewalt in der Muttersprache selbst wieder wach gerufen werden. Der Sprachwechsel und die Technik der buchstäblichen Übersetzung würden bei Özdmar eingesetzt, um traumatische Erinnerungen verfremdet zu geben und sie gleichzeitig in einer neuen Sprache durchzuarbeiten.

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Feridun Zaimoğlu und die »lingua franca« männlicher Minorität

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Yildiz‘ letztes Kapitel ist Feridun Zaimoğlus Kanak Sprak gewidmet. Der Text wird sowohl mit Blick auf die soziologische Situation der Kinder von türkischen Einwanderern in Deutschland als auch mittels Untersuchungen zu neuen Slang-Bildungen in europäischen Metropolen und deren künstlerischer Anverwandlung analysiert.

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Vor allem ist es aber der geschlechterkritische Ansatz, der Yildiz‘ Lektüre von Zaimoğlu auszeichnet. Ausgehend von der Beobachtung, dass im »synthetic vernacular« (S. 173) von Kanak Sprak ausgerechnet das Türkische absent ist, entfaltet Yildiz die These, dass hier eine motherless tongue geschaffen werden soll. Die Entscheidung, mit dem Türkischen gerade jene Sprache wegzulassen, die gemäß dem Muttersprachen-Paradigma bei einem Autor mit türkischem Namen vermutet wird, kann zunächst als Durchkreuzung dieser Erwartung gesehen werden: Zaimoğlu geht es darum, seine Figuren nicht als Türken, sondern als Angehörige der deutschen Gesellschaft auszuweisen, von der sie aber an den Rand gedrängt werden. Ihre Sprache spiegelt dabei diese faktische Zugehörigkeit bei gleichzeitiger kultureller Abstoßung durch die »Mehrheitsdeutschen« anderen Deutschen wider.

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Gleichzeitig arbeitet Yildiz aber auch eine problematische Dimension der Austreibung des Türkischen aus der Kanak Sprak heraus: Sie sei motiviert durch eine Furcht vor Feminisierung und Homosexualisierung, die mit türkischen Wendungen im Deutschen assoziiert werden könnten (zum Beispiel ›mein Augenlicht‹ als mögliche affektive Anrede auch unter Männern). Vor ihr sollten die männlichen Protagonisten von Kanak Sprak in Schutz genommen werden: »Turkish is correlated with folklore, floweriness, homosocial tenderness, all of which are presented in a negative light. […] Zaimoğlu‘s Kanak aesthetics counter this perceived emasculation with aggressive masculinity« (S. 184 f.).

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Übersetzungsprobleme zwischen den Sprachen sind hier also auch Übersetzungsprobleme kulturell geprägter Größen wie Männlichkeit. Zaimoğlu ›löst‹ diese Problematik, in dem er auf eine global anerkannte Ausdrucksweise sowohl für Männlichkeit als auch für Minorität zugreift: den Hip-Hop. Wie Yildiz sehr überzeugend darlegt, treten die durchgängigen Hip-Hop-Verweise in Kanak Sprak sozusagen anstelle des Türkischen und räumen damit die Gefahr einer Feminisierung der Protagonisten aus, indem diese den männlichen ›Kanak Sprecher‹ als unmissverständlich männlich, aktiv und nicht-orientalisch ausweisen. Leider geht Yildiz in ihrer Argumentation nicht auf das im westlichen Raum ebenfalls sehr präsente Sterotyp des türkischen und arabischen Mannes als »Pascha«, »Macho« und patriarchaler Unterdrücker ein. Möglicherweise soll aber auch dieses Männlichkeitsbild durch Zaimoğlus Übersetzung in die Sprache des Hip-Hops aus dem Weg geräumt werden.

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Für ein Deutsch mit vielen Wohnstätten

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Die Konklusion bietet einen Ausblick auf die Relevanz des Themas für die gegenwärtige Politik und Gesellschaft in Deutschland. Yildiz verweist auf die problematischen staatlichen Kampagnen zum Deutscherwerb und zur Forderung nach einer deutschen, das heißt monolingual strukturierten Leitkultur. Ferner wird betont, dass gerade Mehrsprachigkeit höchst unterschiedlichen Wertungen unterliegt, abzulesen etwa am Enthusiasmus gegenüber der Eröffnung deutsch-englischer Schulen versus den negativen Reaktionen auf eine Einrichtung deutsch-türkischer Schulen. Am Schluss ihres Buches formuliert Yildiz ein Plädoyer gegen ein national oder ethnisch verengtes Verständnis des Deutschen und für dessen Wahrnehmung als eine lingua franca mit ganz verschiedenen Färbungen und Wohnstätten.

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Stärken und Schwächen der Studie

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Insgesamt ist das Buch in seiner Anlage eher heterogen. Es versammelt eine Reihe von Einzelstudien, die untereinander lose verbunden und qualitativ recht unterschiedlich sind. Eine in sich geschlossene Gesamtstudie, wie Titel und die sich programmatisch und thesenreich gebende Einleitung eigentlich versprechen, ist so nicht zustande gekommen. Entgegen des zu Beginn formulierten Anspruchs, ist die historisch-systematische Argumentationslinie wenig ausgearbeitet.

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Die Stärke des Bandes ist zweifelsohne das close reading der Texte von Adorno, Özdamar und Zaimoğlu, das kulturhistorisch eingebettet wird. Ein – wie die obige Zusammenstellung zeigt – gerade bei dieser Thematik äußerst ergiebiger Ansatz, den man allerdings gerne auch als einen solchen ausgewiesen gesehen hätte. Einer Reflexion hätte in diesem Zusammenhang auch die Zusammenbindung ganz unterschiedlicher Textsorten (sprachphilosophisch, essayistisch, literarisch) bedurft.

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So liegen die wesentlichen Schwächen der Studie im methodisch-theoretischen Bereich, im vagen Umgang mit Begriffen, linguistischen und sprachphilosophischen Konzepten sowie einer nicht immer adäquaten Berücksichtigung bestehender Forschungsdiskussionen: Yildiz verzichtet weitgehend auf ausführliche Diskussionen bestehender Forschungsarbeiten und im Literaturverzeichnis fehlt insbesondere der gesamte Bereich der komparatistisch ausgerichteten Romanistik, in dem die Frage nach literarischem Umgang mit Ein- und Mehrsprachigkeit in den letzten Jahren vertieft erforscht wurden, namentlich die Studien von Rainier Grutman, Elke Sturm-Trigonakis und Otmar Ette. 3

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Das Konzept der Muttersprache selbst hätte genauer und systematischer dargestellt werden müssen. Yildiz genügen einige kursorische Verweise auf einzelne Textstellen bei Schelling, Fichte oder Humboldt, um es durchgängig als (negative) Grundlage zu nutzen, von der die untersuchten Texte abweichen.

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Schwer wiegt, dass das Konzept der Nationalsprache und -literatur gänzlich fehlt, über das im 19. Jahrhundert kulturelle Zugehörigkeit, Literatur und Politik programmatisch verknüpft wurden. 4 Für die sprachliche Normierung und Institutionalisierung ebenso wie die nationale Kollektivbildung, die an vielen Stellen des Buches angesprochen wird, ist die Diskussion dieses Konzeptes als Verbindung zwischen der auch als individuell und regional verankert gedachten ›Muttersprache‹ einerseits und dem angeblich gemeinsamen Geist und der Ausdrucksweise eines nationalen Kollektivs andererseits eigentlich unerlässlich.

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Unsystematisch und teilweise vage bleiben insgesamt die historischen Erläuterungen zur Verbindung der deutschen Sprache und ihrer höchst unterschiedlich ausgeprägten Funktion als homogenisierendes Element in den hauptsächlich deutschsprachigen Ländern (Deutschland, Österreich und Schweiz) beziehungsweise als ehemalige lingua franca in den osteuropäischen Gebieten. Gestalt gewinnt im Anschluss an die Studie von Stephan Braese hingegen die Tradition des Deutschen als nicht national determinierte Sprache der europäischen Juden vor der Shoa. 5 Die Entscheidung allerdings, die Literatur jüdischer Autoren so programmatisch mit gegenwärtiger Literatur insbesondere deutsch-türkischer Provenienz zusammenzubinden, hätte man gerne ausführlicher plausibilisiert gefunden. Auch wenn der Ansatz, Juden und türkische Einwanderer beziehungsweise deren Nachkommen über ihre Stellung als internal other innerhalb der deutschen Gesellschaft zu perspektivieren, durchaus valabel scheint.

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Die Monenda sollen aber nicht verdecken, dass mit Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition ein anregendes Buch vorliegt, das einen interessanten Beitrag zu einem sich literatur- und kulturwissenschaftlich gerade konturierenden Forschungsfeld leistet.

 
 

Anmerkungen

Vgl.: Tazuko Takebayashi: Zwischen den Kulturen. Deutsches, Tschechisches und Jüdisches in der deutschsprachigen Literatur aus Prag. Ein Beitrag zur xenologischen Literaturforschung interkultureller Germanistik. Hildesheim: Olms 2005.   zurück
Theodor W. Adorno: »Wörter aus der Fremde«. In: T.W.A: Noten zur Literatur. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 216–232, hier S. 224.   zurück
Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2005; Rainier Grutman: Des langues qui résonnent. L‘hétérolinguisme au 19ème siècle québécoise. Québec: Fides 1997; Elke Sturm-Trigonakis: Global playing in der Literatur. Ein Versuch über die Neue Weltliteratur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007.   zurück
Vgl. Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart: Metzler 1989; Esther Kilchmann: Verwerfungen in der Einheit. Geschichten von Nation und Familie um 1840. München: Wilhelm Fink 2009   zurück
Stephan Braese: Eine europäische Sprache: deutsche Sprachkultur von Juden 1760 – 1930. Göttingen: Wallstein 2010.   zurück