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Die Rückkehr der Autorfunktion

Zwei Sammelbände dokumentieren überzeugend die ‚neue Unaufgeregtheit‘ der Autorschaftsforschung

  • Christel Meier / Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Autorschaft. Ikonen - Stile - Institutionen. Berlin: Akademie 2011. 383 S. 23 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 99,80.
    ISBN: 978-3-05-005108-6.
  • Stephan Pabst (Hg.): Anonymität und Autorschaft. Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 126) Boston, Berlin: Walter de Gruyter 2011. VIII, 375 Seiten S. 4 Abb. Gebunden. EUR (D) 129,95.
    ISBN: 978-3-11-023772-6.
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Die großen Schlachten im Bereich der Autorschaftsforschung scheinen (vorerst) geschlagen: Nach den ›revolutionären‹ Umbrüchen durch die Verkündigung vom »Tod des Autors« 1 in den 1960er Jahren und der Erklärung seiner »Rückkehr« 2 unter neuen theoretischen Vorzeichen in den 1990er Jahren hat sich die Autorschaftsforschung in der jüngsten Zeit ›normalisiert‹ und zu einem methodisch reflektierten, auf literarhistorische wie theoretische Systematisierung, Spezifizierung und Differenzierung zielenden Zweig der Literaturwissenschaft entwickelt, der sich zudem verstärkt um eine interdisziplinäre Ausweitung der Frage nach dem Autor bemüht. Beobachten lässt sich die neue Unaufgeregtheit etwa in der aktuellen Hermeneutik, die sich um eine rational rechtfertigbare Konsolidierung des ›Intentionalismus‹ bemüht, 3 oder auch in der literatursoziologisch perspektivierten Auseinandersetzung mit Phänomenen der ›Autorinszenierungen‹. 4

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Daneben – und dies zeigen, aus je unterschiedlichen Perspektiven, zwei aktuelle und gleichermaßen gewichtige Sammelpublikationen – ermöglicht es die neue Unaufgeregtheit nun auch einen Ansatz zu aktualisieren und zu modifizieren, der in der Vergangenheit hinsichtlich seiner historisch und normativ überspitzen, ja zum Teil auch schlichtweg sachlich falschen Thesenbildung immer wieder heftig kritisiert und infolgedessen häufig in Gänze verworfen wurde – nämlich Michel Foucaults Konzept der ›Autorfunktion‹. 5 Den terminologischen und methodischen Bemühungen Foucaults, die immer wieder verkürzt mit Barthes pathetischer Rede vom ›Tod des Autors‹ zusammengelesen wurden, obgleich sie den Entwurf einer durchaus differenzierten analytischen Methodik entfalten, wird in den hier vorzustellenden Sammelbänden ebenso kritisch wie produktiv Rechnung getragen. Die Kehrseite dieser produktiven Anverwandlung liegt freilich nahe: Denn wo Begriffe in erster Linie funktional definiert werden, droht der Verlust terminologischer Trennschärfe. Auch dies dokumentieren die Bände auf je eigene Weise.

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1. Autorschaft. Ikonen – Stile – Institutionen

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Der von Christel Meier und Martina Wagner-Egelhaaf herausgegebene Sammelband Autorschaft. Ikonen – Stile – und Institutionen geht auf eine gleichnamige Tagung im Jahr 2010 zurück, veranstaltet von der Arbeitsgruppe ›Autorschaft‹ des Münsteraner Exzellenzclusters »Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne«. Der für eine Sammelpublikation dieser Art erstaunlich kohärente Gesamteindruck verdankt sich einer theoretisch und methodisch klar fokussierten Einleitung, die aufgrund ihrer offensichtlichen Anschlussfähigkeit – womöglich über die vorliegende Publikation heraus – eingehendere Aufmerksamkeit verdient.

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Meier und Wagner-Egelhaaf, die neben ihrer Einleitung auch mit Beiträgen zur mittelalterlichen Individualisierung von Autorschaft durch Inspiration als einer »Zuwendung ad personam« (S. 91; Meier) sowie über die zuweilen mit der »Aura des Religiösen« versehenen Dichterfotografien der Gegenwart (S. 362; Wagner-Egelhaaf) vertreten sind, begreifen den Autor als eine »öffentliche Instanz, die zur Ausformulierung und Stabilisierung oder zur Veränderung politischer oder religiöser Ordnungen beiträgt« (S. 16). Explizit auf Foucaults Debattenbeitrag 6 berufen sich die Herausgeberinnen, wenn sie den Autor prinzipiell als »eine diskursive Funktion« (S. 10) begreifen, deren öffentlicher Status die Betrachtung von ›Inszenierungen‹ nahelegt:

[6] 
[E]s sind die Inszenierungsakte, -logiken und -wahrnehmungen, die konstitutiv sind für die Bühnen der Kultur und der Geschichte, auf denen das Schauspiel der Autorschaft stattfindet. (S. 19)
[7] 

Der in der gegenwärtigen deutschsprachigen Autorschaftsforschung hochkonjunkturell verwendete Begriff der ›Inszenierung‹ wird dabei – und diese Position scheint sich zu verbreiten 7 – nicht zwangsläufig mit ›Täuschung‹ gleichgesetzt, sondern soll vielmehr als eine wertfreie, neutrale Kategorie für die Betrachtung des Autors als »mediales Ereignis« dienen (S. 10). 8

[8] 

Der nahe liegenden Kritik an der Beliebigkeit eines dergestalt weit verstandenen Inszenierungsbegriffs wirkt die Einführung dreier »Leitkategorien« (S. 19) entgegen. So richtet sich der Blick zum einen auf den Autor als »Ikone«, das heißt als »öffentliche Leitfigur«, womit zugleich die etymologisch nahen Begriffe der »Autorität« beziehungsweise der »Autorisierung« aufgerufen sind (S. 19); zudem dient der (seinerseits implikationenreiche) Stilbegriff als Analysekategorie, hier in erster Linie verstanden als »Autor-Persönlichkeit, als Habitus«, die erzeugt werden durch »das Auftreten, die Erscheinungsweise« von Autoren (S. 20); schließlich umfasst der Begriff der »Institution« das Verhältnis von Autoren zu politischen und religiösen Machtstrukturen wie auch die selbst- und/oder fremdzugewiesene »auktoriale[ ] Wirkmächtigkeit« von Autoren, die sie bisweilen selbst zur ›Institution‹ werden lassen (S. 20).

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So anschlussfähig sich diese Analyseoptik für die versammelten Beiträge in methodischer Hinsicht erweist, so wenig Wert legt der Band auf einen klar profilierten historischen Zuschnitt; entschieden richtet sich der Blick »über die Epochen« (S. 16) hinweg, woraus sich allerdings bisweilen Reibungseffekte ergeben: So stellt Eckart Conrad Lutz in seinem Beitrag über die Lieddichtung Ulrichs von Liechtenstein die Frage »nach der Angemessenheit (oder Nützlichkeit) von Kategorien wie ›Autorschaft‹ und ›Text‹« im höfischen Sozialkontext, in dem die ›Texte‹ als »Äußerungen unter anderen in einem Diskurs« erscheinen, der gleichberechtigt die »Dichtung, den Umgang mit ihr wie miteinander und das höfische Gespräch« integriert (S. 130 f.). Zwar resümieren die Herausgeberinnen in ihrer einleitenden Beitragsübersicht diese Rückfrage an ihren methodischen Entwurf (vgl. S. 22), ohne sie aber weiterführend zu diskutieren. Dabei wäre eine dergestalt selbstkritische Reflexion des zugrunde liegenden Konzepts auch in seinen heuristischen Beschränkungen dem hohen theoretischen Niveau des Bandes eher dienlich gewesen, als es den Eindruck seiner Tragfähigkeit negativ beeinträchtigt hätte.

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Denn selbst wenn in diesem Band auch denkbar Weitentferntes Berücksichtigung findet (und dabei zum Teil sehr große zeitliche Sprünge entspannt in Kauf genommen werden), so wird die historische ›Diskontinuität‹ durch die kohärenzstiftende Problemstellung und scharf konturierte Methodik doch hervorragend aufgefangen: Das historisch breite, aber thematisch und methodisch streng fokussierte Spektrum der Auseinandersetzung reicht – um nur eine Auswahl der Themen der insgesamt 16 Beiträge zu nennen – von der Selbstdarstellung »prophetischer Tradenten« (S. 39) im Kontext des Alten Testaments als Produkt einer »hoch entwickelten Schriftgelehrsamkeit« (S. 30; Ulrich Berges) sowie der Berufung antiker und spätantiker Autoren auf mythologische und religiöse Instanzen, die »Nähe zum Göttlichen« behaupten und damit »die eigene Berechtigung zum Dichten« stützen sollen (S. 67; Anika Söltenfuß, Meike Kimmel), bis zu Praktiken auktorialer Autorinszenierung in Widmungstexten Niccolò Machiavellis, in denen sich »Muster und Modelle aus Literatur und Kunst auf das politische Feld« übertragen (S. 196; Pia Claudia Doering); untersucht werden sowohl »Diskurse der Allmächtigkeit und der Allmacht« in den auto®reflexiven Romanen Henry Fieldings und Jean Pauls (S. 232; Daniel Weidner) wie auch die verschiedenen Selbstikonisierungen bei Charles Baudelaire, die zumeist »mittels religiöser Referenz und malerischer Bildlichkeit« erzeugt werden (S. 255; Karin Westerwelle); der Blick richtet sich ebenso auf Heinrich Bölls religiös konnotierte Darstellung als ein Autor, der »an seiner Heimat leidet und der Nation ins Gewissen redet« (S. 326; Christian Sieg), wie auch auf die Hypostasierung der frühen Christa Wolf zur Priesterin des Kommunismus als einer säkularen Religion, in der zugleich die »protestantisch-religiösen Momente ihres Selbstverständnisses« (S. 335; Wolfgang Emmerich) zum Tragen kommen.

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Gegenüber der hier erkennbaren übergreifenden Problemorientierung der versammelten Beiträge, die den Band von den vielfach üblichen Buchbindersynthesen im Bereich geisteswissenschaftlicher Sammelpublikationen erfreulich unterscheidet, fällt die Kritik eher marginal aus. Sie bezieht sich auf den aus der lateinischen Bedeutung von auctor (Urheber, Verfasser) bzw. auctoritas (Glaubwürdigkeit, Vorbild) hergeleiteten Begriff von Autorschaft als »Urheberschaft von Text, bildender Kunst und Musik mit Autorität im kulturellen Kräftefeld […]« (Vorwort, o.S.). Mit Blick auf diese Begriffsbestimmung, die eine interdisziplinäre Perspektive ermöglichen soll (vgl. S. 20), stellt sich die Frage nach der terminologischen Nützlichkeit, die aus literarhistorischer Perspektive bereits im oben genannten Einwand von Lutz anklingt: Kann die komplexe Bestimmung eines bildkünstlerischen Autorbegriffs durch den Fokus auf die schriftlich tradierte Künstleranekdote noch elegant umgangen werden (so Wolf-Dietrich Löhr am Beispiel von Giorgio Vasaris legendenhafter Erzählung von Giottos ›O‹), 9 scheint die Ersetzung des »Komponisten« durch den »musikalischen Autor« allerdings wenig praktikabel – so im Beitrag »Patronage, Ruhm und Zensur. Bemerkungen zur musikalischen Autorschaft im 15. Jahrhundert« von Michele Calella wie auch in Dominik Höinks und Andreas Jacobs Studie »Krisen der Autorschaft als Insignien der beginnenden musikalischen Moderne«. Die Übertragung eines vordinglich funktional verstandenen Autorbegriffs geht hier mit einer terminologischen Aufweichung einher, und dies ohne jede Not: Warum sollte in der Musikwissenschaft nicht weiterhin trennscharf vom Komponisten, Dirigenten oder Interpreten, in der Kunstgeschichte vom Maler, Zeichner oder Skulpteur die Rede sein, und sei es mit Blick auf die jeweiligen »Ikonen«, »Stile«, »Institutionen«, die sie herausbilden? Demgegenüber könnte als Differenzkriterium für die Rede vom ›Autor‹ an der Textgebundenheit seiner – nicht notwendigerweise ›literarischen‹ – Äußerung festgehalten werden. 10 Als übergreifende und zudem interdisziplinär anschlussfähige Begrifflichkeit böte sich demgegenüber die allgemein etablierte Rede vom ›Künstler‹ an; rekurrieren ließe sich hierbei zum Beispiel auf rechtliche oder neuere kunstwissenschaftliche Ansätze. 11 Dieser Einwand soll gleichwohl nicht als Kritik am fächerübergreifenden Dialog an sich verstanden werden, der hier unter Beteiligung unterschiedlicher Philologien sowie der Theologie, der Kunstgeschichte und Musikwissenschaft ertragreich umgesetzt wird, sondern an der Erweiterung des Autorbegriffs zu einem umbrella term, 12 die weniger der Sache als vor allem der notorischen wissenschaftspolitischen Forderung nach ›Interdisziplinarität‹ geschuldet zu sein scheint.

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2. Anonymität und Autorschaft

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Eine begrenztere interdisziplinäre Perspektive auf das Phänomen ›Autorschaft‹ nimmt demgegenüber der Sammelband Anonymität und Autorschaft. Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit ein (hervorgegangen aus einer Tagung im April 2009), mit dem der Herausgeber Stephan Pabst die deutschsprachige Autorschaftsforschung endlich um das im angloamerikanischen Raum bereits seit mehr als einem Jahrzehnt gewinnbringend bearbeitete Forschungsfeld ›anonyme Autorschaft‹ erweitert. 13 Interdisziplinarität stellt freilich auch hier weniger ein Charakteristikum einzelner Beiträge dar, sondern beschreibt den Versuch, den Phänomenkomplex anonymer Autorschaft aus verschiedenen disziplinären Logiken heraus analytisch zu erschließen, wobei in den 17, ohne weitere Untergliederung abgedruckten Beiträgen neben der quantitativ dominierenden (älteren und neueren) Literaturwissenschaft die Rechtswissenschaft und die Religionswissenschaft zu Wort kommen.

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Ob der in den einzelnen Beiträgen jeweils angesetzte Autorbegriff dabei in jedem Fall auch in einem konsequent interdisziplinären Dialog belastbar wäre, lässt sich durchaus bezweifeln. So diskutiert etwa die Rechtswissenschaftlerin Gunda Dreyer in ihrem Beitrag »Anonymität und Autorschaft heute – Aktuelle Probleme anonymer Publikationen im Internet« die Rechtslage von anonymer Kritik im Netz. Dies tut sie anhand der juristischen Auseinandersetzung um das Lehrerbewertungsportal www.spickmich.de, wobei sie unter Autorschaft, für die mitunter lediglich eine aus einer Notengebung bestehende Bewertung nötig ist, etwas grundlegend anderes versteht als etwa Hannes Fricke in seinen knapp gehaltenen Ausführungen zur anonymen Veröffentlichung von Goethes »Prometheus«-Ode. Dass es im Fall des vorliegenden Sammelbandes trotzdem gelingt, die divergierenden Begriffsverwendungen sowie die damit korrelierenden Forschungsansätze plausibel in eine übergreifende Untersuchungsperspektive einzubinden, ist in erster Linie der ebenso umfangreichen wie informierten Einleitung des Herausgebers zu verdanken.

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Denn mit »Anonymität und Autorschaft. Ein Problemaufriss« – dem längsten Beitrag im Sammelband – liefert Pabst nicht nur einen profunden Forschungsüberblick zum infrage stehenden Problemkomplex; vielmehr gelingt es ihm darüber hinaus einerseits darzulegen, dass sich ausgehend von dem zunächst marginal erscheinenden Phänomen anonymer Autorschaft zentrale Thesen der Autorschaftsdebatte diskutieren lassen; andererseits entwickelt er mit Rekurs auf diese Thesen ein integratives Forschungsprogramm zur anonymen Autorschaft, das eine multidisziplinäre Vorgehensweise nicht nur rechtfertigt, sondern sogar erforderlich erscheinen lässt.

[16] 

Ansatzpunkt seiner Darlegungen ist die Frage, welche methodengeschichtlichen Voraussetzungen dazu geführt haben, dass die systematische Erforschung anonymer Autorschaft ein Desiderat darstellt. In diesem Zusammenhang identifiziert Pabst typologisierend auf der einen Seite einen (v.a. hermeneutisch-neuphilologischen) »Fetischismus der Autorschaft« (S. 6), für den anonyme Autorschaft lediglich »einen historischen Mangel« (ebd.) darstellt, den es zu beseitigen gilt. Demgegenüber positioniert Pabst auf der anderen Seite die (v.a. poststrukturalistische) »Leugnung der Autorschaft« (S. 7), die letztlich von einer »implizit generalisierte[n] Anonymität« (S. 6) ausgeht und damit gleichfalls kein spezifisches Interesse für anonyme Autorschaft entwickeln konnte. Ein solches Interesse entdeckt Pabst hingegen in Foucaults diskursanalytischer Frage nach der Autorfunktion, 14 die er aufgreift und modifiziert, um so die Untersuchungsperspektive des Bandes zu konturieren.

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Im Kern richtet sich Pabst dabei kritisch gegen zwei historische Großthesen Foucaults: Die in der Forschung ohnehin umstrittene 15 Kopplung von ›alter und neuer Literatur‹ und ›Literatur ohne und mit Autorfunktion‹ sowie die Kopplung von ›Literatur ohne und mit Autorfunktion‹ und ›Anonymität und Onymität‹ (vgl. S. 7 ff.). Gegen die erste Kopplung führt Pabst unter anderen mediävistische Beiträge ins Feld, die ihn zu einer Differenzierung veranlassen: Keineswegs sei von einer Bindung der Autorfunktion an den (genieästhetischen) Beginn einer ›modernen‹ Literatur im 18. Jahrhundert auszugehen, vielmehr lasse sich bereits früher, teilweise beschränkt auf einzelne Gattungen, von einer Autorfunktion sprechen (eine Annahme, die von Cordula Kropiks Beitrag »Formen der Anonymität in mittelhochdeutscher Liedüberlieferung« überzeugend gestützt wird). Die Bedeutung dieser ersten Modifikation von Foucault erschließt sich dann vor dem Hintergrund der Pabst’schen Kritik an der zweiten Kopplung: Denn anders als Foucault, der von einer Opposition von Onymität und Anonymität ausgeht, setzt Pabst – und Harald Haferland leistet ihm hier in seiner gleichfalls grundlegenden Reflexion »Wer oder was trägt einen Namen? Zur Anonymität in der Vormoderne und in der deutschen Literatur des Mittelalters« kongenial Schützenhilfe – eine »Dialektik von Onymität und Anonymität« (S. 9 et passim) an und bindet diese Dialektik zurück an das Entstehen der Autorfunktion:

[18] 
Nur wenn Namentlichkeit die Regel oder wenigstens erwartbar ist, gewinnt Anonymität einen semantischen Wert und wird erklärungsbedürftig. Anonymität und Onymität wären dann nicht als sukzessive, sondern als historisch gleichzeitige Ereignisse zu betrachten, sofern beide gleichermaßen erst im Rekurs auf die Funktion des Autors beschreibbar werden. (S. 8)
[19] 

Implizit ist damit ein veritables, historisch weit ausholendes Forschungsprogramm formuliert, das eine in hohem Maße differenzierte Vorgehensweise erfordert. Denn eine historisch angemessene Analyse der Formen und Funktionen anonymer Autorschaft setzt vor diesem Hintergrund voraus, dass jeweils die spezifische, und das heißt nicht zuletzt: diskurs- oder sogar gattungsspezifische ›Dialektik von Anonymität und Onymität‹ betrachtet und in Bezug zum jeweils spezifischen ›Fungieren‹ der Funktion ›Autor‹ gesetzt werden muss.

[20] 

Für eine solche Analyse liefert Pabst zudem heuristische Orientierungspunkte: So führt er verschiedene Funktionen der Anonymität an (Schutzfunktion, Rezeptionssteuerungsfunktion, Täuschungsfunktion, Beglaubigungsfunktion; vgl. S. 10 ff.); er differenziert – einem Vorschlag von Carlos Spoerhase folgend – zwischen einer epistemischen Anonymität, bei der der Autor tatsächlich unbekannt ist, und einer lediglich paratextuellen Anonymität, bei der sich aus textuellen oder kontextuellen Indizien der Autor mehr oder minder zweifelsfrei erschließen lässt, womit der performative Aspekt der Anonymisierung und die dahinter stehende Programmatik der Anonymität in den Vordergrund rückt (vgl. S. 18 ff.); und er diskutiert die Anonymisierung eines Textes durch die Zuschreibung multipler, transindividueller Autorschaft (vgl. S. 26 ff.), wie sie etwa von Arnim und Brentano bei einigen Texten ihrer »Wunderhorn«-Sammlung praktiziert haben.

[21] 

Argumentativ elegant schlägt Pabst mit seinem »Problemaufriss« die Brücke von der systematischen Verortung anonymer Autorschaft innerhalb der Autorschaftsforschung hin zu den historischen Fallstudien, die in großen Schritten von der Seneca-Rezeption im Hoch- und Spätmittelalter (Christoph Fasbender) über die »poetiko-theologische[ ] Reflexion von Namentlichkeit, Anonymität und Autorschaft bei Klopstock, Hamann und Herder« (S. 130; Christian Senkel) und »Anonymität als Symptom in der Literatur der Weimarer Republik« (Dirk Oschmann) bis hin zur besagten anonymen Kritik im World Wide Web reicht (Gunda Dreyer).

[22] 

Nicht eine kohärente Entwicklungsgeschichte anonymer Autorschaft entsteht auf diese Weise, sondern ein historisch facettenreiches, gewissermaßen diskontinuierliches, dabei zugleich Pabsts systematische Ausführungen jeweils punktuell und diskursspezifisch vertiefendes Panorama konkreter Praktiken der Anonymität, das in Teilen zugleich als erhellender Beitrag zur Paratextforschung gelesen werden kann. So geht etwa Nicola Kaminski in ihrem Beitrag zu Louise Gottscheds anonym publizierten Lustspiel »Die Pietisterey im Fischbein-Rocke« der »umwegig inszenierten Verschiebung von Autorschaftsverantwortung« (S. 100) nach, die sie im Horizont weiblicher Autorschaftsoptionen in der frühaufklärerischen Öffentlichkeit verortet.

[23] 

Wie divers das Funktionsspektrum anonymer Autorschaft gerade im 18. Jahrhundert ist, zeigen in Ergänzung zu Kaminskis Beitrag die Aufsätze von Martin Dönike und Stephan Pabst: Dönike liest das anonyme »Sendschreiben«, das Johann Joachim Winckelmann der 2. Auflage seiner Gedanken über die Nachahmung beifügte (und das tatsächlich aus seiner Feder stammte), im Kontext der anonymen (Selbst-)Rezensionspraxis des 18. Jahrhunderts als den Versuch, »eine öffentliche Debatte nach dem Modell gelehrter Kommunikation zu simulieren« (S. 172) und so Aufmerksamkeit zu generieren. Dabei nutze Winckelmann zugleich mit strategischem Scharfsinn den Deckmantel der späterhin aufgedeckten Anonymität, um sich selbst als seinen besten Kritiker in Stellung zu bringen und auf diese Weise seine Autorität gleichsam zu potenzieren.

[24] 

Auf Anonymität als eine Publikationsstrategie, mit der sich Intimität und Öffentlichkeit vermitteln lassen, weist Stephan Pabst in seinem Beitrag über Johann Caspar Lavaters Geheimes Tagebuch hin. Die »Geheimhaltung« der Autorschaft fungiere hier als »strategische Beglaubigung der Aufrichtigkeit des Selbstbeobachters« (S. 189), der sich ohne Angst vor öffentlicher Bloßstellung schamlos selbst beobachten kann; zudem erhalte das Individuum durch die Anonymisierung »paradigmatisches Gewicht«, werde zu einer »metapersonale[n] Autorität« (S. 187) – eine Strategie, die auch Claus-Dieter Osthövener in seinem Beitrag über »Anonyme Theologie von Toland bis Schleiermacher« nachweist.

[25] 

Osthövener arbeitet zudem zwei weitere Motive für anonyme Autorschaft in der theologischen Öffentlichkeit heraus: das »Bemühen um Sachlichkeit« (S. 233) sowie die »Furcht vor rechtlichen Konsequenzen« (ebd.). Beide Motivationen diskutiert auch der Rechtshistoriker Hans-Peter Haferkamp in seinem Beitrag zu »Anonymitätsstrategien juristischer Autoren im Vormärz«. Die rechtliche Dimension der Anonymität aus einer anderen Perspektive widmet sich demgegenüber die Studie von Martin Otto, der den urheberrechtlichen Umgang mit anonymen Publikationen im 19. und 20. Jahrhundert detail- und kenntnisreich darlegt; Anonymität erweist sich hier nicht zuletzt als ein ökonomisches Problem, muss doch ein Urheber seine Urheberschaft nachweisen, um für sein Werk die entsprechenden Rechte beanspruchen zu können.

[26] 

Mit Ottos Studie stößt der Band in jenen Zeitraum vor, in dem onyme Autorschaft die Regel geworden ist. Auf das Andere dieser heute so selbstverständlichen Konvention eines »individuell-namentlichen Autorkonzepts« (S. 235) weist Stefan Matuschek in seinem Beitrag »Dichtender Nationalgeist. Vom Spiel zum Ernst literarischer Anonymität« hin. Pabsts einleitende Überlegungen zur transindividuellen Autorschaft vertiefend, widmet sich Matuschek der romantischen Vorstellung einer namenlosen Volksüberlieferung, die er bis hin zur Verschleierung der individuellen Bearbeitung in den Märchen der Brüder Grimm nachzeichnet. Der »Anteil der namentlich identifizierbaren Vermittler« werde dabei bewusst ausgespart; »Anonymität erscheint hier als dogmatisch negierte Autorschaft« (S. 246).

[27] 

Einerseits als rezeptionsgeschichtliches Strategem, andererseits als poetisches Konzept erweist sich Anonymität schließlich in den Beiträgen von Anja Oesterhelt und Heinrich Kirschbaum. Während Kirschbaum die formale (»Intertextualiät als Autorenanonymität«, S. 317) und thematische (das namenlose Opfer, der unbekannte Soldat) Dimension von Anonymität in der Dichtung Osip Mandel’štams darlegt, überprüft Oesterhelt jene Behauptung, nach der Heinrich Heines »Loreley«-Gedicht während des Nationalsozialismus nur noch mit dem Vermerk »Verfasser unbekannt« abgedruckt wurde. Auf breiter Materialgrundlage kann sie dabei zeigen, dass es sich hierbei um einen »Mythos« (S. 325 et passim) handelt, dessen Entstehung sie überzeugend auf die Grundkonstellation der Heine-Rezeption im Allgemeinen und den Volksliedcharakter des Gedichts im Besonderen zurückführt.

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Dass es sich bei Anonymität keineswegs nur um »ein bloßes Nicht-Wissen« (S. 3) handelt, macht der Sammelband mit Nachdruck deutlich. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht wäre dabei sicher in Einzelfällen etwas weniger Interdisziplinarität sinnvoll gewesen: Interessanter als ein Beitrag über anonyme Kritik in einem Internet-Bewertungsportal wäre etwa ein Beitrag über anonyme literarische Autorschaft im Netz gewesen; und ein Beitrag über anonyme Zeitschriftenbeiträge im Kontext der literarischen Kommunikation hätte sicherlich größere intradisziplinäre Anschlussmöglichkeiten geboten als ein Beitrag über anonyme Publikationen in juristischen Zeitschriften. Auch ließe sich durchaus diskutieren, ob nicht grundsätzlich zu differenzieren wäre zwischen der Thematisierung von Anonymität in literarischen Texten (wie sie in den Beiträgen von Oschmann und Kirschbaum verhandelt wird) und der anonymen Publikation von literarischen Texten, wobei nur der letztgenannte Aspekt im Feld der Autorschaftsforschung im engeren Sinne zu verhandeln wäre.

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Freilich: Dass nach der Lektüre von »Anonymität und Autorschaft« noch Diskussionsbedarf besteht, ist weniger ein Manko, denn ein fruchtbares Ergebnis eines Sammelbandes, der zeigt, wie zahlreich die Bereiche sind, die von einer Erforschung anonymer Autorschaft berührt werden. Insbesondere im Ausgang von Pabsts Sammelband kann mithin nunmehr auch in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft die systematische Arbeit am namenlosen Autor beginnen.

 
 

Anmerkungen

Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Fotis Jannidis et al. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 185–193.   zurück
Einschlägig hierzu im Bereich der deutschsprachigen Autorschaftsforschung: Fotis Jannidis et al. (Hg.): Die Rückkehr des Autors. Tübingen 1999. Vergleichbare Tendenzen lassen sich fast zeitgleich auch in der französischen (Roger Chartier) und angloamerikanischen Forschung (Martha Woodmansee) beobachten.   zurück
Vgl. für einen Überblick Tom Kindt / Tilmann Köppe: Conceptions of Authorship and Authorial Intention. In: Gillis Dorleijn / Ralf Grüttemeier / Liesbeth Korthals Altes (Hg.): Authorship revisited. Conceptions of Authorship around 1900 and 2000. Leuven, Paris, Walpole, MA 2010, S. 213–227.   zurück
Vgl. Christine Künzel / Jörg Schönert (Hg.): Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Würzburg 2007; Gunter E. Grimm / Christian Schärf (Hg.): Schriftsteller-Inszenierungen. Bielefeld 2008; Christoph Jürgensen / Gerhard Kaiser (Hg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte. Heidelberg 2011.   zurück
Vgl. Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Fotis Jannidis et al. (wie Anm. 1), S. 198–229.   zurück
Michel Foucault (wie Anm. 5).   zurück
»Inszenierungspraktiken, das meint […] zunächst jene textuellen, paratextuellen und habituellen Techniken und Aktivitäten von SchriftstellerInnen, in oder mit denen sie öffentlichkeitsbezogen für ihre eigene Person, für ihre Tätigkeit und/oder für ihre Produkte Aufmerksamkeit erzeugen«, so schreiben auch Jürgensen / Gerhard Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese. In: C.J. / G.K. (Hg.) (wie Anm. 4), S. 9–30, hier S. 10.   zurück
Die Kritik an der terminologischen Brauchbarkeit des Begriffsnamens ›Inszenierung‹ aufgrund seiner problematischen Konnotationen und des seinerseits implikationenreichen Gegenbegriffs der ›Authentizität‹ wird dadurch freilich nicht umgangen. Vgl. in diesem Sinne Claudia Hillebrandt: Märtyrer, Wahrsprecher, Volkspoet. Der Autor im Spiegel seiner Inszenierungen. In: IASLonline [30.05.2012]. URL: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=3545, hierzu Abs. 47 und 48.   zurück
In der Kunstgeschichte ist die Diskussion um den Autorbegriff allerdings schon seit einigen Jahren im Gange. Vgl. z.B. Sabine Kampmann: Künstler sein. Systemtheoretische Beobachtungen von Autorschaft: Christian Boltanski, Eva & Adele, Pipilotti Rist, Markus Lüpertz. München 2006.   zurück
10 
Vgl. in diesem Sinne zuletzt den Eintrag »Autor« von Andrea Polaschegg in: Gerhard Lauer / Christine Ruhrberg (Hg.): Lexikon Literaturwissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart 2011, S. 35–39, hier S. 35.   zurück
11 
Vgl. in rechtlicher Hinsicht etwa das österreichische Künstler-Sozialversicherungsfondsgesetz § 2, Abs. 1: »Künstlerin/Künstler […] ist, wer in den Bereichen der bildenden Kunst, der darstellenden Kunst, der Musik, der Literatur, der Filmkunst oder in einer der zeitgenössischen Ausformungen der Bereiche der Kunst auf Grund ihrer/seiner künstlerischen Befähigung im Rahmen einer künstlerischen Tätigkeit Werke der Kunst schafft.« URL: http://www.ris.bka.gv.at/Dokument.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Dokumentnummer=NOR40097134. Für eine tendenziell übergreifende Perspektive auf den ›Künstler‹ vgl. ferner die Studie der Kunstwissenschaftlerin Verena Krieger: Was ist ein Künstler? Genie – Heilsbringer – Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen. Köln 2007.   zurück
12 
Dies wäre auch insofern zu bedenken, weil sich vergleichbare Übertragungsversuche in der Vergangenheit als erfolglos erwiesen haben. Dies zeigt u.a. am Beispiel der Rede von der ›politischen Religion‹ Hermann Lübbe: Wortgebrauchspolitik. Zur Pragmatik der Wahl von Begriffsnamen. In: Carsten Dutt (Hg.): Herausforderungen der Begriffsgeschichte. Heidelberg 2003, S. 65–80, hier S. 73 f.   zurück
13 
Vgl. u.a. das Themenheft »Anonymity« der Zeitschrift New Literary History 33, H. 2 (2002); des Weiteren Robert J. Griffin (Hg.): The Faces of Anonymity. Anonymous and Pseudonymous Publication from the Sixteenth to the Twentieth Century. New York 2003; oder die Monographie John Mullans: Anonymity. A Secret History of English Literature. London 2007.   zurück
14 
Vgl. Michel Foucault (wie Anm. 5).   zurück
15 
Vgl. z.B. die auch von Pabst angeführte Diskussion bei Roger Chartier: Figures of the Author. In: R.C.: The Order of Books. Readers, Authors and Libraries in Europe between the Fourteenth and Eighteenth Centuries. Cambridge 1995, S. 25–59.    zurück