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Theatertexte, Inszenierungen und die Institution des Theaters

  • Franziska Schößler: Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart: J. B. Metzler 2012. X, 277 S. Paperback. EUR (D) 19,95.
    ISBN: 978-3-476-02339-1.
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Eine Einführung in die Dramenanalyse hat prinzipiell zunächst literaturwissenschaftlichen Interessen zu folgen. Die vorliegende jedoch hat sich, und das ist ihr sehr zu begrüßendes Alleinstellungsmerkmal, auch theaterwissenschaftlichen Erkenntnissen weit geöffnet: Die Analyse des Dramas in allen seinen Formen wird stets mit den Anforderungen der Bühne in einen fruchtbaren Zusammenhang gebracht. Da medienhistorisch gesehen dramatische und theatrale Texte eher in Ausnahmen, beispielsweise als reines Lesedrama auf der einen oder als Live oder Performance Art auf der anderen Seite, nicht oder nur locker über theatrale Institutionen in Verbindung stehen, ist es erstaunlich, dass die germanistische und theaterwissenschaftliche Perspektive erst jetzt in der Dramenanalyse kombiniert wurden.

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Germanistik und Theaterwissenschaft

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Dies hat wohl vor allem fachspezifische, weniger praxisbezogene Gründe. Denn wissenschaftshistorisch gesehen hat sich die Theaterwissenschaft als Fach aus der Germanistik entwickelt, die ersten Theaterwissenschaftler waren ursprünglich Germanisten, die sich besonders für die Bühne und ihre Aufführungen interessierten. Tatsächlich ist die Theaterwissenschaft, was ihre zentrale Emanzipationszeit betrifft, nach engagierten Alleingängen einiger theaterbegeisterter Germanisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts dann nur mit Hilfe der Nationalsozialisten zu einer eigenständigen Universitätsdisziplin aufgestiegen. 1 Im Zuge dieser nicht ohne Konflikte, zuweilen Tragödien 2 und späteren Verdrängungen vollzogenen Ablösung eines jungen, anfangs eher halbstarken Faches von der etablierten ›Mutter‹ Germanistik, konzentrierte man sich verständlicherweise auf primäre Untersuchungsobjekte, die sich möglichst wenig mit denen des jeweils anderen Faches überlappen sollten.

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Dramatischer oder theatraler Text

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Das primäre Untersuchungsfeld der Theaterwissenschaft ist – das ist auch heute noch fachinterner Konsens – die Inszenierung als Struktur ästhetisch organisierter Zeichen sowie die Aufführung als Ereignis; Theater ist das relevante, transitorische Medium, die Inszenierungs- und Aufführungsanalyse ihre legitime Methode. Der Germanistik wäre daher die Beschäftigung mit dem Drama beziehungsweise dem Theatertext und als Methode die Dramenanalyse zugewiesen. Diese je nach Fachvertreter mehr oder weniger strikt geforderte Aufgabenteilung wurde zusätzlich durch die Einwanderung (neo)-avantgardistischer performativer Ästhetiken in das Theater – Stichwort postdramatisches Theater – forciert, der dramatische Text wurde als ein gleich(un)wertiges theatrales Mittel neben Licht, Ton beziehungsweise Sound, Körper, Kostüm, Bühnenbild und so weiter betrachtet. Dies hatte zur Folge, dass in der Theaterwissenschaft eine Zeit lang wenig oder kaum Dramenanalyse gelehrt, gar in einigen Studiengängen völlig aus dem Studienangebot gestrichen wurde. Einsprüche gegen diese akademische Fachdifferenz kamen aus der Praxis, vor allem aus dem traditionellen Theaterbetrieb, der trotz der partiellen Eroberung der Hauptbühnen durch die performativen Formen der freien Szene, weiterhin in den meisten Fällen im Produktionsprozess von der Inszenierung eines dramatischen Textes ausgeht.

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Das Desiderat einer fachübergreifenden Dramenanalyse

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Bis jetzt fehlte eine fundierte Publikation zur Dramenanalyse, die die ästhetischen Ansprüche und institutionellen Voraussetzungen des Theaters gleichermaßen mit einbezieht. Zwar konnte man unter anderem mit Manfred Pfisters Das Drama auf eine strukturalistisch grundsolide, in ihrer Detailfülle fast unüberbietbare Basisliteratur bauen. 3 Und in Bernhard Asmuths Einführung in die Dramenanalyse besaß man beispielsweise als Dozent einen didaktisch funktionierenden Ansatz zur Heranführung der Studierenden an die Methode in Grundzügen. 4 Eine fachübergreifend überzeugende Zusammenführung des lang Getrennten, des dramatischen und theatralen Textes, suchte man vergebens.

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Postdramatik, Gender und das Theater als Institution

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Dies leistet die vorliegende Einführung in die Dramenanalyse, die vier Desiderate programmatisch liefert. Erstens integriert sie eine theaterwissenschaftliche, vor allem theaterhistorische und theatertheoretische Perspektive. Zweitens trägt sie aktuellen Formen des Theatertextes, verstanden als nicht mehr dramatischer oder postdramatischer Theatertext, Rechnung. Drittens bezieht sie sich auf veränderte gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen, insbesondere durch eine dezidierte Gender- und Alteritätsperspektive. Und viertens unterschlägt sie nicht die theaterinstitutionellen Voraussetzungen, die in ihrem Einfluss auf die theatrale Ästhetik, auf Theatertexte und Aufführungen nicht zu unterschätzen sind.

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Der Theatertext und die Bühne

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In diesem Sinne gliedert sich das für eine Einführung vergleichsweise umfangreiche Buch grob anhand der dramatischen, seit Aristoteles dominierenden Strukturelemente, denen mit Handlung, Figur, Sprache (Monolog, Dialog, Polylog), Raum und Zeit detailreiche Kapitel gewidmet sind. Soweit folgt die Verfasserin der Tradition der Poetiken, Analysen und entsprechenden Einführungen. Innovativ ist die explizite, in den Unterkapiteln ausgewiesene Darlegung sowie Erörterung der Konstituenten im Drama beziehungsweise Theatertext und zugleich auf der Bühne; so schließt sich einem Kapitel »Die Zeit auf dem Theater« unmittelbar eines zum Thema »Die Zeit im dramatischen Text« an, neben »Raumentwürfen im Drama« geht es um »Bühnenräume der Theatergeschichte«. Gerade diese Wechsel der Bezugsebenen sind für Studierende am Anfang ihrer Lehrerfahrungen und Lektüren oft verwirrend, noch in Qualifikationsarbeiten werden die Perspektiven gerne durcheinander gebracht.

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Klarer Aufbau, unterstützt durch das Layout

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Dem wird in der Einführung erfreulicherweise durch eine besondere Klarheit in der Diktion und im argumentativen Aufbau entgegengearbeitet. Überhaupt ist das Layout durch unterschiedlich eingefärbte oder umrahmte Blöcke übersichtlich gestaltet. In den Blöcken werden wichtige Begriffe wie »Mimesis« und »Intermedialität« kurz definiert, an konkreten Beispielen, etwa einem Text von Elfriede Jelinek oder Gerhart Hauptmann, das Theoretische demonstriert und vertiefende Diskurse, unter anderem zur imaginierten Weiblichkeit oder zur Sprachkritik im absurden Drama, eröffnet. Spezielle Leitfragen zur Analyse (zum Beispiel »Welche Funktionen kommen den Pausen zu? In welcher Häufigkeit treten sie auf?«) und eine Literaturliste runden einzelne Kapitel ab. Darüber hinaus geht es in längeren Passagen um die Frage nach dem Genre, um die Strukturen der Tragödie und der Komödie, um die Merkmale von Drama und Theater im Vergleich, um den Bezug der Dramen- zur Aufführungsanalyse und um theaterwissenschaftliche Erkenntnisse, insbesondere um Semiotik, Theatralität und Postdramatik. Die Institutionen des deutschsprachigen Theaters kommen noch einmal ausführlich in ihrer historischen Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert zu ihrem Recht, zudem erfährt man etwas über Dramatik für Kinder und Jugendliche sowie im Schulunterricht.

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Fazit

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Insgesamt gesehen eine Publikation, die verlagsökonomisch, aber auch lehrpraktisch eine Marktlücke abdeckt, da sie konsequent den traditionellen, theaterpraxisfernen Graben zwischen germanistischer und theaterwissenschaftlicher Perspektive, zwischen dramatischem und theatralem Text überbrückt. Generell ist es eine Kunst, in Einführungen den geeigneten Weg zwischen dem wissenschaftlich Soliden und dem didaktisch Ansprechenden zu finden. Dies gelingt der vorliegenden Einführung vorzüglich. Sie ist insbesondere für die grundlegende Ausbildung in den strukturierten BA-Studiengängen sehr zu empfehlen.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Andreas Englhart: »Theaterwissenschaft.« In: Jürgen Elvert / Jürgen Nielsen-Sikora: Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008, S. 863–898.   zurück
Etwa die Ermordung des jüdischen Theaterwissenschaftlers Max Herrmann, einer der Begründer des Faches, in Theresienstadt.   zurück
Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. Stuttgart: UTB 2001.   zurück
Bernhard Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart: Metzler 2009.   zurück