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Schiller ‚in between‘

  • Jörg Robert: Vor der Klassik. Die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 72 (306)) Berlin: Walter de Gruyter 2011. XII, 478 S. Gebunden. EUR (D) 99,95.
    ISBN: 978-3-11-026824-9.
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Die Literaturwissenschaft kennt Friedrich Schiller inzwischen aus den verschiedensten Perspektiven, doch die Anzahl neu erscheinender Darstellungen bleibt auch nach den jubiläumsbedingten Publikationswellen der Jahre 2005 und 2009 konstant hoch. Die ästhetisch-poetologischen Prioritätenverschiebungen innerhalb einzelner Entstehungsphasen des Gesamtwerks, die Möglichkeit zeitbedingter Aktualisierungen der Philosopheme und Sujets oder der genuin Schiller’sche Beitrag zum Projekt ›Weimarer Klassik‹ sind nur einige der Themen, die in den vielfältigen, zumeist ertragreichen Einzeldarstellungen und Sammelbänden erörtert werden. 1 Schiller, so scheint es, bleibt »Zeitgenosse[ ] aller Epochen«. 2 Man ist geneigt, zu ergänzen: »auch aller Methoden- und Paradigmenwechsel des Fachs«.

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Jenseits der Klassik?

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Stand früher zumeist der ›Klassiker‹ oder der ›Idealist‹ Schiller – eng verbunden mit Goethe – im Zentrum, so werden spätestens seit Wolfgang Riedels maßgeblicher Studie zu Schillers medizinisch-philosophischem Frühwerk häufig Deutungen vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Anthropologiediskurses angestrebt, dessen kontinuierlicher Niederschlag in Schillers Werk mithilfe eines ideengeschichtlichen Zugangs offen- oder doch zumindest nahegelegt wird. 3 Viele Monografien jüngeren Datums über Schiller lesen sich wie mehr oder weniger explizite Fortsetzungen des von Riedel angestoßenen Projekts – selbstredend mit eigenen Akzentverschiebungen und Erweiterungen des Gegenstandsbereiches über Schiller hinaus. 4

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Jörg Roberts Studie, die die überarbeitete Fassung seiner im Jahr 2009 an der Universität Würzburg eingereichten Habilitationsschrift darstellt, erscheint als nächster, wichtiger Baustein in der vermutlich unabschließbaren Bemühung um den ›ganzen Schiller‹. Untersucht wird der titelgebende Zeitraum zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption (das »zwischen« ist einschließend gemeint), das heißt in etwa den Zeitraum von 1780 bis 1795. Diese Phase wird in den einschlägigen Werk- und Autordarstellungen zumeist als unruhige Zeit der Selbstfindung des jungen Dichters und poetologisch als Orientierungssuche mit offenem Ausgang beschrieben. Robert entwirft, ebenfalls der Tendenz der jüngeren Forschung folgend, ein wesentlich differenzierteres Bild dieses Abschnitts. 5

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Zu Beginn erfolgen einige klärende Überlegungen zu der schon lange umstrittenen ›Klassizität‹ Schillers, wobei mit rezeptionshistorischem Scharfblick das weitläufige Feld heterogener Schiller-Deutungen durchmessen wird, um zu dem – wichtigen und noch immer nicht selbstverständlichen – Ergebnis zu gelangen, dass es sich um einen »rein chronologischen« Begriff handeln muss (S. 9), dessen normativer Ursprung aus heuristischen Gründen ausgeblendet werden sollte. Methodisch spricht Robert von einer »›dichten‹ Beschreibung der vorklassischen Produktionen« (S. 18), die es nachzuvollziehen gelte und die Schillers Weg bis in die Produktion der eigenen ästhetischen Abhandlungen hinein bestimmt hätten. Das Fundament dieser Annahme besteht darin, dass zum einen »die Verschwisterung von Literatur und Anthropologie« gesetzt und zum anderen deren bruchloses Fortwirken im Gesamtwerk angenommen wird (S. 20). Als Indizien für eine derart hohe Veranschlagung des Frühwerks dienen etwa bestimmte, medizinisch grundierte ›Signaltermini‹, wie zum Beispiel »Inokulation«, die sich bis in Ueber das Erhabene nachverfolgen lassen (vgl. S. 20). In diesem Zusammenhang bringt Robert seine andere, komplementär arbeitende Leitthese in Anschlag, die eine stetig anwachsende ›Entfremdung‹ von Metaphysik und Ästhetik bei Schiller konstatiert, eine »säkularisierende Ersetzung und kontrafaktische Verschiebung« christlich-theologischer Argumentationsfiguren durch respektive in den nur schwer eingrenzbaren Bereich ästhetisch-anthropologischer Fragestellungen (S. 24). Diese ›Poetik der Verschiebung‹ ist es schließlich, die Schiller in den Augen Roberts zu einem gänzlich modern anmutenden Sprach- und Medientheoretiker avant la lettre werden lässt. In dieser neuen Perspektive liegt ein zentrales Verdienst der Studie, die immer wieder dem sprachlich-metaphorischen Potential im Frühwerk Schillers besondere Aufmerksamkeit schenkt, etwa der ›proto-erhabenen‹ Kampf- und Widerstandstopik der Fieberschrift und in den Räubern (S. 80–88), oder den auffallend zahlreichen Platonismen in dem Gedicht Die Künstler (S. 250–254).

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Furor poeticus oder: Am Anfang war das Fieber

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Die sich im Folgenden anschließende, philologisch gründliche und gleichwohl innovative Lektüre der sogenannten Fieberschrift, 6 Schillers zweiter von insgesamt drei eingereichten Dissertationen, zeigt, wie die anthropologischen Grundannahmen Ernst Platners in das poetische Frühwerk, namentlich Die Räuber und die Laura-Gedichte der Anthologie auf das Jahr 1782, Eingang finden. Diese »Austauschprozesse zwischen Pathologie und Poetologie« will Robert nicht nur in einem wissenspoetischen Sinn, sondern als Dokument der »Gleichursprünglichkeit« von Ästhetik und Anthropologie verstanden wissen (vgl. S. 59). 7 Die ›meta-poetologische‹ Stellung des Fiebers wird durch eine präzise Gegenüberstellung der zwei großen medizinhistorischen Einflüsse auf Schillers Fieberverständnis herausgearbeitet: die Neo-Hippokratiker einerseits (zuvorderst Thomas Sydenham, dann Herman Boerhaave, Adam Brendel, Johann Friedrich Consbruch, Maximilian Stoll und andere) sowie Vertreter einer nosologischen Denkrichtung andererseits (Pierre Augustin Boissier de Sauvages, Philippe Pinel, Louis Vitet).

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Erwähnt sei an dieser Stelle auch, dass Robert den »taxonomische[n] Impuls«, die »in Fleisch und Blut übergegangene ärztliche Unterscheidungskunst« (S. 70 f.) nicht nur auf die Felder der Poetik und Ästhetik überträgt, sondern auch die historischen Schriften wenigstens in Andeutungen einbezieht (vgl. z. B. S. 70 f.). Die oft vernachlässigten historischen Abhandlungen Schillers finden in der Arbeit nur an wenigen Stellen beiläufige Erwähnung, was angesichts des ansonsten sehr heterogenen Textkorpus (medizinische Abhandlungen, Dramen, Gedichte, Rezensionen, Schriften zur Ästhetik), das Roberts Studie zugrunde liegt, verwundert und zumindest eine eingehendere Begründung verdient hätte.

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Schaulust im Gefängnis

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An die Grundlegung des Diskursraums von Anthropologie und Ästhetik bei Schiller knüpft eine Lektüre der Schaubühnen-Rede an, 8 die sich von gängigen Lesarten, die dramenpoetische Fragen oder die Kategorie des Erhabenen zum Ausgangspunkt haben, lossagt und Schillers frühe Dramenpoetik in nuce vom begrifflichen Gehalt der ›Schaubühne‹ aus neu deutet: als Medium des panoptischen Blicks (vgl. S. 124), der im Sinne eines »meta-theatralischen Symbols« (ebd.) göttliche Gerichtsbarkeit auf die theatrale Institution der Bühne transponiert. Prominenz und Persistenz dieses Motivs werden durch die Blickökonomien des Don Karlos und vor allem anhand des wesentlich später entstandenen Dramenfragments Die Polizey (1797) belegt. Zwar kommt auch diese Darstellung zu dem bekannten Ergebnis einer umfassenden »Gerichtsbarkeit der Bühne« (S. 146). Entscheidend in Roberts Deutung ist aber der Weg, der dorthin führt. So gelingen dem Verfasser originelle staatsrechtstheoretische (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, S. 132; Carl Schmitt, S. 136), ferner soziologisch-psychologische Kontextualisierungen (Michel Foucault, Friedrich Kittler; S. 139–143), die stets ihren Weg zurück zur eigentlich virulenten Frage nach Darstellbarkeit und Unmittelbarkeit in der dramenpoetischen Praxis finden (Johann Georg Sulzer, Horaz; vgl. S. 147 f.). Die Schaubühne wird so »zum virtuellen, phantasmagorischen Gefängnis« erweitert und in dieser ›disziplinatorischen‹ Ausdeutung zu einem Vorgriff auf Jeremy Benthams ›Panopticon‹ (vgl. S. 151). 9

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Schein und Sein – Trug und Kunst

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Roberts Analyse des Romanfragments Der Geisterseher, jenem von Schiller ›ungeliebten Kind‹, das in den Jahren 1786–89 in Fortsetzungen erschienen ist, wertet den schwer zu deutenden, weil von wirtschaftlichen Erwägungen vorangetriebenen Text insofern auf, 10 als sie darin einen wichtigen Beitrag zu »einer verdeckten Genealogie« in Schillers Ästhetik erkennt (S. 176). Es geht wiederum um »mediologische[ ] Beziehungen« und eine »philosophische Filiation« (S. 177), die nach Ansicht des Verfassers bis in den 26. ästhetischen Brief vorausweist. Mit zuweilen kapriziösen Wendungen, »Trash und Klassizismus, Pulp fiction und Propyläen« (S. 163), bricht Robert eine Lanze für das vielgescholtene Werk und dies durchaus mit Erfolg. Es wird aus den ›Schattenzimmern‹ der Spätaufklärung heraus der Weg zur klassischen Ästhetik gebahnt, sodass »[z]wischen der Kunst der Zauberlaterne und dem Zauberschein der Kunst […] dann eine Familienähnlichkeit« besteht (S. 181). Das einzige Unterscheidungskriterium führt das urteilende Subjekt – 1786 freilich noch ohne eine ebensolche Kantische Diktion – ein, indem es den absichtsvollen, weil didaktisch legitimen, ästhetischen Schein von bloßer betrügerischer Täuschung unterscheidet (vgl. ebd.).

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Dunkle Abgründe einer lichtvollen Sprache: Die Künstler

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Mit einer zumindest möglichen Didaktik im Rahmen des ästhetischen Scheins ist auch das nächste Kapitel in Roberts Werk angesprochen, denn keine Beschäftigung mit Schillers Lyrik, im vorliegenden Fall mit dem Gedicht Die Künstler, kommt umhin, sich mit dem Problem von Lehrdichtung und sogenannter ›Gedankenlyrik‹ in der Entstehungszeit der (ebenso diskussionswürdigen) Autonomieästhetik zu beschäftigen. 11 Hier gelingt es dem Verfasser, die herausragende Stellung der Künstler als letztes vorklassisches Gedicht Schillers und dessen hochgradig poetologische Faktur als »Lehrgedicht über das Lehrgedicht« gleich in mehrfacher Weise in die eigene Deutung zu integrieren (S. 225):

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Die Bedeutung der Künstler für Schillers Entwicklung liegt mithin darin, dass sie die Medienmetaphern des Geistersehers fortsetzen bzw. in poetisch-rhetorische Praxis der Metapher und des Symbols verwandeln. Schleier, Hülle und Gewand sind auch hier doppelsinnige Medien und poetische Mittelkräfte, die zugleich Wahrheit ver- und enthüllen. In dieser neuen Form einer dunklen Didaktik liegt die eigentliche Leistung und paradoxe Qualität der Künstler. (S. 230)
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Die ›dunkle Didaktik‹ meint das weit ausgreifende anthropologische Diskursfundament, die unmittelbaren, meist von Überforderung, doch auch von Bewunderung zeugenden Reaktionen der Zeitgenossen (etwa Christian Gottfried Körners oder Friedrich Schlegels) und schließlich das verwickelte und noch immer nicht geklärte Allegorie-Verständnis Schillers (vgl. S. 232). Auch durch dieses diffizile Terrain manövriert Robert stets mit Blick auf die umfangreiche Forschung, ohne dabei die eigene Fragestellung aus dem Blick zu verlieren.

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Der letzte Schritt in Roberts Deutung ist indes nicht unproblematisch: Ähnlich wie Hans-Jürgen Schings in seiner Studie von 1996, 12 versucht Robert eine Einflussnahme der damaligen Geheimbundbegeisterung, der Legenden um das Illuminaten- und Freimaurertum auf den Text zu rekonstruieren. Aufgrund der Sachlage ist das bei Schiller ein schwieriges Unterfangen, hat dieser doch stets eine kritisch-ablehnende Haltung gegenüber Geheimbünden eingenommen. Gleichwohl gibt es zahlreiche ›Einfallstore‹ in den gedanklich-diskursiven Radius: die Karlsschule und einige der dortigen Lehrer, der den Illuminaten wenigstens wohlgesonnene Mannheimer Theaterintendant Karl Theodor von Dalberg und schließlich Carl Leonhard Reinhold. Ferner wird Adam Weishaupts Anrede an die neuaufzunehmenden Illuminatos dirigentes (1782) einer gründlichen, vergleichenden Lektüre unterzogen (vgl. S. 287–292). Zudem erzeugt der motivische Ansatzpunkt des ›asketisch-avantgardistischen Kollektivs‹, der von Schillers Künstlerorden im Gedicht verkörpert wird, eine einleuchtende, gut am Text belegbare Evidenz, was wiederum die von Robert avisierte Verschiebung der theologisch-religiösen Fragestellungen in den Bereich der Ästhetik untermauert. Die Pointe liegt auch hier in der sprachphilosophischen Wendung des Sachverhalts – zumindest das zentrale Strukturprinzip, die »feine Dialektik von Enthüllung und Verhüllung, von didaktischer und prophetischer Rede« ist bei Schiller wohl mit den Lehren der Illuminaten vergleichbar (S. 291).

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Schönheit jenseits von Kant? Revisionen der Ästhetik

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Die letzten beiden Kapitel konzentrieren sich auf die ästhetischen Fragestellungen, die nun an die Kant-Rezeption heranreichen und kursorisch auch über sie hinausweisen. Im Zentrum stehen zum einen die Rezension der Gedichte Gottfried August Bürgers, zum anderen die Kallias-Briefe.

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Die Deutungen beider Texte – deren minutiöser Verlauf hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden kann – sind gelehrt, konsistent und zudem in Ansätzen bereits durch die in den vorausgegangenen Kapiteln erfolgten Textdeutungen angelegt worden. Hinsichtlich der Bürger-Rezension gelingen plausible Schlussfolgerungen, was die Anwendung bestimmter, bereits am Eleven Grammont einstudierter medizinischer Deskriptionstechniken auf den ›Fall Bürger‹ anbelangt (vgl. S. 294 f.). Auch eine sich vorklassisch anbahnende »Verknüpfung von Totalitäts- und Spielidee« kann mit der Programmatik des Schiller’schen Volksdichters noch belegt werden (vgl. S. 309). Lediglich an manchen Stellen gewinnt man den Eindruck, dem relativ kurzen und nur zur Hälfte wirklich Bürger thematisierenden Text, werde zu viel zugemutet: »Ueber Bürgers Gedichte ist nicht nur Manifest der Klassik, Theorie der Lyrik, Erfindung des Idealismus als poetischer Utopie. Der Text ist zudem der erste Beleg der Kant-Rezeption und der – wenn auch vorerst indirekten – Aristoteles-Renaissance« (S. 307). Die Gefahr einer vorschnellen Rückprojektion des ›späten Schiller‹ auf das Jahr 1791 erscheint hier – trotz luzider ideengeschichtlicher Rekonstruktion – zumindest gegeben.

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Die Analyse der Kallias-Briefe weiß dahingehend zu überzeugen, dass das Kernproblem der Kant-Epigonalität Schillers von vornherein ausgeklammert wird: »Jenseits ihrer forcierten Anlehnung an Kantische Systematik sind die Kallias-Briefe daher ein Dokument eklektischen und – in Bezug auf Kant – eristischen Philosophierens« (S. 354). Die »Anlehnung an Kant« ist vielmehr eine »Auflehnung« gegen diesen (S. 355). Zentrales Anliegen bleibt für Schiller die Grundierung des Schönen in einem objektiven Prinzip, was bei Kant gerade nicht vorgesehen ist. Es geht Robert einmal mehr um »die mediologischen Aspekte der Briefe und damit zugleich die Kontinuitäten zu Schillers eigenen Ideen von ästhetischer Kommunikation« (S. 360). So gelangt man zurück auf das Feld der diskursiven Metaphernbildung zwischen Anthropologie und Philosophie, zwischen Poetik und Ästhetik. Gerade die Beilage über Das Schöne der Kunst im letzten Kallias-Brief, die Robert eingehend bespricht (vgl. S. 372–382), exponiert noch einmal durch ihre reduktionistisch anmutende, unverhohlen über Kant hinausweisende Semantik eines der zentralen Anliegen der Studie: »Seine [i.e. Schillers; M.S.] Reflexion über Kunstfragen setzt weder mit Kant ein noch endet sie mit ihm« (S. 421).

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Fazit

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Jörg Robert ist mit seiner Habilitationsschrift zweifellos ein großer Wurf gelungen: Stets wird der methodische und stilistische Spagat zwischen Quellennähe und innovativer Thesenbildung angestrebt und praktisch durchweg eingehalten – ein, zumal bei Schiller, kein einfaches Unterfangen.

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Freilich ›funktioniert‹ Roberts Argumentationsgerüst nur dann, wenn man die mehrmals im Buch mit Verve vertretene These akzeptiert, Schiller schreibe das von der Karlsschulzeit herrührende Gedanken-/Ideen-/Diskursgebäude ›prä- und postklassisch‹ weitgehend bruchlos fort. Dieser Einwand betrifft jedoch nicht nur Roberts Studie, sondern die anthropologisch-ideengeschichtliche Schillerdeutung im Allgemeinen. Da sich die zugrunde liegende Methode jedoch immer auch von ihrem Ergebnis her legitimiert, besteht Roberts wesentliches Verdienst darin, dass die oft stattfindende »teleologische Fixierung« der Schiller’schen Ästhetik auf die Kant-Rezeption mit einem verblüffenden Reichtum an Quellen und neu entdeckten Bezügen erfolgreich unterlaufen wird (S. 421).

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Abschließend wird die vom Geisterseher aus entwickelte These noch einmal aufgegriffen und präzisiert: Die klassische Ästhetik Schillers offenbart sich als ein intendierter (Selbst-)Betrug: »Kunst leistet innerweltliche Kompensation für ein unverfügbar gewordenes Überweltliches. Sie ist jener Schleier, auf den der Mensch zu schauen hat, ohne hinter ihn zu blicken […]« (S. 427). Mit dieser tendenziell resignativen, harmonisierungs- und verklärungsfreien Schlussdeutung integriert Robert nicht nur den augenblicklichen Stand der Schillerforschung. Er ergänzt ebendiese sowohl terminologisch als auch kontextuell auf vielfältige Weise, sodass man sagen darf: Das hoch gesteckte Ziel der Studie, »ein Neuansatz innerhalb der Schiller- und der Klassikforschung« zu sein (S. 421), wird auf bravouröse Weise erreicht.

 
 

Anmerkungen

Exemplarisch für die nationale und internationale Forschung sei der auf die 2009 Long Beach Schiller Conference zurückgehende Tagungsband genannt: Jeffrey L. High / Nicholas Martin / Norbert Oellers (Hg.): Who Is This Schiller Now? Essays on His Reception and Significance. Rochester, NY: Camden House 2011.   zurück
Helmut Koopmann: Vorwort. In: H.K. (Hg.): Schiller-Handbuch. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Stuttgart: Kröner 2011, S. XV–XIX, hier S. XV.   zurück
Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schillers. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der ›Philosophischen Briefe‹. (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 17) Würzburg: Königshausen & Neumann 1985.   zurück
Vgl. z. B. Thomas Stachel: Der Ring der Notwendigkeit. Friedrich Schiller nach der Natur. (Manhattan Manuscripts 4) Göttingen: Wallstein 2010; Cornelia Zumbusch: Die Immunität der Klassik. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 2014) Berlin: Suhrkamp 2011.   zurück
Vgl. hierzu die ausführliche, in biografische und werkgenetische Kapitel unterteilte, insgesamt mehr als 300 Seiten umfassende Darstellung in: Peter-André Alt: Schiller. Leben – Werk – Zeit. Bd. 1. München: Beck 2000.   zurück
De discrimine febrium inflammatoriarum et putridarum; eingereicht und – aus fachlichen Gründen – abgelehnt im November 1780.   zurück
Die Formulierung ist entlehnt aus Carsten Zelles Darstellung einer ›Halleschen Konstellation‹ der Frühaufklärungsmediziner Johann August Unzer, Georg Ernst Stahl, Johann Juncker und Friedrich Hoffmann. Carsten Zelle: Sinnlichkeit und Therapie. Zur Gleichursprünglichkeit von Ästhetik und Anthropologie um 1750. In: C.Z. (Hg.): »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 19) Tübingen: Niemeyer 2001, S. 5–24, hier besonders S. 10.   zurück
Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? – veröffentlicht im ersten Heft der Rheinischen Thalia, März 1785.   zurück
Vgl. Jeremy Bentham: The Panopticon-Writings. Ed. and introduced by Miran Boževič. London, New York: Verso 1995. Der darin enthaltene Aufsatz Panopticon; or: The Inspection House erschien erstmals im Jahr 1787.   zurück
10 
Vgl. Benno von Wiese: Friedrich Schiller. 4., durchgesehene Auflage. Stuttgart: Metzler 1978, S. 314; und Peter-André Alt (Anm. 5), S. 569.   zurück
11 
Vgl. Almut Todorow: Gedankenlyrik. Die Entstehung eines Begriffs. (Germanistische Abhandlungen 50) Stuttgart: Metzler 1980.   zurück
12 
Hans-Jürgen Schings: Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten. Tübingen: Niemeyer 1996.   zurück