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Begriffe des Loslassens

Zum weiten Feld einer Semantik der Gelassenheit

  • Burkhard Hasebrink / Susanne Bernhardt / Imke Früh (Hg.): Semantik der Gelassenheit. Generierung, Etablierung, Transformation. (Historische Semantik 17) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. 319 S. 2 Abb. Gebunden. EUR (D) 54,95.
    ISBN: 978-3-525-36718-6.

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Historische Semantik und Kulturwissenschaft

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Neuere Ansätze zur historischen Semantik bezieht der auf einem internationalen Kolloquium der Universität Freiburg von 2008 (im Anschluss an ein mediävistisches Forschungsprojekt zur Semantik der Gelassenheit) basierende Sammelband exemplarisch auf den erstmals (und nur an einer Stelle in den Erfurter Reden) bei Meister Eckhart belegten und im mystischen Kontext beheimateten Begriff der ›Gelassenheit‹. Ausgehend von der Annahme, dass es keinen statischen Bedeutungsgehalt dieses Begriffs gibt, interessieren sich die Beiträge für seine Bedeutungsvielfalt, genauer für seine jeweilige Herstellung, Etablierung, Verschiebung und Transformation in ganz unterschiedlichen literarischen und pragmatischen Kontexten (vgl. S. 10), denn ›Bedeutung‹ sei »eingespannt zwischen diskursiven und literarischen Praktiken der Bedeutungsherstellung einerseits und performativen Lektüren andererseits« (S. 9). Der eingeschlagene Weg zur Erhellung des Bedeutungsspektrums der Gelassenheit über einen historisch-semantischen und einen pragmatischen, performative Lektüren einbeziehenden Zugang, der u.a. Christian Kienings grundsätzlichen Überlegungen zur Koppelung von historischer Semantik und anthropologischen und kulturhistorischen Fragestellungen folgt, 1 sucht demnach die »komplexe kulturwissenschaftliche Frage nach der Bedeutung der Gelassenheit für die religiöse Kultur des späten Mittelalters nicht auf ein lexikalisches oder begriffsgeschichtliches Spezialproblem [zu] reduzieren, sondern bindet die unterschiedlichen sprachlichen Ebenen der Bedeutung an die kulturellen Praktiken ihrer Erzeugung zurück« (S. 12). Dementsprechend bietet der Sammelband eine Vielzahl an Belegstellensammlungen, exemplarischen Einzelanalysen und Semantisierungsmodellen zum »Spezialbegriff spätmittelalterlicher Frömmigkeit« (S. 12), zu seiner Wortbildung, seiner Wortfamilie, seinen Kollokationen sowie seinen ins Leben hineinreichenden, praktischen Anwendungsbereichen.

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Besondere Aufmerksamkeit verdienen dabei die dem Begriff inhärenten Spannungen und Paradoxien wie beispielsweise diejenige vom ›Weg‹ zur Gelassenheit über (Tugend-)Übungen und dem Zustand der Gelassenheit, der wiederum eine Negierung der Gelassenheit samt der Bemühungen um sie voraussetzt, ferner die Vorstellung einer intensiven Gottsuche, die indes sogar das Lassen Gottes impliziert (Gott um Gottes willen lassen), oder das Nichts-Wollen, das wiederum eine allumfassende Erkenntnis inkludiert, oder schließlich die Selbstvernichtung, die eine Selbsttranszendierung impliziert. Vor diesem Hintergrund paradoxaler mystischer Denkfiguren wird schließlich deutlich, wie die Semantik der Gelassenheit auch ihr eigenes Referentialisierungsproblem umkreist (vgl. S. 16).

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Onomasiologische und semasiologische Perspektive

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Für eine erste Annäherung an das Konzept der ›Gelassenheit‹ bietet sich freilich ein Blick auf die griechischen und lateinischen Begriffstraditionen an. Onomasiologisch (ein Begriff jenseits der Einzelsprache) betrachtet und diachron aufgefächert, lässt sich leicht ein Wortfeld mit den griechischen, der paganen Philosophie entstammenden Termini apátheia als Unempfindlichkeit in der Stoa, ataraxía als Gemütsruhe und Gleichmut im Epikureismus und euthymía als Wohlgemutheit bei Demokrit, den lateinischen Begriffen tranquillitas und serenitas bei Seneca, Gellius, Augustinus, Bernhard von Clairvaux, Hildegard von Bingen, Thomas von Aquin sowie impassibilitas bei Johannes Scotus Eriugena, Thomas von Aquin und ihren Konzeptionen der Seelenruhe sowie der deutschen Bezeichnung gelâzenheit bei Meister Eckhart abstecken, wie es Seraina Plotke nachzeichnet. In Kombination mit einer semasiologischen Betrachtungsweise geraten zudem die Bedeutungsvielfalt und die Verwendungskontexte des jeweiligen Wortes in den Blick. So lässt sich als das distinkte Sem zwischen ruowe und gelâzenheit (als zentralen Begriffen im onomasiologischen Feld von ›Gelassenheit‹) bei Meister Eckhart beispielsweise die Affektlosigkeit ermitteln, die nur die Ruhe kennzeichne (vgl. S. 88). Ingesamt wird auf diese Weise deutlich, dass die Wörter und ihre Bedeutungen soziale und philosophische Konzepte schaffen und umgekehrt Kulturpraktiken und Wissensbestände zu Änderungen des Wortgebrauchs führen können.

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Performativität und Pragmatik

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Insbesondere die performativen Lektüren mittelalterlicher geistlicher Texte, die die Aufführung und Habitualisierung der Gelassenheit ins Zentrum stellen, sind anregend. Unter Bezugnahme auf Judith Butlers und Jacques Derridas Performanzbegriff erhellt Andrea Zech die performativen Inszenierungen eines vernichtenden Selbst im Mirouer des simples ames der als Ketzerin verurteilten und bis heute faszinierenden Mystikerin Marguerite Porete. Die stufenweise und spiralförmig angelegte Aufgabe des Selbst und des Eigenwillens, das Sich-selbst-Verlassen, um sich Gott überlassen zu können, ist von grammatischen Negationen, d.h. von inszenierten Wiederholungen von Negativformen (ne, rien, nient), verneinenden Präpositionalwendungen (sans) und Verben des Lassens (relenquir, dérober, descombrer) oftmals in Form von (iterativen) Selbstzitaten geprägt, die als points de départ für Variationen, Verschiebungen und Umsemantisierungen dienen. Diese grammatischen Negativierungen als Pendant zur Selbstvernichtung sind zudem von einer Verschiebung der Sprecherrollen begleitet, der eine mnemotechnische Funktion (vgl. S. 54) zuzuschreiben ist. Die performative Umsetzung des Selbst und seine unmittelbare Aufführung garantieren bemerkenswerterweise Klangfolgen als Präsenzeffekte. So werden Re-Lektüren eröffnet und eine Einladung zur Selbstvernichtung und Transzendierung vor dem Horizont einer absoluten Gelassenheit offeriert.

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Auch Susanne Bernhardt profiliert die spirituelle Performativität, indem sie die implizite Pragmatik in der Vita Heinrich Seuses und damit das praktische Wissen um die Gelassenheit in seiner Spannung zum abstrakten Bedeutungswissen herausstellt. Eine reine Wortgeschichte ergänzend, erweist sich auch in diesem Fall, dass die Einbeziehung historischer Kommunikationssituationen und textstrategischer Verfahren die Analyse der Semantisierungen von Gelassenheit begleiten muss, wenn sich letztlich der Lebensvollzug als entscheidend erweist. Auf der lexikalischen Ebene umfasst die semantische Bandbreite von Gelassenheit Gleichmut – Gottvertrauen – Gottverlassenheit – Geduld – Leiden. Betrachtet man die »Gelassenheit im Vollzug« (S. 125), ist die Performativität des Textes erstens durch eine »Semantik der Körpersprache« (S. 125) gekennzeichnet, zweitens durch eine mittels Zitationen evozierte Applizierung der Leidensfigur des Dieners auf die Passion Christi und drittens durch einen Wechsel von der Figurenrede zur Erzählerdarstellung. Insbesondere das »Einschreiben in den Passionskörper« (S. 126) verdient Beachtung. Denn erst mithilfe der Inszenierung der Haltung des stillen Körpers und des Schweigens der Figur durch die Erzählerperspektive oder auch in der Angleichung an Christi aufgrund von Christus-Zitaten kann sich Gelassenheit ereignen. Zwar überhöht das Handlungswissen auf diese Weise das Sprachwissen, doch wäre anzumerken, dass diese Zitate auch wiederum einem eigenen sprachlichen Wissensrepertoire zuzuordnen sind. Schließlich bieten Klangeffekte eine Möglichkeit, die Leidenssprache mit dem Sprechen über die Willensaufgabe zu kontrastieren. Dabei gerät auch die narrative Metareflexivität des Textes als literarisches Medium in den Blick. Gemäß einer doppelten Erzählsituation im exemplarisch besprochenen Kapitel 38 der Vita, wonach der Erzähler und der Diener identisch sind, kann die Aufgabe des Eigenwillens, das Leiden ›still gelebt‹ und zugleich erzählt und damit auch die Diskrepanz zwischen Vollzug (Leben) und Sprechenmüssen (Mitteilung) entschärft werden. Die »Kunst rechter Gelassenheit« als Zentrum von Seuses Vita besteht demnach darin, religiöses Wissen nicht nur zu exemplifizieren, sondern auch zu habitualisieren (vgl. S. 137).

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Daran anknüpfend zeigt Johanna Thali anhand des 13. Kapitels der Vita in ihrem Beitrag zu den für die Frömmigkeitskultur wichtigen Leitvokabeln andacht und betrachtung, dass die Leidensbetrachtung Christi auf »Nachahmung und emotionale Teilhabe« (S. 247), auf Empathie abzielt, da aufgrund einer den »Körper und Geist involvierenden Betrachtungs- oder Imagintionstechnik« (S. 247) die Passion unmittelbar miterlebt, eine Partizipation am Heilsgeschehen präsentisch ermöglicht und so sogar eine Angleichung an Christus im Leiden erlebt werde. Daraus wird ersichtlich, wie eng betrachtung und gegenwúrtikeit zusammenstehen (vgl. S. 27). Diese (Imaginations-)Übung der compassio dient der Einübung in die Haltung der Gelassenheit, wie es auch Peter Ulrich festhält. 2 Neben Christus als »Identifikationsfigur zum Miterleben der Passion« (S. 247) gerät interessanterweise Maria in den Blick. Auch die Bildtafeln der Passion oder die schmerzerfüllte Gottesmutter in den Hundert Betrachtungen fordern bei Seuse zur compassio und zum Miterleben auf (vgl. S. 251 f.). Die literarisch ›unverbrauchte‹ und mit einem »spirituellen Mehrwert« (S. 252) ausgezeichnete Volkssprache mit einer semantischen Offenheit ihrer Terminologie ist insofern tatsächlich für Laien wie für Gebildete besonders geeignet, um »den Rezipienten auch emotional zu berühren, um Affekte wie die compassio mit dem leidenden Christus zu stimulieren und so den Lesakt zur (Leidens-)Erfahrung werden zu lassen« (S. 229).

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Neben Heinrich Seuse ist Johannes Tauler als weiterer Gewährsmann für eine Etablierung des Begriffs der ›Gelassenheit‹, der gelossenheit, beizuziehen, zumal im Eckhartschen Gesamtwerk ohnehin die verbalen und adjektivischen Formen des Lassens bzw. das Abstraktum abegescheidenheit dominieren, wohingegen die anderen beiden rheinischen Mystiker das Abstraktum gelâzenheit erst etablieren. Bei Tauler wird insbesondere – nicht zuletzt durch den inflationären Gebrauch des Wortes und den immer wiederkehrenden Kollokationen –, wie Imke Früh zeigt, eine »Usualisierung des Neologismus gelossenheit« (S. 153) (mit den drei Hauptbedeutungen Losgelöstheit, Gottergebenheit, Verlassenheit) befördert und zugleich verdeutlich, dass gelossenheit »als Grenzkategorie zum Transnationalen« (S. 149) eine »semantische Lücke« (S. 149) darstellt, die nur umkreist werden kann, da das Erlebnis der unio jenseits der sprachlichen Vermittlung anzusiedeln ist. Im Vordergrund steht für Tauler auch nicht eine komplexe, definitorische Begriffserfassung, sondern wiederum die Verinnerlichung und der Nachvollzug einer Haltung über assoziative und meditativ-repetitive Elemente in seinen Predigten (in Form einer breiten Verwendung der Wortfamilie, formelartig wiederkehrenden Kollokationen sowie syntagmatischen Bezügen zu Begriffen der geistlichen Literatur wie Gnade, Minne und Demut) (vgl. S. 169), die dank ihrer performativen Ausrichtung so auch spannungsvoll eine innere Entleerung befördern.

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Transformationen

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Die Vorstellungen vom Lassen des eigenen Willens und die Ergebenheit in den Willen Gottes als Bedingung für die unio mystica sind im Anschluss an Tauler auch für die Theologia Deutsch zentral, was Markus Enders herausstellt. Unter Gelassenheit versteht Jakob Böhme vergleichbar die Bereitschaft zur Willensaufgabe im Dienste einer Restitution der Einheit von Gott und Mensch im Anschluss an eine Aufarbeitung des Sündenfalls und eine Aufhebung der »Selbstheit« (S. 283), bei ihm allerdings eher als Gnadengabe akzentuiert.

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Fazit

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Eine Verbindung von wortsemantischen Untersuchungen mit textpragmatischer Diskursanalyse unter Einbeziehung historisch-kultureller Hintergründe erweist sich mit Blick auf die geistliche Literatur und den religiösen Wortschatz des Mittelalters generell als fruchtbar, bedenkt man zudem, dass zentrale Begriffe der Mystik mit ihren Abstraktbildungen das mittelhochdeutsche und neuhochdeutsche Vokabular entscheidend erweitert haben und dass sie zudem aufgrund ihres auf Habitualisierung abzielenden Potentials direkt ins (geistliche und einzelpersönliche) Leben zu greifen vermögen. Lesenswert und aufschlussreich sind insbesondere die Aufsätze zum Handlungswissen der Gelassenheit, wie oben aufgezeigt. Indem nicht nur die sprachlichen Begriffe im Umfeld der Gelassenheit, nebenbei Interferenzen zwischen Latein und Volkssprache, diskutiert und gesichtet, sondern auch kulturelle Praktiken, insbesondere im Bereich der religiösen Kultur, befragt werden, leistet der Sammelband nicht zuletzt einen gewichtigen Beitrag zur Bedeutung von Transformationen einschlägigen religiösen Vokabulars für ein neuartig religiöses, auch auf Praktikabilität ausgerichtetes Wissen.

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Inwiefern dieses praktische Wissen näherhin als ›produktives Nichtwissen‹ zu beschreiben ist, wäre überlegenswert. Auch der Zusammenhang zwischen affektiver Anteilnahme und (dem Ziel) geduldiger, apathischer Annahme des Leidens wäre vielleicht noch auszuloten. Während die semantische und die performative Dimension des Begriffs überzeugend vorgestellt wird, geraten genuin philosophische Interpretationen teilweise aus dem Blickfeld. Es mag Geschmackssache sein, ob sich die von Bent Gebert in seinem Beitrag zum Cherubinischen Wandersmann verwendeten (Heideggerianisch aufgeladenen) Termini, wie »Gelassenheitstechnik« (S.  289), »Unterbrechung« (S. 289), »Nicht-Technikförmiges« (S. 291) oder »Sinntechnik« (S. 313) als ›wissenschaftliche Wortfelder‹ für Gelassenheit eignen. Ausbaufähig sind die Überlegungen zum räumlichen Verständnis von Gelassenheit in Anlehnung an mystische Topographien, die Julia Weitbrecht in ihrem Beitrag zur »Weltflucht« (S. 62 ff.) in legendarischen Adaptationen des hellenistischen Liebes- und Reiseromans streift. Zu erkunden wäre, wie die Räume von Flucht und Isolation als Mittel der Selbstheiligung genau beschaffen sind und wie die Differenz trotz bleibender Bezugnahme auf den sozialen Raum als Bezugsgröße gestaltet ist. Auch wäre zu überlegen, mit welchen Raumtheorien solche mystischen ›Gegenorte‹ (um Foucaults Heterotopie-Begriff beizuziehen) der Gelassenen angemessen zu beschreiben sind und wie das Verhältnis zwischen den ›inneren‹ und den äußeren Räumen ausgestaltet ist.

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Die Gliederung des Bandes in die Rubriken »Semantiken des Lassens«, »Etablierung und Übernahme« und »Transformation und Aneignung« bietet sich an, wobei der zentrale Aufsatz zu den »Semantiken der Seelenruhe« (S. 80 ff.) von Seraina Plotke als Überblick den Band besser hätte eröffnen mögen.

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Weitere semantische und kulturwissenschaftliche Studien zu zentralen Begriffen der geistlichen Literatur des Mittelalters sowie eine Fortschreibung der Semantik der Gelassenheit über die genannten Autoren hinaus wären sicherlich lohnenswerte Unternehmen.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Christian Kiening: Gegenwärtigkeit. Historische Semantik und mittelalterliche Literatur. In: Scientia Poetica 10 (2006), S. 19–46.   zurück
Peter Ulrich: Zur Bedeutung des Leidens in der Konzeption der ›philosophia spiritualis‹ Heinrich Seuses. In: Rüdiger Blumrich / Philipp Kaiser (Hg.): Heinrich Seuses Philosophia Spiritualis. Quellen, Konzept, Formen und Rezeption. Wiesbaden 1994, S. 124–138, hier S. 132.   zurück