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1. Perspektivierung, Fokalisierung, Fokussierung und Sympathiesteuerung
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›Perspektive‹ – weites Bild oder harte Begriffe?
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Mit der Vokabel ›Perspektive‹ haben Interpreten schon lange gearbeitet, sie haben damit recht unterschiedliche Phänomene beschrieben.
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Eine exakte Definition des Begriffs sucht man oft vergeblich. ›Perspektive‹ war und ist vielleicht nicht zuletzt deshalb ein leistungsfähiger Begriff in der literarischen Analyse, weil er selbst in bildlicher Weise verwendet werden kann und weil er oft bildliche Aspekte der Darstellung berührt: Der Begriff dient als Bindeglied zwischen dem digital-linearen Charakter der Sprache und dem analog-simultanen Charakter einer visuellen Wahrnehmung. Doch ›Perspektive‹ kann nicht nur auf Wahrnehmungsvorgänge, sondern auch auf subjektive Figuren- oder Gruppenstandpunkte, Sichtweisen beziehungsweise Blickwinkel oder auch auf die Aussicht für die Zukunft bezogen werden.
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Häufig liest man in Studien Formulierungen wie »Aus der Perspektive der Figur X stellt sich der Vorgang anders dar als aus auktorialer Perspektive«. Präziser wäre eine Formulierung, die die Abweichungen der Figurenperspektive von der Erzählerperspektive referiert, insbesondere den Informationsstand und bislang erzählte Dispositionen der Figur. Auch eine Formulierung wie »Dieser Vorgang wird aus der Perspektive von Figur X erzählt« würde sich präziser fassen lassen – beispielsweise so: »Die Figur X ist als einzige Figur über eine längere Passage intern fokalisiert, bei anderen Figuren wird auf Bewusstseinsdarstellung verzichtet, der Raumfilter folgt der Figur X.« In beiden Fällen gilt: Unter Verzicht auf das letzte Quäntchen Präzision versteht man auch mit der bildhaften ersten Formulierung was gemeint ist und mitunter kann der Verzicht auf Präzision, kann metaphorische Rede mit einem Gewinn an stilistischer Eleganz verbunden sein.
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Die Erzähltheorie konnte sich damit nicht begnügen – hier muss es um Präzision gehen. Sie hat einerseits eingewandt, eine metaphorische Begriffsverwendung sei zu vage,
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anderseits schien man mit dem Begriff ›Erzählperspektive‹ scharf konturierte Aussagen über Erzählsituationen treffen zu können. Franz K. Stanzel hat Begriffe wie ›Ich-Erzählsituation‹ oder ›personale Erzählsituation‹, ›Innenperspektive‹ oder ›Außenperspektive‹ eingeführt.
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Gérard Genette hat gegen Stanzel ins Feld geführt, dass man Stellung und Ort der narrativen Instanz separat erfassen und ›Stimme‹ und ›Modus‹ unterscheiden müsse: Genette war es wichtig, die Fragen »Wer spricht« und »Wer nimmt wahr« zu trennen – Stanzel hatte die ›personale Erzählsituation‹ sowohl über Stellung und Ort als auch über die vorherrschende ›Innenperspektive‹ charakterisiert.
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Seit Genette verwenden wir ebenso exakte wie sperrige Begriffspaare wie ›homodiegetisch‹ versus ›heterodiegetisch‹ (der Erzähler ist als Figur am Geschehen beteiligt oder eben nicht) und ›extradiegetisch‹ versus ›intradiegetisch‹ (es wird von einem Ort außerhalb der erzählten Welt aus erzählt oder von innerhalb).
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Fokalisierung: Wer weiß was und wer sagt was?
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Die zweite Frage (»Wer nimmt wahr«) führt Genette zum Fokalisierungsbegriff. Bei einer ›internen Fokalisierung‹ – so Genette – weiß die Figur genauso viel, wie der Erzähler sagt. Es ist also bei einer internen Fokalisierung möglich, über das Innenleben der Figur Auskunft zu geben (Gedanken, Intentionen, Emotionen etc.). Allerdings darf der Erzähler auch nicht mehr sagen, als die Figur wissen kann: zum Beispiel darf der Erzähler nicht nebenbei erwähnen, welche Vorgänge an einem Ort zeitgleich vor sich gehen, den diese Figur nicht sehen kann. Auch Vorgriffe in die Zukunft (Prolepsen) sind bei einer internen Fokalisierung nicht möglich. Eine Informationsvergabe von einem allwissenden Erzähler fasst Genette als ›
Nullfokalisierung‹
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, hier sagt der Erzähler mehr, als eine Figur wissen kann. Bei einer ›externen Fokalisierung‹ sage dagegen der Erzähler weniger, als die Figur weiß.
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Allerdings geht es bei Genettes Unterscheidung von interner, externer oder Nullfokalisierung nach dem Kriterium, ob der Erzähler ebensoviel, weniger oder mehr sage, als die Figur weiß, de facto eher um die Frage nach der Informationspolitik des Erzählers als um die Frage, wer wahrnimmt. Wenn man stattdessen anknüpft an Begriffe wie Übersicht, Mitsicht oder Außensicht, so spricht man über den Bereich der Rezeptionssteuerung: Ein Rezipient kann den Eindruck haben, die Geschichte mit den Augen einer Figur wahrzunehmen (Mitsicht), oder eine Figur nur von außen zu sehen (Außensicht). Solche Rezeptionsphänomene sind Folgen von Fokalisierungstechniken. Fokalisierungstechniken kann man in den Texten aufspüren. Nur bei Mitsicht geht es überhaupt um Wahrnehmungsvorgänge – und zwar um textinterne Wahrnehmungsvorgänge: Wenn erzählt wird, dass eine Figur etwas wahrnimmt, handelt es sich dabei um eine Fokalisierungstechnik (interne Fokalisierung). Bei Außensicht und Übersicht geht es nicht um textinterne Wahrnehmungsvorgänge, sondern um Informationsrestriktion beziehungsweise um den Verzicht darauf, die Informationspolitik an dem begrenzten Wissen, das in der erzählten Welt möglich ist, auszurichten. Es dürfte sinnvoll sein, bei der Unterscheidung der drei Fokalisierungstypen die Frage nach einer textinternen Wahrnehmungsinstanz aufzugeben. Die Frage »Wer nimmt wahr« verführt dazu, Fokalisierungsfolgen und Fokalisierungstechniken zu vermengen.
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Fokalisierungseffekte werden nach Gert Hübner sowohl durch Bewusstseinsdarstellung als auch durch Filtertechniken bewirkt.
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Hübner betrachtet in Ergänzung zu Genette auch die Erzählerstimme im Umkreis der Darstellung von Figureninnenleben. Erzähleräußerungen können Fokalisierungseffekte abschwächen: Etwa dann, wenn sich die Erzählerstimme von einem Bewusstseinsbericht distanziert (›
Dissonanz‹; fehlende Distanzierung: ›
Konsonanz‹), und wenn die Erzählerstimme den Inhalt des Bewusstseinsbericht reflektierend erörtert, kann der Fokalisierungseffekt reduziert sein (›
analytische‹ Bewusstseinsdarstellung; fehlende Reflexion: ›
synthetisch‹). Fokalisierungseffekte können sich nach Hübner auch dadurch einstellen, dass die Erzählung einer Figur konsequent durch Raum und Zeit folgt (›
Raumfilter‹, ›
Zeitfilter‹) und indem Einblicke in die Gedankenwelt der Figur gegeben werden (›
Innensichtfilter‹). Beim Filter-Begriff kommt es nicht auf einzelne Textbefunde an, sondern darauf, ob im Erzählvorgang eine Erzählpolitik konstituiert wird: So kommt es etwa beim Innensichtfilter darauf an, ob es der Text als Regel etabliert, dass die Gedankenwelt dieser Figur prinzipiell für den Rezipienten zugänglich ist oder ob sie prinzipiell unzugänglich ist.
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Da Hübner die Erzählerstimme einbezieht, wird es möglich, von stärkeren oder schwächeren Fokalisierungseffekten zu sprechen. Damit können Erscheinungen ins Fokalisierungsmodell integriert werden, die Genette unter Distanz diskutiert: Ein Bewusstseinsbericht, den der Erzähler dissonant-analytisch problematisiert, führt zu mehr Distanz beziehungsweise zu einem schwächeren Fokalisierungseffekt als ein unkommentiertes Gedankenzitat.
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Grundsätzlich ist eine wörtlich zitierte gesprochene Rede oder eine wörtlich zitierte Gedankenrede eher dazu geeignet, die Distanz zu verringern, als eine indirekt wiedergegebene Wort- oder Gedankenrede. Eine noch größere Distanz kann sich bei einem bloßen Gesprächsbericht oder bei einem Bewusstseinsbericht einstellen.
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In der Analysepraxis ist etwa bei wertenden Adjektiven wie schœne die Entscheidung gelegentlich nicht einfach, ob ein Gegenstand mit den Augen einer intern fokalisierten Figur gesehen und bewertet wird, oder ob es sich eher um einen auktorialen Bericht handelt, wenn die Figur noch im gleichen Raum anwesend ist und den Gegenstand sehen könnte. Während solche Vorgänge bei Hauptfiguren weitgehend mit dem makroskopisch konzipierten Begriff des Raumfilters beschrieben werden können, steht diese Möglichkeit bei Nebenfiguren, die nicht als Filterinstanzen dienen, nicht zur Verfügung. Ich schlage daher vor, das Fokalisierungsmodell punktuell zu erweitern und potentielle Wahrnehmbarkeit in das Fokalisierungsmodell zu integrieren: Auch ›potentielle Wahrnehmbarkeit‹ kann graduell zu Fokalisierungseffekten beitragen.
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Umstritten ist Genettes Definition der externen Fokalisierung. Während bei interner Fokalisierung und Nullfokalisierung im Text geprüft werden kann, ob Figurenwahrnehmungen mitgeteilt werden oder ob etwa durch Vorgriffe mehr mitgeteilt wird, als die Figur wissen kann, ist es nicht immer greifbar, ob weniger mitgeteilt wird, als die Figur weiß: Ein Erzähler kann aufgrund des linearen Charakters der Sprache stets nur weniger sagen, als eine Figur weiß. Ich schlage vor, dann von
externer Fokalisierung zu sprechen, wenn der Erzähler darauf hinweist, dass eine Figur über Wissen verfügt, das er nicht mitteilt – so etwa in Genettes Beispiel »James Bond schien eine Erleuchtung zu kommen«.
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Dieses Kriterium erlaubt eine Abgrenzung zur Paralipse, bei der ebenfalls das Wissen einer Figur ausgeblendet wird; allerdings fehlt bei einer Paralipse ein Hinweis darauf, dass die Figur über einschlägiges Wissen verfügt. Von der externen Fokalisierung lässt sich die interne durch das Kriterium unterscheiden, dass es bei
interner Fokalisierung keine Signale dafür gibt, dass der Erzähler weniger mitteilt, als die Figur weiß.
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Figurenperspektive und multiperspektivisches Erzählen
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Während Fokalisierung auf der discours-Ebene angesiedelt ist, geht es bei dem Begriff
Figurenperspektive nicht um das »Wie« der erzählerischen Vermittlung, sondern vorwiegend um Aspekte der histoire-Ebene. Nach Ansgar Nünning sind für die Beschreibung einer Figurenperspektive vier Kriterien wichtig: (1) Informationsstand, (2) psychologische Disposition, (3) Orientierung an Werten und Normen sowie (4) die Triebstruktur:
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(1) Der jeweilige Informationsstand einer Figur ist als die Summe aller Erfahrungen und Handlungen der Figur anzusehen; diese zeigen sich in den Fähigkeiten und dem Wissen einer Figur, die sich mit jeder weiteren Handlung verändern. (2) Die psychologische Disposition einer Figur determiniert deren erworbene Bedürfnisse sowie deren Motivation und Intention; daher wirkt die fiktive Persönlichkeitsstruktur einer Figur unmittelbar handlungsbestimmend. (3) Die Werte und Normen einer Figur bestimmen ebenfalls deren Bedürfnisse, Intentionen und Motivationen und haben daher handlungsleitende Funktion; jede Handlung gibt implizit Aufschluß über die zugrundeliegenden Werte und Normen des Aktanten. (4) Die Triebstruktur drückt sich in den angeborenen Bedürfnissen aus, die ihrerseits durch die gesellschaftlichen Normen reguliert und beschränkt werden.
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Aufgrund der Unvollständigkeit fiktionaler Welten kann eine Figurenperspektive nur unvollständig im Text repräsentiert sein.
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In Analogie zur Figurenperspektive spricht Nünning von einer
Erzählerperspektive (nicht zu verwechseln mit dem Begriff der ›Erzählperspektive‹), auch wenn es in vielen Texten nur wenige Informationen gebe, die es dem Rezipienten erlauben, ein Bild von der Erzählinstanz zu entwerfen. Hierbei geht es um
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das Persönlichkeitsbild, das Rezipienten auf der Grundlage der im Text enthaltenen Informationen von der Erzählinstanz entwerfen. Die Perspektive einer Erzählinstanz läßt sich demzufolge als das fiktive Voraussetzungssystem des Sprechers definieren, der auf der erzählerischen Vermittlungsebene situiert ist. Es wird bestimmt durch sein Wissen, seine psychologische Disposition, seine Intentionen sowie seine Werte und Normen.
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Von multiperspektivischem Erzählen sprechen Vera und Ansgar Nünning, wenn unterschiedliche Erzähler- und Figurenperspektiven vorhanden sind; also etwa dann, wenn an unterschiedliche Fokalisierungsinstanzen verschiedene Standpunkte gebunden sind. Die Perspektivenstruktur eines Textes kann beispielsweise anhand dieser Fragen analysiert werden:
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• Wie viele Perspektiventräger sind in einem Text vorhanden? (Umfang des Perspektivenangebotes)
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• Wie viele Informationen erhält der Rezipient über eine Figur – inwieweit erhält somit die jeweilige Figurenperspektive konkrete Konturen? (Konkretisierung der Figurenperspektive)
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• Wie starke Konturen erhält die Erzählerperspektive?
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• Sind die Figurenperspektiven beziehungsweise Erzählerperspektiven zuverlässig und glaubwürdig ausgestaltet?
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• Wie steht es um die hierarchische Suprematie der Perspektiventräger (Überordnung der Erzählerperspektive über eine Figurenperspektive)?
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• Quantitative Relationierung: Werden bestimmte Perspektiventräger gegenüber anderen Perspektiventrägern quantitativ privilegiert? (Häufig: Quantitative Privilegierung des Protagonisten auf Kosten des Antagonisten)
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• Lokale Privilegierung: Wie wird ein Perspektiventräger räumlich nahe zu zentralen Vorgängen situiert? (Relevanz für Glaubwürdigkeit des Perspektiventrägers)
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• Wie steht es um Diskrepanzen in Sachen Informationsstand zwischen den Perspektiventrägern? (Stark begrenzte versus privilegierte Perspektiven)
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• Normative Relationierung: Inwieweit repräsentieren einzelne Perspektiventräger relevante Normen und Werte?
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• Inwieweit stimmen die einzelnen Perspektiven inhaltlich überein? Werden – (a) im Fall des additiven Erzählens – mehrere Perspektiven nacheinander entwickelt, die sich zu einem Gesamtbild zusammenfügen; relativieren sich (b) die Perspektiven beim korrelativen Erzählen gegenseitig; oder handelt es sich (c) um ein kontradiktorisches Erzählen, bei dem eine völlige oder weitreichende Nicht-Übereinstimmung der Perspektiven vorliegt?
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Wenn die verschiedenen Perspektiven nicht ohne weiteres synthetisierbar sind, sprechen Vera Nünning und Ansgar Nünning in Anlehnung an Bachtin von einer offenen, dialogischen Perspektivenstruktur, andernfalls von einer geschlossenen, monologischen Perspektivenstruktur: Markenzeichen einer offenen, dialogischen Perspektivenstruktur sei mit Bachtin die »Vielfalt selbständiger und unvermischter Stimmen und Bewußtseine, die echte Polyphonie vollwertiger Stimmen«.
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Bei einer geschlossenen beziehungsweise monologischen Multiperspektivität kann dagegen ein gemeinsamer Konvergenzpunkt der einzelnen Perspektiven ausgemacht werden.
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Fokussierung
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Bei dem Begriff ›Figurenperspektive‹ geht es darum, einen Merkmalssatz zu beschreiben, der die Perspektive einer einzelnen Figur in einem Text konstituiert. Der Begriff ›Fokussierung‹ zielt ebenso wie die ›Figurenperspektive‹ auf das »Was« der erzählten Geschichte, doch geht es mir dabei nicht um singuläre Phänomene. Unter der Leitfrage »Worauf wird fokussiert« abstrahiere ich vom konkreten Textbefund. Es werden Aspekte der erzählten Welt gruppiert, die in mehreren Texten vorhanden sind. Bei ›Fokussierung‹ kommt also der Inhalt einer Erzählung in den Blick – ein Aspekt, der beim Fokalisierungsmodell außen vor bleibt. Insbesondere bei gesprochenen Figurenreden erhoffe ich mir von den Fokussierungstypen ein innovatives analytisches Potential, da mit dem Fokalisierungsinstrumentarium kaum Aussagen über Figurenrede möglich werden. Im Rahmen meiner Überlegungen zur Confidente / Zofe habe ich zunächst fünf
Fokussierungstypen vorgeschlagen – diese Liste ist sicherlich erweiterungsfähig:
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• Als
Raumkontext bezeichne ich die Art und Weise, wie eine Figur im Raum dargestellt wird (beispielsweise vertikale Anordnung der Figuren). Der räumliche Kontext kann insbesondere dann wichtig werden, wenn eine semantische Beziehung zwischen der Figur und den räumlichen Gegebenheiten nahegelegt wird – etwa beim Kniefall oder beim Steigbügeldienst.
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• Von einer
Positionierung spreche ich, wenn einer Figur ein Standpunkt zu einem zentralen Thema zugeschrieben wird. Wird der Standpunkt in Form von Bewusstseinsdarstellung wiedergegeben, handelt es sich um eine interne Positionierung, wird der Standpunkt in Figurenrede berichtet, handelt es sich um eine externe Positionierung.
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• Eine
Perspektivenabweichung liegt vor, wenn der Blick des Rezipienten darauf gelenkt wird, dass die Perspektive einer Figur nicht mit anderen Informationen, die über die erzählte Welt verfügbar sind, übereinstimmt – etwa, wenn einer Figur Informationen fehlen, die anderen Figuren bekannt sind. Eine
Tabula-rasa-Sicht ist ein Sonderfall der Perspektivenabweichung: Hier fehlen einer Figur alle Informationen über die Handlungen einer anderen Figur, die dem Rezipienten bekannt sind.
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• Bei einer
Perspektivenübernahme übernimmt eine Figur die Sichtweise einer anderen Figur auf ein Ereignis oder auf einen Vorgang in der erzählten Welt. Dabei kann sich die Figur den Standpunkt der anderen Figur zu eigen machen, oder sie kann auch nur anerkennen, wie man ein Ereignis von einer anderen Warte aus wahrnehmen könnte, ohne den Standpunkt der anderen Figur zu teilen. Bei einer
versuchten Perspektivenunterschiebung (Sonderfall der Perspektivenübernahme) versucht eine Figur erfolglos, einer anderen Figur eine bestimmte Sichtweise nahezulegen.
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• Bei einer
Themenvorgabe erklärt eine Figur ein Thema zum dominanten Diskurs. Als Sonderfall der Themenvorgabe spreche ich von einer
Festlegung der eigenen Perspektive, wenn einer Figur die Möglichkeit eingeschrieben ist, über ihre eigene Perspektive verfügen zu können. Anders als bei der Positionierung geht es hier nicht nur darum, einen Figurenstandpunkt darzustellen, sondern darum, dass eine Figur einen Vorschlag einbringt, wie ein Ereignis oder ein Vorgang zu verstehen sei.
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Während sich Fokalisierung auf die Art und Weise des Erzählens bezieht, handelt es sich bei Fokussierung in höherem Maße um ein figurenbezogenes Konzept. Damit kann beispielsweise beschrieben werden, wie sich Veränderungen in der Konfiguration der Figurenkonstellation ergeben – etwa dann, wenn eine Zofe im Sinn hat, ihre Herrin dazu zu bewegen, eine Liaison mit einem Ritter einzugehen, dem die Herrin zunächst ablehnend gegenübersteht. In diesem Fall kann etwa zunächst in einer internen Positionierung vorgeführt werden, wie Haupt- und Nebenfiguren zu einer möglichen Minnebindung stehen. Die Analyse von Themenvorgaben und externen Positionierungen kann zeigen, wie in einem Gespräch zwischen Herrin und Zofe die Liaison zunehmend mehr in einem positiven Licht erscheint. So kann es schließlich dazu kommen, dass die weibliche Hauptfigur die Perspektive der Zofe übernimmt, die die Liaison befürwortet – so etwa bei Laudine im ›Iwein‹.
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Sympathiesteuerung
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Unter ›Sympathiesteuerung‹ geht es um Techniken der Rezeptionssteuerung, die im Text verankert sind; es geht nicht um individuelle Vorlieben oder um die Sympathiezuwendung eines einzelnen, konkreten Rezipienten. Es gilt also, textuelle Signale zu untersuchen, die geeignet sind, den Rezipienten dazu zu veranlassen, einer Figur gegenüber eine positive oder negative Haltung einzunehmen. Ein solches Konzept muss auf einen Rezipienten setzen, der bereit ist, sich auf die narrativen Strategien des Textes einzulassen, und der nicht etwa eine persönlich-individuelle Abneigung gegen einen Namen auf eine Figur mit diesem Namen überträgt; insoweit wird mit einem ›Musterleser‹ kalkuliert.
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In Anschluss an Manfred Pfister werden zwei Ebenen mit zwei Polen unterschieden: ›Sympathie‹ versus ›Antipathie‹ sowie ›Distanz‹ versus ›Engagement‹.
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Nach Verena Barthel kann ›Empathie‹ – ein Einfühlen in die Gedanken- und Gefühlswelt eines anderen Menschen – von ›Sympathie‹ dadurch unterschieden werden, dass bei Sympathie die positive Wertschätzung des anderen hinzutritt.
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Nach Hans J. Wulff ruht bereits der Empathie-Begriff auf zwei Säulen: Empathie kann sowohl als Gefühlsverständnis als auch als Gefühlsübernahme beschrieben werden, je nachdem, ob der Rezipient nur die Regung der Figur rekonstruiert oder ob er sich die Gefühle der Figur zu Eigen macht.
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Mit Blick auf Hermann Lindner lässt sich diskutieren, inwieweit Faktoren, die einerseits die Emotion und anderseits die Reflexion betreffen, für Rezeptionssteuerungsprozesse relevant sind.
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In Abgrenzung zu Lindner halte ich die emotionale Seite für wichtiger: Sympathiesteuerung kann auch ohne die Kategorie Reflexion auskommen, jedoch kaum ohne die Kategorie Emotion. Eine Reflexion darüber, warum eine Figur sympathisch oder unsympathisch ist, kann entweder zu Distanz führen – dann, wenn ein Sympathiesteuerungsverfahren durchschaut wird –, oder zu einer Verstärkung von Sympathiezuwendungen, nämlich dann, wenn der Rezipient seine Wertschätzung etwa auch mit dem normativ positiven Verhalten einer Figur begründen kann. Da man sich aber mit Prognosen über das Verhalten einzelner Rezipienten auf ein gefährliches Terrain begibt, und da die Neigung und Fähigkeit zur Reflexion bei verschiedenen Rezipienten unterschiedlich ausgeprägt sein dürfte, betrachte ich die reflektierende Komponente als fakultative Komponente bei Sympathiesteuerungsprozessen.
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Sympathiesteuerung kann auf offener Beeinflussung – etwa bei evaluierenden Erzählerkommentaren – oder auf manipulativen Beeinflussungstechniken beruhen: Ein manipulatives Sympathiesteuerungsverfahren liegt beispielsweise dann vor, wenn der Erzähler zwar über die Gedanken und Motive des Protagonisten Auskunft gibt, zugleich aber das Innenleben des Antagonisten ausblendet, so dass der Rezipient weniger Chancen hat, sich in den Antagonisten einzufühlen und sein Verhalten zu verstehen. Um zu bemerken, dass der Erzähler Informationen über den Antagonisten vorenthält, ist ein analytisch geschultes Auge notwendig.
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Bereits Pfister hat darauf verwiesen, dass zahlreiche Textphänomene zur Sympathiesteuerung beitragen. Die Lenkungswirkung eines Textes resultiert mit Pfister aus dem Systemcharakter der einzelnen Sympathiesteuerungsverfahren; es handelt sich dabei um ein dynamisch-variables System. Bei der Beschreibung von Sympathiesteuerungsverfahren steht man vor dem Problem, keine zuverlässigen Aussagen darüber treffen zu können, ob etwa eine Handlung einer Figur, die sich an bestimmten Normen orientiert, als ein wirksames Sympathiesteuerungsverfahren einzustufen ist – zumal wenn man den historischen Wandel der gesellschaftlichen Würdigung von Normen und Werten bedenkt. Um dieser Problemlage gerecht zu werden, beschreibe ich zunächst als Sympathiesteuerungsverfahren nur die Ebenen, auf denen Sympathiesteuerung angesiedelt sein kann. Wenn ich also ein Sympathiesteuerungsverfahren beschreibe, dann ist damit noch keine Aussage darüber getroffen, ob dieses Verfahren in einer bestimmten Epoche oder in einem bestimmten Text auch eine Sympathiesteuerungswirkung entfalten wird: Die Wirksamkeit von Sympathiesteuerungsverfahren soll erst in der Analysepraxis diskutiert werden. Demnach betrachte ich eine externe Positionierung, also eine Wertungshandlung in der erzählten Welt, stets als Sympathiesteuerungsverfahren. Wenn jedoch die Figur, die sich positioniert, diskreditiert ist, weil sie etwa lügt und betrügt, handelt es sich bei dieser Positionierung um ein unwirksames Sympathiesteuerungsverfahren. Bei der Textanalyse ist sicherzustellen, dass das Figurenhandeln an historisch einschlägigen Normen gemessen wird. Zudem ist zu prüfen, ob der Text ein bestimmtes Normensystem impliziert, in dem etwa verschiedene Normen hierarchisiert werden.
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Als Sympathiesteuerungsverfahren fasse ich:
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• Die Korrelation von
Normen- und Wertesystem und Figurenhandeln (Werte und Normen, die zur Entstehungszeit relevant waren; im Text privilegierte Werte und Normen; Werte und Normen, die an eine Figur gebunden werden): Werte und Normen sind variabel – nicht nur von Epoche zu Epoche; inwieweit Sympathiesteuerungseffekte erzielt werden können, kann auch beispielsweise von der politischen oder kulturellen Orientierung des jeweiligen Rezipienten abhängig sein. Daher ist es nicht möglich, bestimmte Normen und Werte als Sympathiesteuerungsverfahren aufzulisten. Variabilität ist hier also Gegenstand der Beschreibung der Sympathiesteuerungsverfahren.
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• Die
Bewältigung von Schwierigkeiten (
Aktivität,
Protagonistenbonus,
finaler Erfolg): In zahlreichen Textsorten kann es eine positive Sympathiesteuerung mit sich bringen, wenn eine Figur im Angesicht von Schwierigkeiten nicht verzweifelt und sich in Passivität übt, sondern wenn sie versucht, die Schwierigkeiten zu lösen. Da Hauptfiguren häufiger im Fokus stehen als andere Figuren, werden meist Hauptfiguren häufiger dabei gezeigt, wie sie Schwierigkeiten bewältigen; dem Protagonisten im Ritterroman kommt meist ein Sympathievorsprung vor anderen Figuren zu. Zum Protagonistenbonus trägt unter anderem auch der ›Mere-Exposure-Effekt‹
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bei, nach dem Vertrautheit innerhalb bestimmter Grenzen zu Zuneigung führen kann.
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• Die
Figurenkonstellation (Adjuvant, Opponent, Minnegeschehen; Korrespondenz- und Kontrastbezüge wie Draufgängertum versus Besonnenheit; Gruppenbildung im Figurenensemble; wichtig ist zudem die
Darstellung der Folgen einer Schädigung oder einer Wohltat): Andere Figuren, die zu einer Gruppe von normativ positiv besetzten Figuren zählen, können über die Gruppenzugehörigkeit vom Status der anderen Figuren profitieren. Sympathiebekundungen in der erzählten Welt können unter geeigneten Umständen zur Nachahmung anregen. Handlungen, die den Protagonisten unterstützen, sind eher positiv einzustufen (und umgekehrt). Die Darstellung von Leid nach einer Schädigung (etwa Trauer nach einem Totschlag, Not der Überlebenden) kann zu einer negativen Sympathiesteuerung beitragen.
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• Die
Figurenkonzeption (Figurenmodelle, Stereotype, enigmatische Figuren versus schwarz-weiß-Schema)
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•
Literarische Konventionen (Gattungskonventionen wie Happy-End,
Kontiguitätsbeziehungenvon Figuren und nicht-figuralen Textelementen – Wertungen können hierbei auf die jeweilige Figur übertragen werden, Montagetechniken, das
Äußere der Figurengestaltung wie Schönheit / Hässlichkeit)
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•
Erzählerwertungen (explanative oder evaluative Kommentare zur erzählten Welt; Kommentare, die verallgemeinernd an die erzählte Welt anknüpfen; allgemeine Sentenzen): Erzählerwertungen erlangen einerseits durch die Autorität des Erzählers ein erhebliches Gewicht. Anderseits handelt es sich bei Erzählerwertungen um eine Beeinflussungsstrategie, die weder das Ziel der Beeinflussung verschleiert noch den Umstand, dass dem Rezipienten suggeriert werden soll, eine bestimmte Wertung zu übernehmen. Andere Sympathiesteuerungsverfahren – etwa ein Gedankenbericht zu einer Nebenfigur, die eine Wertung einer Hauptfigur enthält – treten weniger offenkundig vor den Rezipienten; sie haben das Potential, in verdeckter Weise und deshalb mitunter mindestens ebenso effektiv zur Sympathiesteuerungsstruktur beizutragen.
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[51]
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• Fokalisierung (Qualifizierung von Gedankenrede durch die Erzählerstimme; Raumfilter / Zeitfilter / Innensichtfilter; potentielle Wahrnehmbarkeit): Interne Fokalisierung ist ein klassisches Mittel zur Sympathiesteuerung. Die Wiedergabe von Figureninnenleben ermöglicht dem Rezipienten eine Partizipation am Innenleben der Figur. In Analogie zu Hübners Skalierung der Intensität einer Fokalisierung lässt sich sagen, dass eine Innensicht um so eher einen positiven Sympathiesteuerungseffekt ermöglichen kann, je konsonanter und je synthetischer sie ausfällt, wenn also der Erzähler die Gedankenrede nicht kritisch kommentiert oder sie analysiert.
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• Fokussierung: Positioniert sich eine Figur in positiver Weise zu einer anderen positiven Figur oder übernimmt deren Perspektive, so kann auch das zu einer positiven Sympathiesteuerung beitragen; scheitert dagegen eine Figur mit einer Perspektivenunterschiebung oder bleibt es bei einer Perspektivenabweichung, kann das eher auf der negativen Seite verbucht werden. Positive oder negative Aspekte der Raumsemantik (Raumkontext) können auf die Figur übertragen werden.
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[54]
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Wenn alle Sympathiesteuerungsverfahren in die gleiche Richtung zielen – etwa darauf, Oringles in Hartmanns ›Erec‹ unsympathisch erscheinen zu lassen –, wird eine Gewichtung und die Diskussion der Wirksamkeit der Sympathiesteuerungsverfahren relativ einfach; mit Nünning kann man in einem solchen Fall von monoperspektivischem oder monologischem Erzählen sprechen. Bei multiperspektivischem oder dialogischem Erzählen kann etwa eine Erzählerwertung einer Wertungshandlung einer Figur innerhalb der erzählten Welt widersprechen. In diesem Fall gilt: Will der Interpret untersuchen, ob das System der Sympathiesteuerungsverfahren auf eine positive, negative oder ambivalente Darstellung der Figur zielt, so muss er prüfen, ob eine Gewichtung und Hierarchisierung der verschiedenen Lenkungsverfahren möglich ist. Aspekte, die bei der Gewichtung der Lenkungsverfahren berücksichtig werden können, sind:
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• Die
Anzahl der gleichgerichteten (positiven oder negativen) Sympathiesteuerungsverfahren
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• Der
quantitative Umfang der Sympathiesteuerungsverfahren in der Darstellung
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• Textinterne Relevanzmarkierungen (etwa ein Normverstoß gegen eine Norm, die durch Erzählerwertungen oder durch Positionierungen privilegiert wurde)
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• Der
primacy-effect, nach dem ersten Glied in einer Informationskette besonderes Gewicht zukommt (relevant etwa bei Positionierungen)
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• Der
Informationsstand der Figur (so kommt Positionierungen von unzureichend informierten Figuren ein geringeres Gewicht zu)
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• Engagementfördernde Aspekte (unverschuldetes Unglück; s.u., überraschende Elemente versus Automatisierung)
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• Bei Fokussierungen wie einer Positionierung ist der Sympathiestatus der Figur von Belang, an die die Fokussierung gebunden ist, da Rezipienten eher aufgeschlossen für Informationen und Wertungen von sympathischen Sprechern sind. Hier wird es notwendig, in einem
rekursiven Vorgehen auch die Steuerungsverfahren zugunsten der Figur, die sich positioniert, zu ermitteln und zu gewichten.
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Inwieweit ein Sympathiesteuerungsverfahren in einem konkreten Text als ›wirksam‹ beschrieben werden kann, hängt auch davon ab, ob eine Sympathiesteuerung notwendig ist. Für die Frage nach der Notwendigkeit von Sympathielenkung sind zwei außerliterarische Denkfiguren von Belang: Der Tun-Ergehen-Zusammenhang und unverschuldetes Unglück. Wenn eine gute Tat belohnt oder ein Vergehen bestraft wird, scheint das dem Gerechtigkeitsempfinden im christlich-abendländischen Kulturkreis zu entsprechen. Thomas Cramer spricht vom Schuld-Strafe-Syllogismus,
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Hübner verweist auf ein Modell, das in der Religionsgeschichte als
Tun-Ergehen-Zusammenhang bezeichnet wird.
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Im Alten Testament gedeihen Kinder und Vieh, solange das Volk an Gott glaubt; andernfalls kommt es zu Plagen und Hungersnot. Kommt es nach einem Normverstoß einer Figur dazu, dass die Figur leiden muss, kann es im Text aber auch so arrangiert werden, dass das Leiden nicht als gerechte Strafe wahrgenommen werden soll; nach Hübner etwa bei Tristan und Isolde. In diesen Fällen muss auf discours-Ebene gegen den Tun-Ergehen-Zusammenhang anerzählt werden.
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Neben dem Denken in einem Schuld-Strafe-Zusammenhang war im Mittelalter auch das neutestamentliche Modell der Sündenvergebung präsent, in dem Tun und Ergehen entkoppelt sind. Ein Unglück kann auch als
unverschuldetes Unglück erfahren werden – etwa dann, wenn eine Figur einen Fehler begangen hat, ohne dabei zu wissen, dass es sich um einen Fehler handelt. Die Denkfigur unverschuldetes Unglück kann auch bereits durch Elemente der histoire-Ebene nahegelegt werden. Im ›Roman d’Eneas‹ wird Didos Geschichte knapp zusammengefasst: Sycheūs war der Name ihres Gemahls, einer ihrer Brüder ließ ihn töten, seine Schwester jagte er in die Verbannung, weil er die Königswürde besitzen wollte (383–86). Weder eine Erzählerwertung noch eine Innenweltdarstellung ist hier nötig: Bereits der Normverstoß von Didos Bruder, also ein Element der histoire-Ebene, sorgt dafür, dass Didos Unglück als unverschuldet wahrgenommen wird. Wird ein Unglück als unverschuldet wahrgenommen, so kann eine Handlungsentwicklung, die am Tun-Ergehen-Zusammenhang orientiert zu sein scheint, als ungerecht empfunden werden. Diese Gerechtigkeitslücke kann die ›Distanz‹ des Rezipienten verringern und ein
Engagement befördern.
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Die Denkfiguren Tun-Ergehen-Zusammenhang und unverschuldetes Unglück auf der einen und Sympathiesteuerungsverfahren auf der anderen Seite stehen mitunter in einem rekursiven Verhältnis zueinander – schon deshalb, weil erst mit dem Beginn einer Erzählung überhaupt Informationen gegeben werden, die eine Wahrnehmung nach einer der beiden Denkfiguren begünstigen können. Sympathiesteuerungsverfahren können selbst dazu beitragen, eine der Denkfiguren nahezulegen. Im ›Erec‹ erscheint der Tod von Oringles aufgrund seiner Normverstöße als gerechte Strafe; dass weitere Lenkungsverfahren wie negative Positionierungen von Oringles’ Vasallen ebenfalls auf eine negative Sympathielenkung gegen Oringles zielen, mag zwar die Intensität der negativen Sympathiesteuerung verstärken. Ob diese negative Bewertung durch seine Vasallen jedoch noch notwendig ist, um Oringles überhaupt als negative Figur zu kennzeichnen, mag offen bleiben.
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Der Frage, welche der Denkfiguren von Belang ist, kommt eine Sonderstellung zwischen Sympathiesteuerungsverfahren und den Aspekten, die für eine Gewichtung der Lenkungsverfahren wichtig sind, zu. Während es bei Sympathiesteuerungsverfahren eher um Elemente eines Textes geht, geht es bei den beiden Denkfiguren um ein außerliterarisches Phänomen, um den Rezeptionsmodus. Eine der beiden Denkfiguren kann zwar auch durch Sympathiesteuerungsverfahren begünstigt werden, insbesondere kommt es darauf an, ob sich eine Figur normkonform verhält, oder ob sie gegen Normen und Werte verstößt. Bei Zeitnormen handelt es sich jedoch um eine nur bedingt fassbare Größe, auch innerhalb eines Textes können etwa höfische und heroische Werte in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen; die normative Orientierung einer Figur wurde daher – wie auch die übrigen Sympathiesteuerungsverfahren – nur als potentielles Sympathiesteuerungsverfahren konzipiert. Wenn die Frage diskutiert wird, welche der beiden Denkfiguren ins Zentrum rückt, kann dabei der Zusammenhang von Normverstößen, Handlungsfolgen und den Bedingungen für mögliche Lenkungswirkungen ausbalanciert werden. Eine separate Diskussion dieser Ebenen soll dazu beitragen, einen Kurzschluss von Normen und moralischen Bewertungen einerseits und der Wirksamkeit von Sympathiesteuerungsverfahren anderseits zu vermeiden.
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Vermieden werden mit dem Begriffspaar Tun-Ergehen-Zusammenhang und unverschuldetes Unglück zudem Probleme, die sich ergeben würden, wenn man den zentralen Wert ›Gerechtigkeit‹ als ›poetische Gerechtigkeit‹ in ein Modell der Sympathiesteuerung aufnehmen würde: Bei ›poetischer Gerechtigkeit‹ (auf ein Vergehen folgt eine gerechte Strafe) geht es um textinterne Phänomene, die moralische Wertungsfragen betreffen; Normen und Werte können jedoch nur als potentielle Sympathiesteuerungsverfahren in das Modell eingehen. Zudem stellt sich ›poetische Gerechtigkeit‹ in der Regel erst am Ende der Handlung ein; Sympathiesteuerungsverfahren sind jedoch meist während des gesamten Erzählverlaufs im Spiel. Anhand der beiden Denkfiguren kann diskutiert werden, welcher Rezeptionsmodus bereits während der Handlung begünstigt wird. Anders als bei ›poetischer Gerechtigkeit‹ geht es hier auch um die Frage, inwieweit von den Folgen einer Handlung bereits auf eine Bewertung des vorausgehenden Figurenverhaltens geschlossen werden kann, das die Konsequenzen verursacht hat.
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2. Textbeispiele aus Hartmanns ›Erec‹
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Die folgenden Überlegungen sollen dazu dienen, die bislang vorgestellten Perspektivierungs- und Sympathiesteuerungsverfahren beispielhaft am ›Erec‹ von Hartmann von Aue vorzustellen. Da diese Ausführungen vorwiegend propädeutische Ziele verfolgen, erwähne ich auch vieles, was der Forschung längst selbstverständlich ist. Zur umfangreichen ›Erec‹-Forschung nehme ich nur punktuell Stellung; darüber hinaus sei auf die Handbücher von Cormeau / Störmer und Bumke, das Handbuchkapitel von Marie-Sophie Masse und zu den besprochenen Textstellen auf den Kommentar von Manfred Günter Scholz und die jeweils dort angegebene Literatur verwiesen.
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Sympathiesteuerung I: Der Liebling der Damen und die Peitsche
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Der Erstkontakt des Rezipienten mit der Hauptfigur prägt ganz wesentlich die Einstellung, die der Rezipient zu dieser Figur einnimmt (primacy-effect). Häufig steht im Ritterroman am Anfang eine lobende Einführung des Ritters. Da jedoch die ersten Verse des ›Erec‹ von Hartmann von Aue nicht überliefert sind, ist nicht gesichert, ob es sich bei den ersten überlieferten Aussagen über Erec auch tatsächlich um die ersten Aussagen handelt – es besteht also bei einem wichtigen Element zumindest Unsicherheit. Doch das erste Lob in den überlieferten Versen Nummer zwei und drei lässt an Eindeutigkeit ansonsten nichts zu wünschen übrig: diz was êrec fil de roi lac, / der vrümekeit und sælden phlac (2 f.).
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Ein Königssohn, der nach Tapferkeit und Glück strebt – was will man mehr am Beginn eines Ritterromans. Da mit dem verlorenen Prolog zumindest auch keinerlei Informationen vorliegen, die das Bild trüben würden, wird an ein Figurenmodell
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angeschlossen: Das Figurenmodell ›tüchtiger Ritter‹ in Verbindung mit der Information, dass wir es mit der Hauptfigur zu tun haben – durch den diu rede erhaben ist (4) – erlaubt es dem Rezipienten rasch, Erec zu den positiven Figuren zu zählen. Ralf Schneider unterscheidet eine kategorisierte Informationsverarbeitung (»top-down-processing«) von einer individualisierten Informationsverarbeitung (»bottom-up-processing«). Wenn bei der Einführung einer Figur ein bekanntes Figurenmodell aufgerufen wird, kann der Rezipient die Figur rasch in eine Schublade einsortieren und ist nicht darauf angewiesen, sich erst aus einzelnen Informationen ein Bild zu machen.
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Wenn die Figur dabei beiläufig eine positive Wertung erfährt, hat der Rezipient bei einem top-down-processing weniger Anlass, diese Wertung zu hinterfragen, als bei einem bottom-up-processing; zudem bringen Figurenmodelle mitunter bereits stereotype Eigenschaften mit sich, die mit Wertungen verbunden sein können (beispielsweise Eremit–weise).
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Erec darf die Königin beim Ausritt im Wald begleiten. Ihnen begegnet ein Trio: ein Ritter, ein Zwerg und eine junge Dame. Als die Hofdame bei dem Versuch, den Namen des Zwergen in Erfahrung zu bringen, vom Zwerg mit der Peitsche geschlagen wird, wiederholt Erec diesen Versuch und wird ebenfalls vom Zwerg geschlagen. Weil er keine Rüstung trägt, kann er nicht sofort die Konfrontation mit dem Ritter suchen. Er folgt heimlich dem Ritter, um bei geeigneter Gelegenheit seine Schmach zu tilgen.
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Zunächst scheint man nur positive Sympathiesteuerungsverfahren verbuchen zu können: Erec repräsentiert ein positiv konnotiertes Figurenmodell; sein Streben nach vrümekeit und sælde ist normativ positiv konnotiert.
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Zweifellos kommt ihm der Protagonistenbonus zu, und auch, wenn er unverdient von einer grobschlächtigen Figur Leid erfährt, macht er sich doch gleich daran, die Schwierigkeiten zu bewältigen, indem er die Bitte der besorgten Königin, auf die Konfrontation mit dem Ritter zu verzichten, übergeht und die Verfolgung aufnimmt.
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Negative Sympathiesteuerungsverfahren bleiben auf den ersten Blick aus.
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Interessant ist jedoch der erste, unvollständig erhaltene Vers: bî ir und bî ir wîben. Erec wird also bei den Damen gezeigt – später wird Erecs zentrales Problem darin bestehen, dass er zu viel Zeit im Ehebett verbringt und zu wenig Zeit mit den Aufgaben des Mannes, mit Ritter- und Herrschaftstätigkeit: Dadurch wird er seine Ehre verlieren. Dass ein Königssohn die Königin im Wald begleiten darf, kann als Auszeichnung für ihn verstanden werden: Der Königin ist seine Gesellschaft offenbar angenehm. Zuvorkommend hat er angeboten, noch vor der Hofdame Information über das andere Trio einzuholen, ein sehr höfisches Verhalten. Allerdings ist Erec bereits hier – wie später in der Kemenatenszene – nahe bei den Damen und nicht bei den anderen Rittern. Er kann auch nicht als Beschützer der Königin auftreten, da er nicht ausreichend bewaffnet ist. Inwieweit damit bereits ein Defizit markiert ist, ist aufgrund der Textlücke nicht verlässlich greifbar. Bei Chrétien steht am Anfang der Bericht über die Jagd nach dem weißen Hirschen, der alle Ritter außer Erec nachgehen. Damit ist dort die Jagd als Kontrapunkt gesetzt: Erec verzichtet nicht nur auf ein Vergnügen, dem Adelige sonst nachgehen, zugleich auf ein sportlich-kompetitives Verhalten, sondern auch darauf, bei den anderen Rittern zu sein; er verhält sich nicht so, wie es für die anderen Artusritter selbstverständlich zu sein scheint.
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Seine unzureichende Bewaffnung wird jedoch recht deutlich als Defizit markiert, als der Erzähler erklärt, warum Erec den Peitschenschlag nicht sofort vergelten hat können: der ritter hete im genomen den lîp, / wan êrec was blôz als ein wîp. (102 f.) Dabei handelt es sich zwar nicht um eine direkte Erzählerwertung, aber der Vergleich in der explikativen Erzähleräußerung realisiert dennoch eine negative Wertung – und erneut eine Wertung, die Erec eher bei den Frauen als bei mannhaften Taten situiert, auch wenn das Textgewebe am Textbeginn negative Wertungen zu Erec nicht allzu sehr in den Vordergrund spielt.
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An diesem Beispiel kann auch verdeutlicht werden, dass bei dem Phänomen der Sympathiesteuerung rekursive Rezeptionsprozesse bedacht sein wollen: Bei einer Erstrezeption, bei der der Rezipient nicht bereits vorab mit der Kernhandlung vertraut ist, können die Parallelen zu Erecs Versagen in der Kemenatenszene nicht mitbedacht werden. Dass dem Protagonisten ein nicht allzu männlich anmutendes Genderkonzept eingeschrieben ist, wird dabei kaum auffallen; im Vordergrund steht hier die Auszeichnung für den höfischen Jüngling, die Königin begleiten zu dürfen. Anders bei einer wiederholten Rezeption: Hier kommen literarische Konventionen zum Tragen – etwa die, dass der Rezipient kausale oder metonymische Kohärenz,
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insbesondere strukturelle Analogien erwarten kann. Hier kann selbst der erste Satz (bî ir und bî ir wîben), der seinerseits auf einem Überlieferungsdefizit beruht, dazu beitragen, das Defizit des Titelhelden an allererster Stelle implizit zu thematisieren – ein unfreiwilliger primacy-effect, der nur bei wiederholter Rezeption auffallen wird.
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Ebenfalls erst bei wiederholter Rezeption ist es für die Sympathiesteuerung besonders relevant, dass Chrétiens Erec womöglich bereits den Textbeginn verschlafen hat: Zwar hat Artus die Ritter wecken lassen – das Motiv, nicht zu viel Zeit liegend zu verbringen, wird also ganz am Anfang und mit der Autorität des Königs eingespielt. Doch Erec muss galoppieren, wie der Erzähler eigens zweimal betont, um überhaupt die Königin einholen zu können, während die übrigen Ritter längst auf der Jagd sind (81–98). Wenn Hartmann diese Szene (womöglich noch stärker pointiert) aufgegriffen hätte, würde Erecs frühes Aufstehen im Turnier nach seiner Hochzeit nicht nur voraus-, sondern auch rückverweisende Bezüge realisieren.
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Perspektivierung I: Delikate Einblicke und fehlende Einsichten in der Armen Herberge
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Erec verfolgt das Trio bis in die Stadt Tulmein, hier setzt der Erzähler den Rezipienten über das Setting ins Bild, noch bevor Erec selbst die entsprechenden Informationen erhält: In Tulmein findet ein Schönheitswettbewerb statt, bei dem der Ritter, der die Dame begleitet, mit Waffengewalt durchsetzen kann, dass seine Dame den Schönheitspreis erhält, selbst wenn sie nicht die Schönste ist. Wegen des Schönheitswettbewerbes sind alle Unterkünfte ausgebucht, zudem hat Erec keine Bekannten oder Freunde in Tulmein. Er sieht ein altes Gemäuer, das er für verlassen hält. Er geht hinein, um die Nacht darin zu verbringen. Erecs Aventiure wird hier noch unangenehmer; die Schwierigkeiten, die es zu bewältigen gilt, erhalten noch eine weitere Dimension, als Erec sich plötzlich in der verlassen geglaubten Behausung einem alten Mann gegenübersieht.
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Er bindet erst einmal sein Pferd an – eine erstaunliche Handlung, da er noch nicht einmal hinein gebeten wurde – und geht auf den Alten zu, bevor er dann voller Zweifel spricht: ›herre, mir wære herberge nôt.‹ / diu bete machete in schamerôt. (302 f.)
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Der Alte gewährt ihm Unterkunft, ohne zu zögern. Der Alte – Koralus – hat noch Frau und Tochter (Enite), er insistiert gegenüber Erec darauf, dass die Tochter das Pferd versorgt. Der Erzähler merkt an, Enite sei das schönste Mädchen, von dem je erzählt wurde.
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Der Erzähler fokussiert auf den Kontrast zwischen Enites schöner Gestalt und der ärmlich-zerrissenen Kleidung. Durch die Risse der Kleidung schimmert ihr Körper hindurch – eine voyeuristische Darstellung von Enites nackter Haut; dies aber als Erzählerbericht, nicht als erzählte Wahrnehmung der Hauptfigur.
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Im ›Erec‹ ist – wie auch sonst häufig im höfischen Roman – eine Mischung aus interner Fokalisierung und unfokalisiertem Erzählen (Nullfokalisierung) anzutreffen. Auch wenn etwa die Informationen über den Schönheitswettbewerb in Tulmein Erecs Informationsstand übersteigen (Nullfokalisierung), so steht Erec doch bis zur Kemenatenszene im Zentrum; der räumliche Fokus folgt ihm vom Beginn bis in Koralus’ Haus. Das Innenleben von Erec war dem Leser bislang regelmäßig zugänglich: Man erfährt, dass er der Ansicht war, Koralus’ Haus sei unbewohnt; danach erfährt man von seiner Angst, aus dem Haus hinausgeworfen zu werden. Als der Erzähler Enite beschreibt, erfährt man jedoch nicht, ob und wie Erec Enite einschätzt. Der Erzähler preist Enites Schönheit überschwänglich. Das steht dazu in Kontrast, dass keine innere Reaktion von Erec auf Enites Schönheit geschildert wird. Die einzige Figur, die in dieser Szene eine Innenlebendarstellung erhält, die sich mit Enite und ihrer Schönheit befasst, ist keine menschliche Figur: es ist Erecs Pferd, dem es ganz wunderbar gefällt, sein Futter von einem so schönen und süßen Knecht zu bekommen (im zam von solhem knehte / sîn vuoter wol mit rehte; 364 f.) Wenn der Erzähler darauf verzichtet, Enites Wirkung auf Erec als Bewusstseinsbericht wiederzugeben, etabliert er dabei keinen negativen Innensichtfilter, da andere Bereiche von Erecs Bewusstsein zugänglich bleiben (vgl. etwa 619); es handelt sich eher um eine thematische Filterung: Eine interne Positionierung zu der hochrelevanten Frage, was Erec von Enite hält, unterbleibt.
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Auch bei der nächsten Information bleibt die Differenz zwischen Erzählerwissen und Figurenwissen erheblich – auch diesmal erfährt der Rezipient etwas, bevor Erec es erfährt, beziehungsweise bevor es für Erec relevant wird: Der Erzähler berichtet, Koralus sei früher ein mächtiger Graf gewesen, der ohne eigene Schuld von seinem Erbe durch Mächtigere vertrieben worden war (400–423). Damit wird dem Rezipienten signalisiert, dass Enite eine standesgemäße und somit eine mögliche Ehefrau für Erec wäre. Im Unterschied zu Chrétien liegt bei der Ehe eines Königssohns mit einer Grafentochter keine Mesalliance vor (eine nicht-standesgemäße Ehe, somit eine Störung der göttlichen Weltordnung). Hartmann fügt noch hinzu: Ihre Geburt war ohne Schande (439). Erec weiß nichts davon, er ist bei der Einschätzung der Situation auf das angewiesen, was er sehen kann. Er bleibt schwach fokalisiert: Potentielle Wahrnehmbarkeit spielt sowohl bei Enites Descriptio eine Rolle als auch bei der Beschreibung des Alten, über den Hartmann berichtet hat: sîn gebærde was vil hêrlîch, / einem edeln manne gelîch (288 f.). Doch ein edles Auftreten einer sonst armen Person dürfte unter gewöhnlichen Umständen einen Königssohn kaum dazu bewegen, ein Eheversprechen zu geben, ohne sich vorher der Herkunft der Braut zu versichern.
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Entgegen der Reihung der Informationsvergabe ist bislang weder Koralus’ Stand noch Enites Schönheit für Erec von Bedeutung; er will den Peitschenhieb rächen. Da der Ritter mit dem Zwerg in die Stadt geritten ist, fragt Erec zunächst nach dem Treiben in der Stadt. Koralus berichtet ihm auf Nachfrage über den Schönheitswettbewerb und über seinen Kontrahenten namens Iders, der sich anschicke, den Schönheitspreis ein drittes Mal zu erringen.
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Erec hat also nun die Informationen, die für das Rächen des Peitschenschlages nötig sind, beisammen. Für seine Rache benötigt er eine Rüstung, eine Lanze und eine Dame, mit der er beim Schönheitswettbewerb gegen den Ritter Iders antreten kann. Nun wird es für ihn relevant, von Koralus Rüstung und Enite zu bekommen; die Frage nach der Herkunft kommt nicht ins Blickfeld – das Bewältigen der aktuellen Schwierigkeiten scheint wichtiger zu sein, als kommenden Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Er informiert Koralus kurz über seine Lage und bittet ihn um Hilfe: möhtet ir mir umbe îsengewant / getuon deheiner slahte rât / (ich sage iu wie mîn muot stât), / sô enwürde er strîtes niht vermiten. / mit rosse bin ich wol geriten: / sô soldet ir mich lân rîten / mit iuwer tohter ênîten / ûf die selben hôchzît. (499–506)
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Erecs Bitte legt nahe, dass Enites Person nicht das ist, was im Zentrum seines Begehrens steht: als erstes bittet Erec um eine Rüstung. Sodann stellt er fest, dass er gut beritten ist, aber ein Requisit fehlt noch: Damit er zum Schönheitswettbewerb Zutritt erhält, bittet Erec zuletzt noch um Enite. Für den Fall, dass er siegt, bittet er nicht etwa demütig um ihre Hand. Vielmehr verkündet der Königssohn, im Siegesfall Enite zur Frau zu nehmen. Der Umstand, dass er ein Königssohn ist, wird zum Gegenstand einer Themenvorgabe: Koralus könne beruhigt zustimmen, denn er sei der Sohn von König Lac, Enite werde mit der Hochzeit zu einer Königin. Gleichzeitig handelt es sich dabei um eine Perspektivenunterschiebung: Er unterstellt, dass sein Angebot einem Mann, der in so sichtlich ärmlichen Verhältnissen lebt, ohnehin keine Wahl lässt. Die Differenz bei Stand und Vermögen, die die Themenvorgabe ins Zentrum rückt, ist dazu geeignet, alle übrigen Aspekte, die sonst bei Verhandlungen über eine Eheverbindung zur Sprache kommen könnten, auszublenden. Rechtliche und wirtschaftliche Punkte bleiben ebenso unberührt wie personale Aspekte; von Minnedienst keine Spur.
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Für die Figurenperspektive von Koralus und Enite ist der Umstand nicht bedeutungslos, dass es sich um ein bedingtes Angebot handelt – Koralus muss eine Art Glücksspiel spielen, wenn er auf Erecs Vorschlag eingeht. Er kann seine Rüstung verlieren, das letzte Gut, das er sich aus der Zeit, in der er noch nicht verarmt war, bewahrt hat; mehr noch: Wenn Enite im ärmlichen Gewand mit einem unbekannten Ritter in der Rüstung des Vaters zu einem Schönheitswettbewerb antreten und verlieren sollte, würde öffentlicher Spott drohen. Zwar stand – wie man kurz darauf erfährt (552–56) – Koralus einst Lac nahe, so dass es nahe liegend ist, dessen Sohn in einer Notlage zu helfen. Aber sowohl für Koralus als auch für Enite erfolgt das Eheangebot nicht ad personam: nicht wegen des Ansehens des Vaters, nicht wegen der Schönheit der Tochter – eine Änderung gegenüber der altfranzösischen Fassung: Chrétiens Erec hat das Eheangebot noch mit Enides Schönheit begründet (641 f.).
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Für Koralus und Enite stellt sich Erecs Angebot als Lotterie dar: Aus der Figurenperspektive von Koralus und Enite handelt es sich nicht von vornherein um ein ideales Ehearrangement.
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Auch für Erec handelt es sich um ein Glücksspiel – nicht nur hinsichtlich der Frage, ob er im Kampf siegt: Wäre Enite nicht adelig, so bestünde von vornherein eine Mesalliance; damit läge eine Störung der gottgewollten Weltordnung vor. Auch wenn der Rezipient bereits weiß, dass Koralus ein Graf ist, gehört doch zu Erecs rekonstruierbarer Figurenperspektive der begrenzte Informationsstand sowie offenbar die Einstellung, dass er bereit wäre, das Risiko einzugehen, sich auf eine Mesalliance einzulassen. Erecs Eheangebot ist also – nicht aus Sicht des besser informierten Rezipienten, aber aus Erecs Figurenperspektive – defizitär. Die Szene ›Arme Herberge‹ zeigt ihn gerade nicht als umsichtigen Herrschaftsanwärter. Wie würden wohl Eltern und Vasallen reagieren, wenn er mit der Tochter eines Unfreien zurückkäme? Dass er mit dem Eheangebot seine Verpflichtung gegenüber Karnant vernachlässigt, rückt der Erzähler hier allerdings ebenso wenig explizit ins Zentrum wie den Umstand, dass er zu dem Zeitpunkt, als er sein Eheangebot formuliert, die wunderschöne Enite im Sichtfeld hat (potentielle Wahrnehmbarkeit).
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Erecs Risiko währt allerdings nur kurz: In seiner Antwort weist sich Koralus als Graf aus, der zudem Freund von Lac sei und sogar mit Lac die Schwertleite erhalten habe, es gibt also keine Probleme mit einer Mesalliance. Erecs Themenvorgabe hat derart gut funktioniert, dass Koralus in seiner Antwort ausschließlich zu Fragen spricht, die seinen Stand, sein früheres Ansehen und sein Vermögen betreffen – alle weiteren Punkte lässt Koralus ebenso wie Erec unberührt. Das Angebot ist aus seiner Sicht offenkundig derart bestechend, dass er eine Perspektivenabweichung konstatiert und Erec unterstellt, es mit dem Angebot nicht ernst zu meinen: mich entriege mîn wân, / daz hânt ir durch schimph getân.‹ (558 f.)
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Diese Perspektivenunterschiebung hat körperliche Folgen: êrec wart von der rede rôt. (560) Beim ersten Erröten, nach dem Eindringen in Koralus’ Haus, lagen die Gründe auf der Hand: Der Königssohn hatte es nötig, einen armen Mann, in dessen Haus er samt Pferd und ohne Einladung eingedrungen war, um Unterkunft zu bitten. Ob der Grund für das zweite Erröten darin liegt, dass er bemerkt, einen Freund seines Vaters von oben herab behandelt und gekränkt zu haben, erfährt man nicht; Hartmann verzichtet hier auf einen Bewusstseinsbericht. Denkbar wäre als Grund auch, dass Erec gegenüber Koralus seinen Ehrverlust und seine Notlage eingeräumt hat und nun nicht einmal sein Wort für bare Münze genommen wird; ferner wäre denkbar, dass es Erec erst mit Koralus’ Antwort bewusst geworden ist, dass es um Haaresbreite zu einer Mesalliance hätte kommen können.
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In seiner Antwort insistiert Erec darauf, es ernst gemeint zu haben. Wesentlich neues sagt Erec nicht: Es bleibt bei einer groß angelegten Aufrichtigkeitsbeteuerung, die Gott als Zeugen benennt. Neben dem, was ohnehin offenkundig ist – nämlich, dass ihm die Armut von Koralus gleichgültig ist –, werden keine neuen Aspekte eingeführt. Seine erste Formulierung erweitert er nur marginal: Von sô nim ich si ze wîbe (515) zu ze wîbe / iuwer tohter gerne nemen wil. (569 f.) Bemerkenswert ist, dass Erec sich weder zum Stand noch zu Enites Person äußert – mit einer Ausnahme: ouch hete ich einen swachen muot, / næme ich vür mînen willen guot. (580 f.) Zwar folgt diese Bemerkung auf seine Aufforderung an Koralus, von seiner Armut künftig zu schweigen, und sie zielt sicherlich auf materielle Güter, die Erec nicht nötig habe, wie eine Mitgift, doch letztlich handelt es sich bei Rüstung, Schild und Lanze auch um guot. Immerhin jedoch kauft Erec nicht mit dem Eheangebot die Rüstung, sondern Enite ist als Person nötig, damit er sein eigentliches Ziel erreichen kann, und immerhin gehört zu dem Weg, auf dem er dieses Ziel erreichen kann, ein Kampf, der der Bestätigung von Enites Schönheit dient.
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Koralus gibt sich nun mit dieser Beteuerung zufrieden, zumal Erec ihm plausibel vor Augen führt, dass es ihm in keinster Weise helfen würde, wenn er nur zum Spott gesprochen haben würde (566); sein mündliches Eheversprechen bekräftigt Erec noch: ich leiste als ich gelobet hân. (587)
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Sympathiesteuerung II: Alles schön nach dem Schönheitswettbewerb?
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Bis hierher hat Hartmann für Erec weiterhin im Wesentlichen positive Sympathiesteuerungsverfahren eingesetzt. Zwar signalisiert Erecs zweimaliges Erröten, dass er auch durch eigenes Handeln in Situationen geraten ist, die ihm nun unangenehm sind. Dominieren dürfte aber neben dem Protagonistenbonus, dass Erec dabei ist, die Schwierigkeiten zu bewältigen, die sich aus dem Peitschenschlag ergeben haben. Zwar werfen das unvorsichtige Eindringen in Koralus’ Haus sowie sein forsches Eheangebot Schatten auf sein Handeln. Dennoch dominiert – eine makroskopische Themenvorgabe – so sehr die Problematik, wie er seine beschädigte Ehre wiederherstellen kann, dass es in der Summe bei einer positiven Sympathiesteuerung bleibt. Erhebliche Normverstöße sind Erec nicht anzulasten; dass er bereit gewesen wäre, eine Mesalliance in Kauf zu nehmen, kann nur in geringem Maße zu den negativen Sympathiesteuerungsverfahren gebucht werden, da der Rezipient zuvor über Koralus’ Stand informiert ist; Erec wird wenige Verse später auch ins Bild gesetzt: Das Thema »standesgemäße Ehe« wird zwar implizit eingespielt, aber dann rasch abgehakt. Relevant werden die negativen Aspekte erst im Rückblick von der Kemenatenszene oder bei einer wiederholten Rezeption: Ebenso, wie sich Erec in der Kemenatenszene nicht als geeigneter Landesherr erweist, ist der Umgang des Königssohns mit Koralus beim Eindringen und beim Eheangebot nicht sonderlich idealisiert dargestellt, so dass das verligen nicht als Eintagsfliege und als zufällige Verfehlung erscheinen kann, vielmehr könnte man modern-kriminologisch von einem Verhaltensmuster sprechen: Defizite im Verhalten als Ritter und als Repräsentant eines Königshauses sind in einigen Stationen angelegt. Auch mit Blick auf literarische Konventionen im Roman, die freilich zum Zeitpunkt der ›Erec‹-Entstehung in der volksprachlichen Literatur noch nicht allzu ausgeprägt waren, bleiben gewisse Defizite: Erecs Eheanbahnung wird weder einem legalistischen Modell gerecht, wie es Veldeke bei Lavinia ins Bild setzt, noch dem aus der Spielmannsepik vertrauten Brautwerbungsschema oder gar einem Konzept wie Minnedienst, wie es aus der Lyrik und womöglich aus Chrétiens Werken bekannt sein konnte.
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Umso bemerkenswerter ist es, dass Hartmann nicht die ›Iwein‹-Variante eines explosionsartigen fall-in-love wählt. Damit bleibt zum Ersten Erec eine womöglich interessante black-box hinsichtlich seiner Einstellung zu Enite, zum Zweiten bleibt Raum für die Themen, die Erecs Herrschaftsbefähigung berühren; zum Dritten aber kann ausführlich und Schritt für Schritt die Minnegenese dargestellt werden.
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Die wenigen Negativpunkte werden im Folgenden mit positiven Aspekten überlagert: Der Kampf gegen Iders gelingt souverän. Bei den Reizreden im Vorfeld zeigt sich Erec keineswegs überheblich oder großspurig, sondern bescheiden und maßvoll: Wenn Erec bei seinem Eheangebot großspurig aufgetreten ist, so kann der Iderskampf dazu beitragen, diesen Eindruck zu überlagern: Hier ist Iders derjenige, der überheblich agiert; Erec kann Iders besiegen. Im Anschluss gibt er sich auch mit einer maßvollen Bestrafung des Zwergen zufrieden – die übermäßige Variante, dass der Zwerg zur Strafe eine Hand verlieren solle, wird eingespielt, um das situationsadäquate Handeln Erecs zu unterstreichen.
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Mit Erecs Sieg über Iders kann er seine erste große Aventiure erfolgreich abschließen, man kämpft ehrenhaft und unternimmt sogar eine Kampfpause, als die Kräfte nachlassen, um den Zuschauern ein würdiges Kampfspektakel zu bieten. Mit dem finalen Erfolg, der auch normativ positiv besetzt ist, weil damit auch der Schlag an Ginovers Hofdame bestraft werden kann, liegen weitere wichtige Sympathiesteuerungsverfahren vor. Die Anerkennung, die Erec in der erzählten Welt – etwa später am Artushof – für diesen Sieg erfährt, ist ebenfalls positiv zu vermerken (Figurenkonstellation). Das Fest in Tulmein und der triumphale Auftritt am Artushof seien hier nur knapp erwähnt, sie nehmen jedoch quantitativ breiten Raum ein.
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Insoweit bei einer Erstrezeption Erecs anfänglich nicht sonderlich umsichtiges Agieren als Königssohn überhaupt für Sympathiesteuerungsprozesse ins Gewicht fallen kann, wird auch hier ein Kontrapunkt gesetzt: Als Erec zur Hochzeit an den Artushof zurückkehrt, denkt er noch an seinen Schwiegervater und veranlasst, dass Koralus mit Gold und mit zwei Burgen versorgt wird. An Erec wird damit die Figureninformation gebunden, dass er sich dankbar verhält, ein vorbildliches Verhalten für einen Königssohn: Familienangehörige in Not zu unterstützen, ist normativ ebenfalls positiv.
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Als Negativbeispiel fungiert hier der Herzog von Tulmein: Koralus ist mit der Schwester des Herzogs von Tulmein verheiratet, und obwohl beide am gleichen Ort wohnen, hat der Herzog es offenbar nicht für nötig erachtet, sich milte zu zeigen und seinem Schwager und seiner Nichte aus ihrer Not zu helfen – ein triuwe-Bruch, eine Vernachlässigung seiner Herrschaftsaufgaben. Über die Gründe dafür erfahren weder Erec noch der Rezipient etwas, doch Erec muss nur Kenntnis von dieser Konstellation erlangen, um sich ein weiteres Mal als künftiger Herrscher umsichtig und rücksichtsvoll zu zeigen: Die Beziehungen zwischen Koralus und dem Herzog scheinen gestört zu sein, so dass er dem Herzog weder eine Neueinkleidung von Enite gestatten kann, noch das Angebot des Herzogs annehmen kann, den Sieg Erecs in dessen Burg zu feiern. Stattdessen muss sich der Herzog in die Arme Herberge begeben und dort selbst in Augenschein nehmen, in welch ärmlichen Verhältnissen er seine Nichte hat aufwachsen lassen.
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Wenn Erec mit seinem Eheangebot an Koralus nicht herrscheradäquat agiert hat, so wird nun diese Eigenschaft auf den Herzog transferiert: Plötzlich – kaum, dass sich ein Königssohn für Enite interessiert – bietet er Enite standesgemäße Kleidung an und bittet ihre Eltern in seine Burg. Erec beschämt nun den Herzog und führt ihm ein Verhalten vor, das dem Herzog selbst gut zu Gesicht gestanden hätte: ich mache in [Koralus] rîche, daz ist wâr, / ... ich enbringe in ûf die vart / daz er nie rîcher wart.› (1359–63) Auch an dieser Stelle scheint ein problematisches Verhalten, das Erec selbst gezeigt hat, an eine andere Figur delegiert und dort durch Erec abgewiesen zu werden – ein Erzählmuster, das laut communis opinio für die Schlussaventiure, die Joie de la curt gilt, das ich jedoch bereits im ersten Kursus etabliert sehe.
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Sympathiesteuerung III – Wahre Liebe und Begehren
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Hartmann hat mit der Beschreibung von Enites Schönheit den Grundstein für eine Minnehandlung gelegt, doch in der »Armen Herberge« ist weder bei Erec noch bei Enite von Minne die Rede. Die Ehevereinbarung dockt damit an mittelalterliche Realitäten an, in denen Ehen von den Familien der Braut und des Bräutigams nach machtpolitischen Abwägungen ausgehandelt wurden. Im Kampf gegen Iders verwendet Hartmann jedoch bereits einen Topos, der sonst im Kontext von Liebe situiert ist: Als Erec in diesem Kampf an den Rand einer Niederlage gerät, sorgt der Anblick von Enite dafür, dass sich seine Kräfte verdoppeln.
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Zwar verschweigt der Erzähler weiterhin, welche Einstellung Erec zu Enite mittlerweile hat – eine interne Positionierung unterbleibt also, von Minne war noch nicht die Rede. Dass sich seine Kräfte verdoppeln, ist nur nach außen sichtbar. Allerdings wird hier ein Topos verwendet, zu dem es andernorts konstitutiv gehört, dass es die Geliebte ist, die die Kräfte des Ritters beim Anblick stärkt. Von Enite war bislang weder eine interne noch eine externe Positionierung zu der für sie nicht ganz irrelevanten Frage zu vernehmen, was sie von der Ehe mit Erec hält. Das ist eher en passant während des Iders-Kampfes zu erfahren: Als Erec nach einem starken Schlag auf den Helm in die Knie gehen muss, wird erstmals eine Innensicht von Enite mitgeteilt: als vrouwe ênîte daz ersach, / grôz wart ir ungemach. / si begunde ir gesellen klagen. / si wânde er wære erslagen / und er belibe des slages dâ. (850–54) Ihr Mitgefühl deckt sich ganz mit dem Empfinden einer liebenden Freundin – geselle bleibt ambivalent: es kann unter anderem Freund oder Geliebter heißen; später verwendet Hartmann weniger ambivalent âmîs.
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Von einer Liebe auf den ersten Blick berichtet der Text nichts, aber von Mitgefühl, das im Weiteren in eine allmähliche Steigerung der emotionalen Zuwendung überführt werden kann. Frühzeitig wird die spätere Ehe als Minneehe akzentuiert, für die zwar alleine Erec die Verantwortung trägt. Doch mit Enites positiver Reaktion fällt auch auf Erec ein positives Licht, indem seine Werbung auch in der Figurenperspektive von Enite damit implizit gutgeheißen wird.
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Nach Erecs Sieg heißt es, dass ihre Freude über den Sieg im Schönheitswettbewerb groß war, doch noch mehr freut sie sich über ihren Ehemann. Auf Enites Seite fällt nun erstmals das Wort liebe: doch vreute si sich mêre / von schulden ir lieben man / den si des tages dô gewan. (1383–85) Auch hier bleibt die Bedeutung von liebe noch ambivalent, möglich ist sowohl »wegen ihres lieben Mannes« als auch »wegen ihres geliebten Mannes«; von Erec unterbleibt jedoch weiterhin jede Positionierung zu dieser Frage. Erst 770 Verse nach Erecs Eheangebot wird es dann eindeutig – nachdem sie Tulmein verlassen haben, greift der Erzähler zu einer kollektiven Bewusstseinsdarstellung: Êrec begunde schouwen / sîne juncvrouwen. / ouch sach si vil dicke an / bliuclîchen ir man. / dô wehselten si vil dicke / die vriuntlîchen blicke. / ir herze wart der minne vol: / si gevielen beide ein ander wol / und ie baz unde baz. / dâ envant nît noch haz / ze blîbenne dehein vaz: / triuwe und stæte si besaz. (1486–97)
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Hier erfährt man erstmals, dass Erec Enite tatsächlich ansieht, die Gegenseitigkeit des Schauens wird betont. Hartmann setzt auf eine gegenseitige Minne, auf gegenseitiges Wohlgefallen – bei dieser Stufe der Minnegenese ist nicht von einer erotischen Anziehung die Rede, sondern von triuwe und stæte. Hartmann setzt auf beide Register: auf eine spirituelle Anziehung und – etwa 350 Verse später und nach Enites Ehrung am Artushof – separat auf die sexuelle Anziehungskraft: vrouwe ênîte reizte daz, / diu dort als ein engel saz / mit schoene und ouch mit güete, / daz êreckes gemüete / vil herzenlîche nâch ir ranc. / der tage dûhte in ze lanc, / daz er ze langern zîten / ir minne solde bîten / dan unz an die næhsten naht. (1842–50)
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Hier folgt ein Blick exklusiv in Erecs Herz: Zur Minne tritt das Begehren. Während die spirituelle Anziehung für beide gemeinsam geschildert wurde, stellt der Erzähler das Begehren bei beiden Hauptfiguren jeweils eigens dar: Auch Enite begehrt: ouch truoc si im bedaht / einen willen dem gelîch, / daz ez wære wætlîch, / und hetez nieman gesehen, / daz dâ wære geschehen / ein vil vriuntlîchez spil. (1851–56)
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Das gegenseitige Begehren amplifiziert Hartmann noch mit der berühmten Habicht-Metapher (1859–71). Doch auch, wenn Hartmann das Begehren recht bildlich ausgestaltet: Dass Enite und Erec miteinander schlafen, wird bis zur Kemenatenszene nicht erwähnt. Nach der Hochzeit steht wieder die spirituelle Dimension der Liebe, die mentale Bindung im Vordergrund: ir wunsch wart volleclîche wâr, / wan zwei gelieber wurden nie / unz ez der tôt undervie, / der allez liep leidet / sô er liep von liebe scheidet. (2207–11) Entsprechend verwendet Hartmann auch vor dem Turnier den Topos vom getauschten Herzen: ir herze vuorte er mit im dan, / daz sîn beleip dem wîbe. (2365 f.)
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Da Liebe positiv konnotiert ist, können Erec und Enite mit der quantitativ breit angelegten Minnegenese Sympathiepunkte einsammeln. Der Vergleich mit Chrétien zeigt, dass Hartmann – jenseits aller Probleme der Ehevereinbarung – auf eine vorbildliche Minnegenese setzt. Während Hartmann nur die Vorfreude schildert, hat Chrétien die Vorgänge in der Hochzeitsnacht in die Ebene der Darstellung integriert. Chrétien zeigt eine Enide, die in der Hochzeitsnacht recht kühn wird.
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Wenn ein mittelalterlicher Autor ein sexuelles Interesse einer Frau betont, ist mitunter eine Anspielung auf Vorstellungen von weiblichem Rollenverhalten nicht weit, die den misogyn besetzten Topos von der unersättlichen Frau
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berühren. Dagegen verzichtet Hartmann auf eine Schilderung der Hochzeitsnacht. Zwar gibt Hartmann dem sexuellen Begehren durchaus Raum, doch achtet er sorgsam darauf, auch den nicht-körperlichen Aspekten der gegenseitigen Liebe ein entsprechendes Gewicht einzuräumen.
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Bei Chrétien bleibt die Minnegenese hinsichtlich einer Sympathiesteuerung ambivalent – je nach individuellem Voraussetzungssystem kann ein Rezipient an Enides sexueller Bereitwilligkeit Anstoß nehmen oder auch nicht. Mit Blick auf die spätere Krise ist Chrétiens Darstellung stärker auf das fokussiert, was anstelle einer ritterlichen Betätigung getan wird. Inwieweit Chrétien hier auf negative Stereotype zur Unersättlichkeit der Frau Bezug nimmt, wäre an anderer Stelle zu diskutieren. Ein Kontrast besteht jedoch darin, dass Hartmann eine Darstellung der ehelichen Aktivitäten vermieden hat. Einer negativen Sympathiesteuerung gegen Enite hat Hartmann mit dieser Streichung entgegengewirkt. Das hat auch Konsequenzen für Erec: Wenn die Liebe des Paares unvollkommen und überwiegend als Wollust (luxuria wird mitunter zu den sieben Hauptlastern gezählt) inszeniert wäre, würde diese Unvollkommenheit auch auf Erecs Sympathiekonstellation abfärben.
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Turnier: Der übermotivierte Jungritter
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Während zumindest bei einer wiederholten Rezeption mehrmals Defizite bei Erec hinsichtlich herrschaftsadäquaten Auftretens und hinsichtlich gender-adäquaten Verhaltens notiert werden können, wurde beim Iders-Kampf das großspurige Auftreten an eine andere Figur delegiert, die Erec bezwungen hat; insoweit Erecs Bereitschaft, eine Mesalliance einzugehen, ihn nicht als umsichtigen Herrscher gezeigt hat, wird ein entsprechend defizitäres Verhalten beim Herzog von Tulmein gezeigt, den Erec mit seiner Ankündigung, Koralus rîche zu machen (1359), beschämen kann. In der ersten Waldszene hat Erec darauf verzichtet, gender-gemäß an der Hirschjagd teilzunehmen; im Turnier nach seiner Hochzeit sind – analog zu diesem Muster – Abweichungen von einem durch Mannhaftigkeit geprägten Verhaltenskodex an die übrigen Artusritter delegiert, manche schlafen zu lange. Erec dagegen ist vorbildlich früh auf den Beinen (2520): die er ligende noch vant, / die begunde er strâfen / und beruofen umbe ir slâfen. / er sprach: ‚wes liget ir hie? / wer bejagete noch ie / mit slâfe dehein êre? (2523–28)
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Da es sich beim Ausritt mit Ginover quasi im Sonntagsanzug immerhin um den ersten Eindruck handelt (primacy-effect), ist es Hartmann offenbar ein Anliegen, Erecs Tüchtigkeit zu betonen; er erweitert die Turnierbeschreibung auf gut 450 Verse – selbst der Kampf gegen Iders, der immerhin auf etwa 250 Verse ausgebreitet wird, fällt quantitativ dagegen ab. Offenbar weiß Erec, dass man nach der Hochzeit nicht zu lange im Bett liegen darf, sondern dass man sich rechtzeitig von seiner Frau verabschieden muss, denn unmittelbar vor der oben zitierten Herzenstauschmetapher heißt es: als er wolde rîten / und von vrouwen ênîten / dô begunde scheiden, / von den gesellen beiden. (2358–61) Damit liegt ein weiteres Sympathiesteuerungsverfahren vor, das einerseits ein früheres Defizit kompensiert, und das doch zugleich in unmittelbarer Relation zu Krisenszene steht.
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Vorausverweisenden Charakter – besser: im Voraus abweisenden Charakter – hat auch ein Bewusstsseinsbericht von Enite: Als sie von Erecs Tapferkeit im Turnier hört, sorgt sie sich zwar aus Liebe, dass er um der Ehre willen zu viel riskieren könnte, so dass sie ihn verlieren könnte. Doch sie kommt rasch zu einem Entschluss: ouch hâte sich vil snelle ir muot / der zweier eines bewegen, / daz ir ze manne wære ein degen / lieber dan ein arger zage, / unde lie swache klage / und was sîner manheit / beide stolz und gemeit. (2845–51)
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Dreierreihen: Schönheitswettbewerbe und das richtige Leben
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Während in der Forschung anhand der Joie de la curt des Öfteren konstatiert wurde, Erec habe mit dem Sieg über Mabonagrin seine früheren Fehler überwunden,
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kann man solchen Formulierungen entgegenhalten, dass nicht so ganz klar werde, was genau auf welche Weise überwunden werde, und in welcher Bedeutung »überwinden« hier gebraucht werde – auch hier habe ich oben ähnlich unpräzise Formulierungen gebraucht, die doch zumindest vage verstehbar sind. Um eine Persönlichkeitsentwicklung, die bestimmte Fehler einer bestimmten Phase zuordnet, geht es hier weniger: Erec fällt in der Krisenszene gerade wieder in Verhaltensmuster zurück, die bereits »überwunden« schienen. Vielmehr ist mir wichtig, dass solche Formulierungen auf einer Intuition beruhen, die sich nicht auf die persönliche Entwicklung der Figur beziehen, sondern auf die Darstellung der Figur, und dass damit Sympathiesteuerungsverfahren realisiert werden: Die Hauptfigur wird zunächst bei einem Fehler gezeigt, ein negatives Sympathiesteuerungsverfahren. Sodann wird eine andere Figur bei einem ähnlichen Fehler gezeigt, auf den die Hauptfigur adäquat reagiert, ein positives Sympathiesteuerungsverfahren. Wenn die adäquate Reaktion der Hauptfigur im Brennpunkt steht und quantitativ breiten Raum einnimmt, kann damit der Eindruck überlagert werden, der aus dem anfänglichen Fehler der Hauptfigur entstanden sein kann.
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Dreimal hat sich Erec anderen Figuren überlegen gezeigt, die Defizite aufweisen, bei denen es Berührungspunkte zu Erec gab oder geben wird (Iders: Großspurigkeit; Herzog: herrschaftsinadäquates Handeln; Turnier: spätes Aufstehen). Die Zahl Drei scheint – jenseits der Doppelungen des doppelten Kursus – darüber hinaus ebenfalls markant wichtig zu sein: Erec begegnet am Textbeginn einem Figurentrio (Ritter, Zwerg, Dame); dem stehen drei einzeln bezeichnete Akteure gegenüber.
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Von Iders heißt es, er habe durch ritterliche Bewährung schon zweimal dafür gesorgt, dass seine Dame als die schönste Dame gekürt worden ist. Würde er sich ein drittes Mal durchsetzen können, so dürfte seine Dame den Schönheitspreis für immer behalten. Hier wird implizit ein Strukturmuster entwickelt, das für Erec relevant wird: Ein dritter Idoneitätserweis kann zu einem dauerhaft positiven Zustand führen. In enger Parallelführung zu Erec steht die ritterliche Tat bei Iders im Dienst der Dame. Im Erfolgsfall könnte damit eine bleibende Einheit von Liebe und Tat angedeutet sein. Erec hat sich ein erstes Mal im Iders-Kampf bewährt, ein zweites Mal im Turnier nach der Hochzeit. Auf eine dritte Bewährung verzichtet Erec und fällt damit hinter Iders zurück, der sich, wenn auch ohne Erfolg, an einer dritten Bewährung versucht hat.
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Keine Einblicke im Bett
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Erec und Enite werden im Land seines Vaters freudig empfangen, König Lac übergibt sein Land an Sohn und Schwiegertochter (2921 f.), eine Änderung gegenüber Chrétien, bei dem Erec in der Krisenszene nicht zugleich auch die Verantwortung eines Landesherren trägt.
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Womöglich, um einem allzu drastischen Sympathieverlust vorzubeugen, unterstreicht der Erzähler mit einer positiven Wertung vorab, dass es auf der Ebene einer Intentionalethik bei Erec nichts auszusetzen gibt: êrec was biderbe unde guot, / ritterlîche stuont sîn muot (2924 f.).
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Ein weiteres positives Sympathiesteuerungsverfahren wird unmittelbar vor der Krise erneut eingesetzt, die Betonung der Liebe: die minnete er sô sêre (2968). In beiden Formulierungen erhält der Rezipient einen Einblick in Erecs Gedankenwelt, zudem erfährt man etwas über Erecs Einstellung zu Enite, eine interne Positionierung. In der »Armen Herberge« war zwar kein negativer Innensichtfilter etabliert, doch ob ihm Enite gefallen hat, war nicht durch innere Figurenrede zu erfahren. Danach, etwa beim Warten auf die Hochzeitsnacht, ist der Rezipient daran gewöhnt worden, über Erecs Einstellung zu Enite regelmäßig informiert zu werden.
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Mit der Kemenatenszene ändert sich diese Erzählpolitik ebenso wie Erecs Verhalten: der nahezu übermotivierte Turnierritter mutiert zu einem sexsüchtigen Faulpelz, der nur noch zum Gottesdienst und zu den Mahlzeiten das Ehebett verlässt. Hier geht es nicht mehr um eine positiv besetzte Liebe, sondern um Alltagshandeln. Der Erzähler stellt im epischen Bericht wie auch im Vergleich heraus, dass Erec alles andere als tugendhaft handelt: sich vlizzen sîne sinne / wie er alle sîne sache / wante zuo gemache. / sîn site er wandeln began. / als er nie würde der man (2931–35). Deshalb kommt es zum Ehrverlust: die minnete er sô sêre / daz er aller êre / durch si einen verphlac, / unz daz er sich sô gar verlac (2968–71). Damit häufen sich negative Sympathiesteuerungsverfahren: Ein mit negativen Wertungen verbundener Erzählerbericht, ein massiver Verstoß gegen zentrale Normen und Werte der Ritterwelt, auch in der erzählten Welt kommt es zu negativen externen Positionierungen: Ritter und Knappen schimpfen – diese Positionierungen wiegen als Sympathiesteuerungsverfahren umso schwerer, als es sich in der Figurenkonstellation nicht etwa um Gegner Erecs handelt, sondern um Figuren aus Erecs eigenem Bereich. Sogar auf »internationaler« Ebene hat Erecs Verhalten Konsequenzen: in endorfte ûz vremden landen / durch vreude niemen suochen. (2991 f.) All das beruht auf niederen Gründen: Erec verfällt der Wollust und der Faulheit. Das zweite Laster scheint Hartmann sehr viel wichtiger zu sein: Die weitere Darstellung fokussiert ausschließlich auf Herrschaftsprobleme.
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Damit kommen derart viele negative Sympathiesteuerungsverfahren zusammen, dass von einer Wirkung auszugehen ist. Aufgrund des Protagonistenbonus ist nicht mit einer vollständig negativen Sympathiesteuerungswirkung zu rechnen, aber doch mit relevanten Effekten. Erecs Versagen zieht selbst Enites Ehre in Mitleidenschaft: si sprâchen alle: ›wê der stunt / daz uns mîn vrouwe ie wart kunt! (2996 f.; Darstellung der Folgen einer Schädigung) Anderseits kann man diese Passage, die Enite aus Figurensicht inkulpiert, in Verbindung damit, dass Enite sich selbst Schuld zuschreibt (3007 f.), gleichzeitig auch als Entlastung auffassen. Auch wenn die Frage, ob die evaluative Struktur es erlaubt, auch Enite eine Mitschuld zuzuschreiben, an dieser Stelle ausgeklammert sein soll,
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so werden zumindest Figurenperspektiven profiliert, die die negative Sympathiesteuerung zu Erecs Lasten insofern zumindest leicht mildern könnten, als Erec nicht aus allen dargebotenen Perspektiven für die Situation singulär verantwortlich zeichnet.
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Mit anderen Worten: Die Stimmen im Text, die Enite beschuldigen, und Enites Selbstbezichtigung lassen sich sowohl leicht entlastend als auch negativ für Erec verbuchen, also kontradiktorisch. Hier ist nicht entscheidbar, ob sich entlastende und belastende Tendenzen gegenseitig aufheben, oder ob ein Rezipient eher Erec entlastet sieht – weil verführt –, oder ein anderer Rezipient Erec eher zusätzlich belastet wähnt: Weil er sogar seine Frau dazu veranlasst, sich – obschon unschuldig – schuldig zu fühlen, und weil sie damit zudem dem Pranger des Hofstaates ausgesetzt wird.
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Bei dem Ehrverlust, der an Erecs Hof und darüber hinaus konstatiert wird, handelt es sich um eine negative Handlungsfolge. Die Frage, ob für Erec der Tun-Ergehen-Zusammenhang gilt, oder ob es sich um unverschuldetes Unglück handelt, ist beinahe nur eine rhetorische Frage. Erec unterläuft der Normverstoß nicht etwa, weil sein Informationsstand unzureichend ist. Allerdings hat der Tun-Ergehen-Zusammenhang hier nur eine begrenzte Reichweite: Ein negatives Ergehen bleibt auf den Ehrverlust begrenzt. Insoweit man im Aufbruch und im Verzicht auf weitere Nähe zu Enite auch eine Selbstbestrafung sehen wollte, so handelt es sich nicht um ein Ergehen, da Erec selbst Subjekt dieser Handlungen bleibt.
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Von hier aus gesehen jedoch erhalten die Defizite, die Erec zuvor gezeigt hat, eine umfassendere Bedeutung: Hat Erec womöglich bereits – ähnlich wie Chrétiens Erec – den Romanbeginn verschlafen? Warum hat Erec bei dem Ehearrangement nicht so agiert, wie es sich für einen Königssohn gehörte? Und doch ist Erec im Grunde über die Normen und Werte seiner Welt durchaus orientiert: Er hat im Turnier die, die länger im Bett geblieben sind, dafür getadelt und sie zu ritterlicher Bewährung angestachelt. Bei der Versorgung von Koralus mit Burgen und bei der Ablehnung des Einkleideangebots des Herzogs von Tulmein hat Erec demonstriert, dass er in Fragen herrscheradäquaten Verhaltens wohlbewandert ist. Das verligen bringt negative Folgen für Erec mit sich; die evaluative Struktur erlaubt es jedoch kaum, die negativen Folgen als ›unverschuldet‹ einzustufen.
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Bettbewältigung:
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Limitierte Einblicke
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Nach der Krisenszene bleibt es bei einer ambivalenten Sympathiesteuerung: Einerseits kompensiert Erec das verligen durch ritterliche Bewährung (Bewältigung von Schwierigkeiten), anderseits verhält er sich Enite gegenüber rüde und abweisend, er erteilt ihr ein Sprechverbot und verfügt die Trennung von Tisch und Bett (Darstellung der Folgen einer Schädigung; zudem, jeweils nach dem Übertreten des Sprechverbotes, externe Positionierungen mit negativer Wertung).
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Problematisch ist dies auch, weil er Enites Bericht über die Schmähungen am Hof nur auf das Versprechen hin erhalten hat, dass erz âne zorn lieze. (3049)
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Wenn eine Figur einen Fehler begeht, ist es für Sympathiesteuerung durchaus relevant, ob die Figur Einsicht und eventuell tätige Reue zeigt, oder ob die Figur ein jegliches Schuldbewusstsein vermissen lässt und stattdessen die Schuld bei anderen sucht und sie ihnen gar zuweist. Erecs äußeres Verhalten ist ambivalent: Einerseits reagiert er sofort und begibt sich heimlich auf Aventiurefahrt. Dass er nach dem verligen einen Korrekturbedarf sieht, ist offensichtlich. Sein Verhalten Enite gegenüber kommt jedoch einer Strafhandlung gleich, auch wenn es später als Prüfung deklariert wird. Allerdings wird der Rezipient mit der Beurteilung von Erecs Handlungen vom Erzähler alleine gelassen: Der Erzähler unterlässt zunächst sowohl eine Erklärung als auch eine Bewertung von Erecs Verhalten. Zugleich findet ein abrupter Wechsel der Informationspolitik statt: Weite Teile von Erecs Innenleben werden nun ausgeblendet, nämlich all das, was mit Enite zu tun hat: Man erfährt nicht, wie Erec Enites Rolle sieht; ob oder inwieweit er Enite für mitschuldig hält, wie er emotional zu Enite steht und welche Pläne er im Weiteren verfolgt.
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Allerdings wird dieser Wechsel der Informationspolitik dadurch etwas kaschiert, dass im Folgenden Enite zur fokalen Figur wird, und dadurch, dass Erecs Bewusstsein nicht vollständig ausgeblendet wird. Es wird gerade kein negativer Innensichtfilter für Erec etabliert:
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Unmittelbar nach der Kemenatenszene wird Erecs Intention erzählt, seine Vasallen zu täuschen (sîn vlîz was ze helne grôz; 3069): Er gibt vor, beim Abendessen wieder zuhause zu sein. Es geht hier also weniger darum, einen Filter zu etablieren, der Erecs Innenleben konsequent ausfiltern würde,
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sondern – wie bereits in der Szene »Arme Herberge« – um eine thematische Filterung: Als Erec Enite erstmals erblickt hat, wurde gerade nicht erzählt, welche Meinung Erec sich zu Enite gebildet hat. Nicht der Fokalisierungstyp ist hier entscheidend, sondern der Fokussierungstyp: Hartmann verzichtet bis zur Versöhnungsszene sowohl auf eine interne als auch auf eine externe Positionierung von Erec zu Enite, zum verligen und zu dessen Ursachen und Konsequenzen.
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Erec ist hier also nicht extern fokalisiert: Eine externe Fokalisierung hat stets einen negativen Innensichtfilter zur Voraussetzung. Der Umstand jedoch, dass Teile von Erecs Bewusstsein, wenn auch meist nur fragmentarisch, zugänglich bleiben, kann den Eindruck vermitteln, dass Erecs Innenleben auch weiterhin kein Buch mit sieben Siegeln ist, zu dem der Rezipient ohnehin keinen Zugang hat. Gerade der Umstand, dass der Rezipient gewöhnt ist, mehr oder weniger regelmäßig über Erecs Innenleben informiert zu werden, legt nahe, dass es hier nicht darum geht, den Rezipienten von einer Hypothesenbildung über Erecs Intentionen und Motive abzuhalten, vielmehr wird es an den Rezipienten delegiert, entsprechende Überlegungen anzustellen. Auch wenn sonst Empathie auf einem Verständnis der Handlungen einer Figur aufbaut und Innenweltdarstellung im Rahmen einer internen Fokalisierung ein beliebtes Sympathiesteuerungsverfahren ist: Bei einer Erzählpolitik wie hier, die plötzlich anstelle von relevanten Informationen nur noch Nebensächlichkeiten über Erecs Befindlichkeit preisgibt, handelt es sich umso mehr um ein negatives Sympathiesteuerungsverfahren: Ein feeling-for
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wird erschwert, da der Rezipient auf unbelegbare Schlüsse auf Erecs Innenleben angewiesen ist.
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Erst bei der Versöhnung erfährt man, dass es Erec offenbar darum gegangen ist, Enite zu prüfen – diese Intention fällt zunächst in eine Paralipse. Interessant ist in der Versöhnungspassage zudem die offene Formulierung: ez was durch versuochen getân (6781).
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Eine Formulierung mit Agensschwund, auch wenn selbstverständlich nur Erec als Subjekt der Prüfung infrage kommt. Es ist durchaus bemerkenswert, dass es sich hierbei um eine explikative Erzähleräußerung handelt und nicht um einen Bewusstseinsbericht etwa in der Form »Erec hatte es getan, weil er die Absicht hatte, sie zu prüfen«. Zwar mag der Prüfungscharakter spätestens bei der ersten Grafenaventiure (Stichwort Lockvogel-Ausstattung)
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evident sein, doch ob er bereits in Vers 3052 eine Prüfung im Sinn hat, ob er den Prüfungsgedanken bereits bei der Erteilung des Sprechverbotes oder erst im weiteren Verlauf fasst, bleibt offen. Ebenso bleibt an der Textoberfläche offen, inwieweit die These von Britta Bußmann, dass Enite als Königin lernen muss, so sprachgewandt zu agieren, wie es sich für Königinnen gehört, auch mit Erecs Figurenperspektive vermittelbar ist.
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Bei einer ersten Rezeption weiß der Rezipient noch nichts vom Prüfungsgedanken. Ich meine, dass es näher liegend ist, dass Erecs Verhalten gegenüber Enite, das alle Anzeichen einer Strafhandlung trägt, bei einer Erstrezeption auf ein anderes Verhaltensmuster verweist – im Sinne der Alltagspsychologie.
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Menschen scheinen dazu zu tendieren, vor allem dann ärgerlich auf schlechte Nachrichten zu reagieren, wenn sie erkennen müssen, dass ihr eigenes Verhalten die Ursache des Problems ist. Zudem kommt es häufiger vor, dass Menschen diesen Ärger denjenigen spüren lassen, der sie auf das Problem hinweist. Dieses Verhaltensmuster wird schon in der Antike in dem Sprichwort gespiegelt: »Töte nicht den Boten!« Doch bleibt eine solche Annahme selbstverständlich eine nicht beweisbare Hypothese, die es allerdings mit sich bringen kann, dass ein Rezipient, der bei Erec eine entsprechende Reaktion vermutet, darin ein weiteres negatives Sympathiesteuerungsverfahren sehen kann.
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Ausblick
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Mit der Analyse der zentralen Krisenszene sei zugleich die Beispielreihe zu Perspektivierungs- und Sympathiesteuerungsphänomenen beendet. Ausblickend sei noch angemerkt, dass der Verzicht auf eine Positionierung bei Chrétien weniger lang anhält als bei Hartmann: Hier findet sich bereits bei der ersten Grafenaventiure eine erste Andeutung: »Da hört Erec, daß Enide sich in aufrichtiger Treue zu ihm bewährt.« (3486 f. Bei Hartmann analog erst 4319 vor dem Guivreiz-Kampf.) Nach der Guivret-Warnung schafft Chrétien Klarheit: »Sie sagte es ihm, er droht ihr. Aber er will ihr nichts Übles zufügen, denn er bemerkt und weiß ja, daß sie ihn über alles liebt und er sie auch, so sehr er es vermag.« (3765–39) Bei Hartmann dagegen wird auf eine solche interne Positionierung bis zur Versöhnungsszene konsequent verzichtet.
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Allerdings fällt – ebenfalls im Guivreiz-Kampf – eine Formulierung von Erec, die zumindest Nähe und Wertschätzung ausdrückt: Als Enite Erec in Todesgefahr glaubt, entfährt ihr ein Schrei: solde ich ez vür iuch sîn! / jâ wæne ich iuch verlorn hân. › (4427 f.) Erec aber versichert – mitten aus dem Kampf heraus: ‚vrouwe, iuch triuget iuwer wân … wan dâ verlür ich mêre an.‹ (4429–31) Zwar wird das Sprechverbot an dieser Stelle noch nicht aufgehoben, doch lässt die in einer vital bedrohlichen Situation geäußerte Wertschätzung auch auf eine positive innere Einstellung zu Enite schließen – ein positives Sympathiesteuerungsverfahren.
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Dass es beim Guivreiz-Kampf zu einer positiven externen Positionierung kommt, geht einher mit dem Rückbau von anderen negativen Sympathiesteuerungsverfahren: Erecs Strafpredigten. Jedes Mal, wenn Enite das Sprechverbot übertritt, tadelt Erec sie und spricht Drohungen aus. Bei Chrétien wird der Prüfungscharakter frühzeitig offengelegt, es heißt vor der zweiten Räuberwarnung: »Erec sah ihn und tat so, als ob er noch nichts bemerkt hatte.« (2961 f.) Damit wird Erecs Vorhaben eher verständlich. Allerdings stürzt Erec damit Enide ohne echten Grund in ihre Entscheidungsqualen
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– isoliert betrachtet ebenfalls ein deutlich negatives Sympathiesteuerungsverfahren zu Erecs Lasten.
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Bei Hartmann handelt es sich bei Erecs Strafpredigten für Enite umso mehr um ein unverschuldetes Unglück, weil ihre Warnungen tatsächlich sein Leben retten: Erec kann unter dem Helm seine Gegner nicht rechtzeitig hören oder sehen (4151–60). Anfangs werden Enites Entscheidungsmonologe und Erecs Strafpredigten noch umfangreich und in direkter Rede vorgetragen, doch nach und nach findet eine Reduktion statt: Von anfangs 32 Versen Strafpredigt auf schließlich vier Verse.
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Damit wird ein negatives Sympathiesteuerungsverfahren in der regelmäßigen Wiederholung nach und nach reduziert, die damit verbundene Todesdrohung erweist sich als leere Drohung. Im Gegenzug kommen mit Erecs am Artushof demonstrierter Einsicht und seiner ritterlichen Bewährung wieder vermehrt positive Sympathiesteuerungsverfahren ins Spiel. Zentral bleiben bereits ab der Räuberaventiure auch Enites Liebe und ihre Opferbereitschaft: Diese internen Positionierungen zu Erec fallen auch positiv auf Erec zurück.
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