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»Die Literatur das sind wir und unsre Feinde«

  • Andreas Stuhlmann: »Die Literatur - das sind wir und unsere Feinde«. Literarische Polemik bei Heinrich Heine und Karl Kraus. (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft 594) Würzburg: Königshausen & Neumann 2010. 284 S. Broschiert. EUR (D) 42,00.
    ISBN: 978-3-8260-3563-0.
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Polemiken auf dem Feld der Literatur gehören nicht unbedingt zu den beliebtesten literaturwissenschaftlichen Gegenständen. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass Polemiken im Randbereich der Kunst angesiedelt sind. Ein weiterer mag sein, dass sie ‒ auch deswegen ‒ ein äußerst komplexes Phänomen darstellen und mithin eine hohe ästhetische, literaturtheoretische und sozialhistorische Kompetenz des Forschenden verlangen. Andreas Stuhlmann hat sich davon nicht abschrecken lassen und in seiner Dissertation »Die Literatur ‒ das sind wir und unsere Feinde«. Literarische Polemik bei Heinrich Heine und Karl Kraus Aufschlüsse über dieses Phänomen zu gewinnen versucht. Das Zentrum der Untersuchung bilden dabei zwei nicht unbekannte Polemiken in unterschiedlichen Epochen: der Konflikt zwischen Heinrich Heine und August von Platen in der Folge der Publikation von Heines Reisebildern sowie der Konflikt zwischen Karl Kraus und Maximilian Harden zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Flankiert werden diese beiden Fallstudien, deren Konstellation durch strukturelle Homologien und identische kulturhistorische Topoi gerechtfertigt wird, durch einen Abschnitt allgemeiner Reflexionen zum Begriff der Polemik und zu ihrer Funktion in der Öffentlichkeit sowie durch ein Kapitel, das einen Zusammenhang zwischen den beiden Streitfällen herstellt und darüber hinaus das Konzept einer Literatur der Feindschaft skizziert.

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I Begriff, Text und Öffentlichkeit

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Es ist nicht unüblich, ein wissenschaftliches Buch ‒ und besonders eine Dissertation ‒ mit Zieldefinitionen, Begriffsklärungen und Kontextdarstellungen zu beginnen. Auch Stuhlmann tut dies, und zwar durchaus distinguiert, indem er mit Verve die für ihn zentralen Punkte avisiert und auf Komplexität nicht verzichtet. So liefert er zunächst neben etymologischen Erläuterungen, ausgehend von der von Ernst Cassirer inspirierten Behauptung, der Streit beziehungsweise die Polemik sei »eine der fundamentalen Energien der westlichen Kultur« (S. 15), einen Forschungsbericht, der auf wenigen Seiten von Sokrates über Lessing und Arendt bis zu den jüngsten Ergebnissen internationaler Konferenzen reicht und der, wie es die Kapitelüberschrift ausweist, zugleich als Darstellung der Domestizierung des Streits verstanden werden soll. Der Arbeit am Begriff folgt die Katalogisierung der Merkmale der Polemik, sofern sie sich als Text materialisiert. Dazu gehören die Bestimmung der Polemik als Schreibweise, die Abgrenzung der Polemik von Satire, die häufigsten rhetorischen Elemente der Polemik sowie die knappe Darstellung polemischer Verfahren, als da wären die Stilisierung des Gegners zur Figur, das Zitieren fremder Rede, die groteske Verfremdung des Körpers und ‒ als wichtigstes Instrument ‒ die Verunglimpfung des Namens. Schließlich widmet sich Stuhlmann in einem längeren Abschnitt dem Zusammenhang von Polemik und Öffentlichkeit. Stuhlmann zeichnet dabei umrisshaft Begriff und Geschichte der Öffentlichkeit nach und stellt die medialen Konstellationen vor, welche in diesem Zusammenhang von Bedeutung waren. Polemik soll auf diese Weise als dynamischer und performativer Prozess sichtbar gemacht werden, in welchem das polemische Subjekt sein Opfer vor der Instanz eines Publikums, das gleichsam als Richter fungiert, angreift ‒ es marginalisiert und stigmatisiert mit dem Ziel sozialer Exkommunizierung.

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Diese Klärung von Sachverhalten und Begriffen kombiniert Stuhlmann mit der verstreuten Darlegung seiner Forschungsabsichten ‒ etwa des Aufweisens des Doppelcharakters der Polemik als polyphoner Schreibweise und inszenierten öffentlichen Ereignisses im Diskurs der Literatur (S. 13) ‒ und eingefügten Basisinformationen zu den Protagonisten Heine, Platen, Kraus und Harden sowie zur Diskriminierung von Juden und Homosexuellen im entsprechenden historischen Kontext. Dieser vielseitig-anspruchsvolle Aufbau macht die Lektüre nicht einfacher. Auch nicht, dass Kapitelüberschriften ‒ sowohl was Inhalt als auch Ort angehen ‒ nicht immer auf den ersten Blick einleuchten.

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II Heine gegen Platen

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Der Konflikt zwischen Heine und Platen zählt ‒ wie auch jener zwischen Kraus und Harden ‒ zu den bekanntesten Polemiken der Literaturgeschichte. Stuhlmann stellt beide Konflikte dar, indem er entlang der Biographien der beiden Autoren die Abfolge der einzelnen Schläge rekonstruiert und dabei, ohne zu schablonisieren, mittels der zuvor exponierten Instrumente sein Interesse justiert.

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Aufgearbeitet wird solcherart zunächst die Vorgeschichte der jeweiligen Polemik. Im Fall von Heine und Platen wird Heines schriftstellerisches Selbstverständnis analysiert und unter anderem gezeigt, wie sich Heine selber in die polemische Tradition von Aristophanes und Lessing gestellt hat. Es wird zudem gezeigt, wie Heine den Beruf des Polemikers erst allmählich, während des Verfassens der Reisebilder, für sich entdeckte. Ebenso wird gezeigt, dass diese Berufung indes nicht von ungefähr kam: Bereits die Briefe aus Berlin waren unterschwellig politisch motiviert, und auch die romantischen Formen und Inhalte des ersten Bandes der Reisebilder waren, gut getarnt, mit politischem Sprengstoff versehen; erst ab dem dritten Band dominierte dann die Schreibweise der Polemik. Auch Platens Schreiben im Vorfeld des Konflikts wird dargestellt, um zu zeigen, wie seine von Goethes West-Östlichem Divan mitinspirierte Lyrik der Formensprache der Hafis-Tradition durch die chiffrierte Verhandlung eines erfüllten homoerotischen Begehrens einen spezifischen poetischen Gehalt verleiht.

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Stuhlmann relativiert auf diese Weise das von Heine am Ende des zweiten Bandes der Reisebilder abgedruckte Xenion Karl Immermanns, welches Platen als wenig innovativen, einer Mode gehorchenden Epigonen verspottet und welches Ausgangspunkt der Polemik gewesen war. Als weitere Aktionen folgten Platens Lustspiel Der romantische Oedipus und Heines im dritten Band der Reisebilder veröffentlichte Bäder von Lucca. Das Hauptaugenmerk Stuhlmanns liegt dabei, neben der Chronologie der Ereignisse, auf Platens ungeschickten antisemitischen Ausfällen und Heines Gegenschlag unter dessen homosexuelle Gürtellinie. Auch wird mikrologisch einzelnen polemischen Operationen wie dem Aufgreifen bestimmter Motive aus dem Werk des Gegenspielers oder der Manipulation von Namen nachgegangen. Auf diese Art soll die Polemik als Versuch der beiden Akteure lesbar werden, einerseits als Dichter trotz des Stigmas des Homosexuellen beziehungsweise des Juden eine Position in der Gesellschaft zu finden; andererseits als Machtkampf zweier Prätendenten des literarischen Feldes. Der Blick in die Rezeptionsgeschichte des Konflikts macht deutlich, dass die Öffentlichkeit auf Heines Angriffe eher ambivalent reagierte, während Platen nicht nur bei seiner Leserschaft ohne negative Konsequenzen davonkam. Ein Blick auf die Ausläufer zeigt zudem, dass in der Retrospektive, und bei einmal etablierter Position, Heine seinem Kontrahenten nicht nur Empathie entgegenbrachte, sondern dass für ihn der Konflikt an unmittelbarer Relevanz verloren hatte und fiktionsähnlichen Charakter annahm.

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III Kraus gegen Harden

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Im Spätherbst 1906 hatte der jüdisch-stämmige deutsche Publizist Maximilian Harden in seiner Berliner Zeitschrift Die Zukunft durch verschlüsselte Anspielungen auf Homosexualität im engen Umkreis Kaisers Wilhelm II. hingewiesen. Sein Beweggrund war es unter anderem gewesen, mit diesem Schachzug die Kamarilla um Fürst Philipp zu Eulenburg und Hertefeld zu vernichten, deren angeblich durch normwidrige Sexualneigungen verweichlichte Mitglieder einer entschlossenen Politik hinderlich schienen. Die Diffamierung führte zu mehreren Gerichtsprozessen und artete zu einem regelrechten Skandal aus. Zu den Akteuren gehörte auch Kraus.

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Stuhlmann schildert diesen politischen Kontext und stellt, auch hier entlang der biographischen Linien, die Aktionen und Reaktionen der Polemik zwischen Kraus und Harden dar. Dazu wird zunächst ebenso ein Blick ins Vorfeld geworfen und auf die Vorbildfunktion Hardens für den jungen Kraus hingewiesen und anhand von Kraus’ Essay Sittlichkeit und Criminalität dessen fortschrittliche Gesellschaftsmoral ‒ wie etwa die Forderung nach Abschaffung des Straftatbestands der Homosexualität ‒ vorgestellt. Ausführlich werden anschließend die Angriffe von Kraus in seinen in der Fackel erschienenen Essays Maximilian Harden. Eine Erledigung und Maximilian Harden. Ein Nachruf inhaltlich sowie formal beschrieben. Dabei lenkt Stuhlmann das Augenmerk auf spezifische Verfahren wie die Bloßstellung im Zitat und die literarische Konstruktion des Opponenten, auf die jüdische Grundierung der Texte, auf die konkreten Argumente wie Hardens Missbrauch der Sprache, auf die Einbettung des Skandals in Kraus’ großes Thema des Weltuntergangs durch die Presse sowie auf die Schützenhilfe vieler Intellektueller, welche Harden erhalten hatte. Nachlesen lässt sich auch dessen Replik, welche Kraus als undankbaren Renegaten und neidischen Epigonen beschimpft, der Privatklatsch breittrete, sowie schließlich Kraus’ amüsante Strategie, Harden in der Folge mit Hilfe von Tabellen zu demontieren, welche dessen Sprachschwulst nüchterne Übersetzungen kontrastieren.

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Noch stärker als der Abschnitt über Heine und Platen verfährt die Darstellung des Konflikts zwischen Kraus und Harden resümierend, indem über weite Strecken eher synthesearm die Texte der beiden Akteure wiedergegeben werden. Das liest sich durchaus spannend; man wünscht sich indes mehr als nur das kurze Fazit, welches das negative Verhältnis Kraus’ zur Öffentlichkeit anspricht und welches als Hauptergebnis Kraus und Harden mittels der im Abschnitt zuvor bereits auf Heine und Platen applizierten, auf Arendt zurückgehenden Unterscheidung als Paria beziehungsweise Parvenü kategorisiert.

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IV Literatur der Feindschaft

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Die Polemik zwischen Kraus und Harden ist nicht ohne historische Beziehung zu jener zwischen Heine und Platen. Denn Kraus hat nur wenig später nach dem Schlagabtausch mit Harden seinen berühmten Aufsatz Heine und die Folgen publiziert. In diesem wird Heine nicht nur als Initiant des künstlerisch ambitionierten Journalismus, wie ihn auch Harden betrieb, an den Pranger gestellt, sondern auch die angeblich mangelhafte Gestaltung von Heines Angriffen gegen Platen als Antizipation von Hardens polemischer Unfähigkeit gedeutet. Stuhlmann zieht mit der Darstellung dieses Essays eine Linie zwischen den beiden von ihm untersuchten Polemiken und nutzt diese Verbindung, um erstens wenige Strukturanalogien und -differenzen festzustellen und um zweitens ‒ ausgehend von der Erkenntnis, dass Polemiken bis in die Nachbearbeitung des Holocausts hinein ihre Energie aus dem Außenseiterstatus von Juden und Homosexuellen beziehen ‒ in der Verlängerung dieser Linie mit Hilfe von Arendts Rede anlässlich des Lessing-Preises und Jacques Derridas Politik der Freundschaft das Konzept einer Literatur zu umreißen, welche als geschützter Raum die Verhandlung von Gegensätzen möglich macht. Dieses soll nicht nur auf freundschaftliche Weise geschehen, sondern auch auf polemische. Aufgabe der Polemik ist es darum gemäß Stuhlmann, »radikal und brutal eine unversöhnliche Dichotomie zwischen Positionen im literarischen Feld zu markieren und möglichst eine Entscheidung zu erzwingen, die eventuell drastische soziale Konsequenzen auch auf andren Feldern hat« (S. 234). Nicht nur weil ein Impact, wenn er einer Polemik gelingt, gesamtgesellschaftlich von unschätzbarem Wert sein kann, sondern auch weil die Kontrahenten mittels einer Sprache geeint sind, in deren kunstvoll-ethische Höhen sie die Polemik führt, ist, wie ganz zum Schluss des Buches einem Aphorismus von Kraus entnommen wird, ein Feind unter Umständen wichtiger als ein Freund. Oder um es mit Heine zu sagen: »Die Literatur das sind wir und unsre Feinde« (S. 234).

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V Fazit: Chronik der Ereignisse

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Wie alle Randphänomene ist auch die Polemik kein einfacher Gegenstand. Das gilt ganz besonders für literarische Polemiken, die auf vielfältigste Weise zwischen Diskurse, Begriffe und Sachverhalte fallen. Sich eines solchen Gegenstandes anzunehmen und damit dessen Marginalisierung auf dem literaturwissenschaftlichen Feld entgegenzuwirken, ist grundsätzlich verdienstvoll. Umso mehr, wenn sich die Versuchsanordnung nicht davor scheut ‒ nur weil ihr Gegenstand es ist ‒, komplex zu sein. Nicht immer jedoch vermag Stuhlmann zu überzeugen. So sind zwar die häufig vorgenommenen Rekurse auf Arendt und die Orientierung an ihrer Unterscheidung von Paria und Parvenü, wie Stuhlmann sie den Akteuren jeweils zuweist, einerseits interessant und bereichern das Bild der Konflikte; wurzeln aber andererseits zu sehr in der privaten Vorliebe des Verfassers und wirken daher gelegentlich aufgepfropft. Eine differenziertere historische Schürzung wäre hier notwendig gewesen. Wie man auch generell froh gewesen wäre, wenn Synthesen deutlicher vollzogen, die ‒ an sich richtigen ‒ Zusammenhänge genauer reflektiert, die zu Beginn eingerichteten Begriffe strenger durchgeführt und das interessante Konzept der Literatur der Feindschaft weniger flott begründet worden wären. Den Verdacht, dass hier, aus welchen Gründen auch immer, an Gedanken- und Schreibarbeit gespart wurde, wird man leider nicht ganz los und so hat man ‒ auch wegen der vielen Druckfehler ‒ schließlich den Eindruck, ein intelligentes, indes leicht unfertiges Buch in den Händen zu halten, das in erster Linie eine solide recherchierte, gut formulierte und originell perspektivierte Chronik der polemischen Ereignisse liefert.