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Von digitaler Literatur zur Medienkunst

  • Roberto Simanowski: Textmaschinen - Kinetische Poesie - Interaktive Installation. Zum Verstehen von Kunst in digitalen Medien. (Kultur- und Medientheorie) Bielefeld: transcript 2012. 334 S. zahlr. Abb. Paperback. EUR (D) 32,80.
    ISBN: 978-3-89942-976-3.
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Roberto Simanowski ist einer der Pioniere der kritischen Auseinandersetzung mit digitaler Literatur. Von Anfang an hatte er – gegen die frühe technikbegeisterte Diskussion digitaler Literatur – gefordert, nicht in der Deskription der technischen Eigenschaften zu verharren, sozusagen in Ehrfurcht vor der ungewohnten Erscheinungsform der Texte zu erstarren, sondern wie in der herkömmlichen Literaturkritik üblich auch Fragen nach ihrer Bedeutung und ästhetischen Qualität zu stellen. Auf die Mitbegründung (1999) von dichtung-digital, der ersten online-Zeitschrift für die Ästhetik digitaler Literatur, folgten diverse Bücher über digitale Literatur und Medienkunst, von denen hier nur Digital Art and Meaning. Reading Kinetic Poetry, Text Machines, Mapping Art, and Interactive Installations (2011), Digitale Medien in der Erlebnisgesellschaft. Kultur – Kunst – Utopie (2008) und Interfictions. Vom Schreiben im Netz (2002) genannt seien. Auch durch das neue, hier zu besprechende Buch, zieht sich als roter Faden die Frage nach dem Nutzen beziehungsweise der Notwendigkeit des Interpretierens.

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Sinn- oder Präsenzkultur?

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Das neue Buch enthält zwei umfangreiche grundlegende Kapitel. Darin wird die Frage diskutiert, ob die neuere digitale Literatur und Medienkunst (diese beiden Sparten lassen sich immer weniger auseinanderhalten), die sich weitgehend in der bloßen Präsenz künstlerischer Objekte erschöpft, überhaupt noch der Deutung bedarf. Die Präsenzkultur und -ästhetik rückt die Materialität der Zeichen und die Performativität in den Vordergrund, an die Stelle von Lesen und Denken treten das Sehen und das sinnliche Erlebnis. Diese Präsenzkultur provoziert Einspruch einer an Adorno, den Simanowski – heutzutage auffällig! – häufig zitiert, oder Guy Debord geschulten Kritik an einer Kulturindustrie, die kritisches Denken verhindert. In der digitalen Literatur, zum Beispiel in der kinetischen Poesie, stößt man regelmäßig auf Effekte, die Spektakel und Ornament produzieren, nicht aber Sinngebung verlangen und Kritik fördern. Als Vertreter der Gegenperspektive, die diese Entwicklung als unausweichliche Folge der Postmoderne betrachtet, wäre etwa Lyotard zu nennen, der die Präsenzkultur als Befreiung von der Kontrollwut des Geistes und dem Zwang zu permanenter Interpretation begreift. Ferner begegnen wir auf dieser Seite Susan Sontag und Hans-Ulrich Gumbrecht, der den Terminus Präsenzkultur geprägt hat und damit in Anlehnung an den Buddhismus das erlösende Eins-Sein mit den Dingen verbindet. Auch Erika Fischer-Lichte mit ihren Arbeiten über die Performativität im Theater sowie Martin Seel mit seiner Ästhetik des Erscheinens werden wiederholt als Kronzeugen für die Bedeutung der Präsenzkultur herangezogen.

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Postmoderne Doppelcodierung

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Die oben als Dichotomie eingeführten Formen des Zugangs zu Kunst und Kultur schließen einander selbstverständlich nicht aus. Charakteristisch für viele der behandelten Werke ist vielmehr das Schwanken zwischen den beiden Möglichkeiten der Rezeption. Bei interaktiven Formen stellt sich die Frage, ob sie, wie man lange behauptet hat, die Rezipientenseite aufwerten und emanzipatorisch gegenüber der Autorposition wirken oder zu bloßem Konsum einladen, gewissermaßen die letzten Reste von Abenteuer in einer entfremdeten Gesellschaft repräsentieren. Da das Spektrum der Interaktivität von Netzkunst, Fluxus, Happenings und Performances bis zu simplen Mausklicks in Hypertexten reicht, ist eine eindeutige Antwort auf diese Frage kaum möglich. Werke, die sich einer Präsenzkultur unterstellen, weisen eine ästhetische Doppelcodierung auf, wollen mit ihrer Erscheinung verblüffen und Sinn produzieren.

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Interaktive Installationen

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Interaktivität unterstreicht die Körperlichkeit jeder (künstlerischen) Kommunikation zuungunsten der kognitiven Aktivität. Betrachter/user müssen zum Beispiel vor einer Leinwand tanzen, ihre Bewegungen werden aufgenommen und als Teil des ›Kunstwerks‹ live verarbeitet. Man kann Interaktivität als Befreiung vom Denken und als gleichzeitige Befreiung des Körpers betrachten. Auf jeden Fall bewegt man sich hier weit abseits der bürgerlichen Ästhetik der Distanz, wie sie Bourdieu in Die feinen Unterschiede beschrieben hat. Der Unterschied geht so weit, dass man sich fragen kann, ob es sich hier überhaupt noch um Kunst oder – infolge der Radikalisierung von Ecos Konzept der opera aperta – um Werkzeuge zur Hervorbringung von Kunst (Installationen) handelt. Und: sind die user tatsächlich frei oder werden sie vielmehr zu »interaktiven Laborratte[n]« (Tilmann Baumgärtel) degradiert?

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Kinetische Poesie

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In diesem Abschnitt geht Simanowski auf die Geschichte der Konkreten Poesie seit der Antike ein, zu der nun das Moment der Bewegung tritt. Beispiele kinetischer konkreter Poesie wie Johannes Auers worm applepie for doehl (http://auer.netzliteratur.net/worm/applepie.htm) haben bereits den Status von ›Klassikern‹ erreicht, medienspezifischer sind Textcomputerspiele wie Jim Andrews’ Arteroids (http://vispo.com/arteroids/indexenglish.htm), weil sie computerspielähnliche Aktivitäten verlangen und das Medium ironisch-kritisch reflektieren. Unter dem Schlagwort ›Generation Flash‹ diskutiert Simanowski die Tendenz zum spektakulären Effekt ohne semantischen Mehrwert. Selbstverständlich kann und soll man dieser Entwicklung kritisch gegenüberstehen, sie ist aber aus dem Blickwinkel mancher Produzenten nichts anderes als der verbreitete postmoderne Gestus des spielerischen Umgangs mit vermeintlich bedeutungsschwerem traditionellem Kulturgut, also ein Akt der Lockerung.

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Computergenerierter Text

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Noch weiter geht diese ›Lockerung‹ im Fall von maschinengenerierten Texten, von denen aus der Sicht der Literatur- und Kunstwissenschaft vor allem nicht auf formvollendete Texte, die auch von Menschen stammen könnten, abzielende, sondern mit Zufallsgeneratoren arbeitende Programme von Interesse sind. Die Simulation von natürlicher Sprache wird durch immer genauere Nachahmung von Strukturmustern angestrebt, der Raum der sprachlichen Möglichkeiten zunehmend eingeengt; die künstlerisch-experimentellen Generatoren dienen dagegen der Entgrenzung des Raums, der Ausweitung in den weitläufigen Bereich des ›non-sense‹. Zugespitzt formuliert entspricht der Versuch, sich so weit als möglich von Menschen produzierten Texten anzunähern und die Arbeit der Maschine unsichtbar zu machen, dem Strukturschematismus der Kulturindustrie, das Zulassen des Zufalls dagegen dem Gestus der Avantgarde. Künstlerische Intention und menschliche Kreativität werden hier zugunsten des freien Spiels der kombinatorischen Kräfte ausgeschaltet, das den Vorgängen in der Natur (beziehungsweise der ›Welt‹) ähneln soll. Eine Ästhetik, die persönliche Autorschaft als Voraussetzung für Sinn betrachtet, stößt hier an ihre (postmodernen) Grenzen.

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Mapping art, eine emergente digitale Kunstform

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Das im ersten Absatz genannte, 2011 bei der University of Minnesota Press erschienene Buch, lieferte die Vorlage für den hier besprochenen Band; streckenweise ist er eine Übersetzung desselben, teilweise wurden Kapitel umgeschrieben und erweitert. Ein weiterer Unterschied ist das gänzliche Fehlen eines Kapitels über Mapping art. Darunter versteht Simanowski die künstlerische Verarbeitung von Daten, die mit Hilfe von Suchmaschinen aus dem Internet gewonnen und in ein anderes Medium übertragen, also intermedial ›übersetzt‹ werden. Dabei kann etwa Text graphisch visualisiert oder durch einen Generator in Musik umgewandelt werden. Ein Beispiel für das zuletzt genannte Procedere ist »Search songs« von Johannes Auer, René Bauer und Beat Suter (http://searchsongs.cyberfiction.ch/). Auffällig an solchen Installationen ist das Verschwimmen zwischen Fakten, den Daten aus der ›Realität‹ des Internets, und Fiktionen. Besonders deutlich wird das in dem oben genannten Beispiel an dem Umstand, dass die Künstler die generierten Noten von Menschen in Performances live auf Instrumenten spielen lassen, also in humane Realität ›rückübersetzen‹. Data mapping kann – wie der Naturalismus – die Realität affirmieren, aber, als eine Kunstform, die befähigt ist, in die Wirklichkeit einzugreifen, auch Protest und Widerstand transportieren. Unter Umständen bewegt sie sich – in der Sonderform des Social Data Browsing – auch am Rande der empirischen Sozialforschung, wenn die aktuell in Chatrooms geäußerten Gefühle geortet und statistisch ausgewertet werden (»We feel fine«; http://wefeelfine.org/). Diese emergente Gattung wird dem Vernehmen nach wegen ihrer Bedeutung gesondert in Simanowskis nächstem Buch behandelt.

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Auf dem Weg zu einer post-alphabetischen Ästhetik/Gesellschaft/Pädagogik?

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Roberto Simanowski, der die digitale Literatur von Anfang an kritisch begleitet hat, vermittelt auch in seinem neuesten Buch exakt deren momentanen Entwicklungsstand. Die vorherrschende Tendenz der Medienkunst zu Verbildlichung und Spektakel lässt erneut die Rede vom Verlust der Lesefähigkeit aufkeimen. Designwriting und Post-literary Writing (Mark Amerika) legen den Akzent nicht auf die Bedeutung, sondern auf (billige?) Effekte, die ingeniöse Programmierung verdrängt den genialen Einfall. Tatsächlich konstatieren Leseforscher, dass Bildschirmlesen zum Unterschied von der Lektüre von Buchseiten nicht geeignet ist, die längere Versenkung in einen Text (deep reading, deep attention) mit dem Effekt der Einprägung in das Langzeitgedächtnis hervorzurufen. Auch der Umstand, dass sich ›Literatur‹ als Medienkunst vom PC immer mehr in Museen und Ausstellungshallen verlagert, unterstützt sicher nicht einen langsamen, kritisch-analytisch oder auch nur identifikatorisch geprägten Lesemodus.

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Im Epilog erörtert Simanowski die Folgerungen aus dem geschilderten digitalen state of the art für die Geisteswissenschaften und den Unterricht in den verschiedenen Bildungseinrichtungen. Ist das perfekte Erlebnis eines Werks der Präsenzkultur, wie es deren Definition vorsieht, ohne Einbeziehung der Sinnebene möglich? Lassen sich Erlebnis und Präsenz vermitteln, geschweige denn lehren? Ein solcher ›Unterricht‹ würde wohl hauptsächlich in Vorführen, Schweigen oder Paraphrase bestehen. Der Epilog enthält eine äußerst kritische Auseinandersetzung mit Gumbrechts – unzulänglichen – Vorschlägen, wie mit dieser Aporie umzugehen sei, die in eine quasi-theologische Ästhetik münden (›Erlösung‹ durch affirmatives Eins-Werden mit den Dingen dieser Welt). Simanowskis abschließendem Befund, dass der Sinnfrage und dem kritischen Denken auch in Zeiten der Präsenzkultur ein Platz innerhalb der Geisteswissenschaften erhalten bleiben muss, ist nichts hinzuzufügen.