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»Dated« and »Outdated«?

Ideengeschichte zwischen Schiller und Adorno

  • Jerome Carroll / Steve Giles / Maike Oergel (Hg.): Aesthetics and Modernity from Schiller to the Frankfurt School. Oxford, Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Wien: Peter Lang 2011. VIII, 369 S. Paperback. EUR (D) 51,00.
    ISBN: 978-3-0343-0217-3.
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Bekanntes und Unbekanntes

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Der Band setzt mit der steilen These ein, dass Schiller am Beginn der modernen Ideengeschichte Deutschlands stehe (S. 1), und endet mit der nicht unplausiblen Feststellung, dass es seither nur in Deutschland eine über 200 Jahre währende Kontinuität philosophischer Ästhetik gegeben habe, die stets zugleich als Theorie der Moderne aufgetreten sei (S. 343). Die Ausgangsthese freilich ist so provokant, dass man sogleich nach Gegenbeispielen sucht und Lessing, Hamann, Herder und vor allem Kant ins Feld führen möchte, um sie zu widerlegen – sofern man sich überhaupt auf einen Namen, mithin auf einen Diskursbegründer festlegen will. Paradox wirkt dabei die an derselben Stelle formulierte Beobachtung, dass Schillers Stil »dated« sei (S. 1) und dass sein mit Verve vorgetragenes Konzept, über Schönheit zur Moralität zu gelangen, von politischer Naivität zeuge und deshalb »outdated« sei (S. 1). Schiller erscheint demnach alt, veraltet oder überaltert, als einstiger Diskursbegründer zugleich aber neu und innovativ.

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Allerdings wollen die Herausgeber ihren Band weniger als Beitrag zur Schiller-Forschung verstanden wissen, vielmehr als Versuch, das Verdienst des Autors innerhalb einer »intellectual history« und näherhin einer »socio-cultural theory« zu würdigen, die man im angelsächsischen Bereich offenbar kaum mit seinem Namen verbindet: »Schiller’s importance for this tradition often goes unrecognized, particularly in the anglophone world. As such it is hoped that this volume will bring this connection to greater prominence, in particular for those who do not read German« (S. 1). Schiller rückt nicht als Lyriker, Dramatiker, Historiker, Übersetzer oder Mann der Theaterpraxis ins Bewusstsein, sondern als Theoretiker.

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Der Band hat also in eng bestimmter Hinsicht auch einführenden Charakter, und der hiermit verknüpfte starke Adressatenbezug ist wichtig, weil sich darüber Teile des Buches rechtfertigen lassen, die in der deutschen Forschung zum Allgemeingut gehören und keines Wortes mehr bedürften. Er enthält insgesamt sechzehn Aufsätze, von denen sich im ersten Teil acht explizit mit Schiller befassen. Der zweite Teil dagegen lässt sich nur als heterogen bezeichnen, denn hier werden ganz verschiedene Konstellationen ohne wirklich gemeinsame Fragestellung verhandelt: Er umfasst Beiträge zu Kant und Charles Taylor, zu Friedrich Schlegel und Kierkegaard, zu Wilhelm Bölsche, gegen Ende hin dann zunehmend zu Autoren der Kritischen Theorie, insbesondere zu Konstellationen um Adorno, dessen Werk und Stellung sich drei Artikel widmen. Das wiederum leuchtet unmittelbar ein, da man Adorno durchaus als kritischen Widerpart, ja als negativ dialektischen Widergänger Schillers verstehen darf: Beide nämlich entwickeln ihre ästhetischen Theorien vom Begriff der Freiheit her.

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Obwohl es nun zentral um Konzeptualisierungen der Moderne aus dem Geist der Ästhetik gehen soll, ist der Zugriff auf die Gegenstände eher politisch und gesellschaftsgeschichtlich als ästhetisch motiviert. Bezüge etwa zu literarischen Texten Schillers gibt es nur wenige. Im Vordergrund stehen die geschichts- und moralphilosophischen Konstruktionen, wie sie der Autor in den großen theoretischen Texten der Briefe über die ästhetische Erziehung sowie in Über naive und sentimentalische Dichtung ausgearbeitet hat. An ihnen wird die Perspektive des Autors auf die sich rasch schärfer ausprägende Moderne zu rekonstruieren versucht.

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Vom Wert der Literatur

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Nichtsdestoweniger sind gerade jene Studien am ertragreichsten, die im weitesten Sinne literarische Texte ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Das gilt für die Beiträge von Gustav Frank und Nicholas Saul zum Geisterseher sowie für die Ausführungen von Robert Leventhal zur Relevanz von Fallgeschichten.

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Im Anschluss an Panajotis Kondylis’ These von der aufklärerischen »Rehabilitation der Sinnlichkeit« 1 arbeitet Gustav Frank die innere Poetik des Geistersehers heraus, indem er die Funktionalisierung diverser Medien und Informationstechnologien im Text analysiert. Er betont dabei, dass die Literatur im Prozess dieser Rehabilitation zunehmend eine entscheidende Rolle spielt, während Theorie und Kritik an Einfluss verlieren (S. 31), und er macht für die innere Poetik vor allem und zu Recht die komplizierte Erzählstruktur verantwortlich (S. 36 f.). Die Medien wiederum dienen auf der Handlungsebene des Romanfragments dem Betrug, der Irreführung, der Hinterlist, mithin, wie Frank pointiert formuliert, einem »strategic power-play« des Bösen (S. 40), das letztlich den Prinzen als Protagonisten verderben soll. Dass die Machinationen des Bösen auf der Grundlage fortgeschrittenster Technik zum Erfolg führen, deutet Frank als medien- und modernekritische Perspektive der Erzählung:

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The media aesthetic that Schiller presents to us in The Ghost-Seer is modern in the sense that it deals with the most scientifically advanced practices and material technologies enabling ›proto-cinematographic‹ hallucination, and does so in a ›sentimental‹ manner. As such, it is sceptical of media and thus adopts a critical perspective on modernity to the extent that audiovisual media, together with the artistic practices of both the fine arts and the visual arts, are judged to be dangerous and so are rejected. (S. 41 f.)
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Auch Nicholas Saul widmet sich der eher dunklen Seite der Moderne. Er stellt Wilhelm Bölsches heute weithin vergessenen, Kunst und Darwinismus verbindenden Roman Die Mittagsgöttin von 1891 in eine Traditionslinie mit Schillers Geisterseher – ja Schillers gothic novel bilde geradezu einen »hypotext« zu Bölsches Roman (S. 245), insbesondere mit Blick auf die Charakteristik der Protagonisten, jeweils einer Mischung aus Scharfsinn und Begriffsstutzigkeit. Die Analogie geht freilich über die Figurenzeichnung hinaus, da sie zugleich eine Parallele in den Erkenntnisstrukturen betrifft. In beiden Texten wird etwas Falsches erzählt, bisweilen auch falsch erzählt, um genau dadurch eine ganz andere Wahrheit ans Licht treten zu lassen: Einmal besteht sie darin, die Grenzen der Aufklärung zu veranschaulichen, ein andermal die Grenzen der Wissenschaft. Im Gegenzug ist es in beiden Fällen die Kunst und näherhin die Literatur, die sich demgegenüber als unüberbietbarer Erkenntnismodus behauptet.

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Exzellent in jeder Hinsicht ist der Beitrag von Robert Leventhal, welcher die Bedeutung juristischer Einzelfälle für Schiller untersucht. Dabei interessiert ihn einerseits die Verwandlung eines medizinischen, juristischen oder psychologischen Falles (»case«) in einen literarischen Text als »aesthetic act« (S. 70). Andererseits fragt er, »how the ›case‹ also became an aesthetic-cultural interaction operating between physicians, teachers, philosophers, psychologists, legal theorists, scientists of the state, or practitioners of the newly emergent Polizeiwissenschaft, and literature.« (S. 70) Das ist gerade mit Blick auf Schillers medizinische Vorbildung, seine Herausgabe des Pitaval und seine Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre, eine nur zu berechtigte Frage. Entscheidende Relevanz besitzt der Einzelfall, weil man hier wie sonst nirgends des Individuellen ansichtig werden kann (S. 72). Folgerichtig spricht Leventhal von Schillers »rehabilitation of individuality« (S. 74), die ohne Zweifel Bestandteil der bereits erwähnten übergreifenden »Rehabilitation der Sinnlichkeit« ist. Diese Einsicht in Individualität aber, und hier zeigt sich Schillers durchgehend dialektischer Denkstil, bildet letztlich die Voraussetzung für die Erkenntnis von Humanität insgesamt: »Only in the individual cases do we get the tangible intuition of the full sense of humanity; only in individual cases do we experience the concrete sense of the complete human being in its humanity.« (S. 79).

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Abschließend ist zu sagen, dass der Band nur vereinzelt zu überzeugen vermag. Während im eigentlichen Teil zu Schiller viel Bekanntes rekapituliert wird, erscheint der zweite Teil gelegentlich inkohärent und ohne gemeinsamen originären Fragehorizont. Zudem stellt sich hier beim Leser der Eindruck ein, noch einmal längst geschlagene Schlachten zu besichtigen.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986, S. 19.   zurück