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Elemente einer historischen Narratologie

Armin Schulz’ Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive

  • Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Berlin, Boston: Walter de Gruyter 2012. 431 S. Hardcover. EUR (D) 119,95.
    ISBN: 978-3-11-024038-2.
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Historische Narratologie: Koordinaten eines Forschungsfeldes

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Immer schon wurde erzählt, aber nicht immer und überall auf die gleiche Weise. Diese vermeintlich simple Einsicht in die historische Diversität des Erzählens blieb für die Narratologie nicht folgenlos, denn hinterfragt wurde damit gleich zweierlei: erstens die soziohistorische Autonomie literarischer Texte und zweitens die Annahme, das Begriffsinventar der Narratologie sei universell einsetzbar. Die vor über zehn Jahren erstmals postulierte Forderung nach einer ›historischen Narratologie‹ 1 ist eine Antwort darauf.

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Der Begriff ›historische Narratologie‹ fungiert als Label für eine Reihe von Ansätzen, denen unterschiedliche Erkenntnisinteressen zugrunde liegen und die sich auf verschiedene Weise zum Theoriedesign der klassisch-strukturalistischen Narratologie positionieren. Zu unterscheiden sind erstens ›kontextuelle‹, ›formale‹ und ›theoriegeschichtliche‹ Ansätze, die sich zweitens ›affirmativ‹, ›komplementär‹ oder ›revisionistisch‹ zur bestehenden Systematik verhalten. Diese Koordinaten des Forschungsfeldes seien kurz skizziert.

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Das Ziel einer cultural and historical narratology sieht Ansgar Nünning darin, »to contextualize literary fictions by situating them within the broader spectrum of discourses that constitute a given culture«. 2 Im Unterschied zu Nünnings Konzept einer Funktionalisierung literarischer Formen im sozialen Gefüge stellt eine formal orientierte historische Narratologie die »historische Semantik narrativer Formen« ins Zentrum. 3 Der theoriegeschichtliche Ansatz schließlich geht der Frage nach, »ob und inwieweit sich die Thesen und Ergebnisse der modernen Erzähltheorie auch historisch fundieren lassen«. Ziel dieses Ansatzes ist es, anhand der Rekonstruktion poetologischer Diskurse eine »Theoriegeschichte der Narratologie von der Antike bis zur Neuzeit zu entwickeln«. 4

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Affirmativ im Hinblick auf das etablierte Theoriedesign sind diejenigen Ansätze, die für die analytischen Begriffe diachrone Gültigkeit beanspruchen (die historische Dimension dieser Ansätze liegt in der zeitlichen Extension des Untersuchungsgegenstandes); 5 komplementäre Ansätze erschließen literarische Phänomene und erweitern so das bestehende Instrumentarium, während revisionistische Ansätze das narratologische Theoriedesign selbst als Produkt eines spezifischen Textkorpus verstehen und das Bewusstsein um diese Historizität für eine historisch adäquate Systematik produktiv zu machen suchen. 6

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Verortung im Forschungsfeld

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Armin Schulz‘ Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive – die posthum von Manuel Braun, Alexandra Dunkel und Jan-Dirk Müller herausgegeben wurde – reiht sich implizit in das Forschungsprogramm einer historischen Narratologie ein (und setzt ältere 7 wie neuere 8 Forschungsinteressen der Mediävistik systematisierend fort). Es ist nämlich das Anliegen von Schulz, eine für die (deutschsprachige) Erzählliteratur des Mittelalters adäquate Theorie zu präsentieren, die das bestehende erzähltheoretische Design ergänzt: Schulz entwirft einerseits eine kontextsensible, teils forminteressierte und andererseits eine komplementäre, teils revisionistische histoire-Narratologie, ohne dabei auf Bestehendes und Bewährtes zu verzichten.

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Den argumentativen Ausgangspunkt der Studie bildet die Beobachtung, »daß das methodische Besteck der Narratologie […] schon recht bald ziemlich stumpf wird, wenn man es zur Analyse mittelalterlicher Erzähltexte heranzieht« (S. 1). Den Grund dafür erkennt Schulz in einer ungleichen Gewichtung von discours und histoire: In modernen Erzähltheorien gehe es vor allem um Aspekte des ›Wie‹ und es komme weniger auf das ›Was‹ an, auf dem für ihn jedoch die »Alterität von Fremd-Vertrautem« (S. 23) mittelalterlicher Erzähltexte gründet (vgl. S. 1 und S. 164 f.). Deshalb stellt Schulz hauptsächlich histoire-Elemente und die Verfahren der erzählerischen Verknüpfung ins Zentrum: Es wäre »töricht, die Ebene der histoire mit interpretatorischer Mißachtung zu belegen«, denn mittelalterliche Erzählliteratur sei »ausgesprochen handlungslastig« und »überdeutlich in Anlehnung an bestehende literarische Schemata gestaltet« (S. 166).

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Das narratologische Begriffsinventar ist für Schulz dabei nicht nur ein Beschreibungsinstrumentarium; vielmehr ist die »Beschreibung von Fakten« zugleich »deren Interpretation«, so dass die »Erzähltheorie […] nicht die ›Magd‹ der eigentlichen Interpretation [ist], im Sinne einer lediglich zählenden und messenden Hilfswissenschaft, sondern immer schon ein interpretierender Zugang auf Texte« (S. 180 f.).

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Indem Schulz im »kollektiven Imaginären der Adelsgesellschaft« (S. 19) – als »Vorstellungswelt, die gewissermaßen zwischen den literarischen Texten und der material gegebenen Realität liegt« (S. 19) – die Verständnisfolie für mittelalterliche Literatur sieht, ist sein Ansatz kontextsensibel. Dabei reduziert Schulz das Verhältnis von Text und Kontext nicht auf eine Hintergrund-Vordergrund-Relation, sondern er versteht den literarischen Text mit Karl Bertau als ›präsentative Symbolifikation‹, die »konfliktuöse Konstellationen ›vor Augen stell[t]‹« und sie nicht argumentativ verhandelt (S. 21, dazu auch S. 119 f., S. 335).

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Dahinter steht der Versuch, eine »historisch angemessene Interpretation« (S. 9) zu liefern, die den »Vorstellungen vom Menschen und von der Welt, die ein alter Text voraussetzt« (S. 9), gerecht wird, ohne die Beziehung zwischen literarischem Text und Welt vorher theoretisch im Sinne eines Eins-zu-eins-Abbildungsverhältnisses oder einer generellen Abweichungsrelation zementiert zu haben.

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Eigenanspruch und Zielpublikum

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Schulz’ Erzähltheorie ist, so das darin postulierte Selbstverständnis, in erster Linie konzipiert als »Einführung in die Spezifika mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Erzählens, mit der Beschränkung auf deutschsprachige Literatur«, die sich als »studienbegleitendes Arbeitsbuch« an »Studierende der Germanistik im allgemeinen und der Gemanistischen Mediävistik im besonderen« (S. 4) richtet. Jenseits des für Überblicksdarstellungen charakteristischen Kompilatorischen und Synthetisierenden ist der Band zugleich als erzähltheoretischer »Forschungsbeitrag« gedacht. Zu überwinden hat die Studie also den Hiatus zwischen einer lesbaren ›Einführung in die mittelalterliche Erzählliteratur‹ und einer ambitionierten ›mediävistischen Erzähltheorie‹. Was beide gemeinsam haben, ist ihr Bemühen, zu ordnen.

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Gliederung

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Der Band ist in ein programmatisches »Vorwort« (erstes Kapitel) und sechs thematische Kapitel gegliedert, die den Blick vom großen kulturellen Zusammenhang über generische Formen und Plotmuster zur erzählten Welt sowie ihrer erzählerischen Fügung und Vermittlung lenken: Das zweite Kapitel gilt den »notwendigen Grundlagen des Erzählens« (S. 4), die Schulz in der mittelalterlichen Anthropologie der Figur sieht; das dritte Kapitel stellt die Hauptgattungen der mittelalterlichen Literatur mit ihren erzählerischen und anthropologischen Eigenlogiken vor; das vierte Kapitel widmet sich den gängigen Mustern der »Sujetfügung« (S. 5), das fünfte Kapitel nimmt Raum und Zeit als konstituierende Dimensionen der erzählten Welt in den Blick; das sechste Kapitel fokussiert die Verfahren der erzählerischen Verknüpfung, das siebte die Instanz des Erzählers.

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I. Elemente einer mediävistischen Erzähltheorie

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I.1 Mittelalterliche Anthropologie als Verständnisschlüssel

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Eine rein strukturale Analyse der Figurenkonstellation, wie sie beispielsweise Algirdas J. Greimas’ Aktantentheorie zugrunde liegt, sei Schulz zufolge zwar eine Möglichkeit, sich basalen Strukturen der Erzählung zu nähern, aber letztlich bleibe »nach solchen reinen Strukturanalysen ein gewisses Ungenügen übrig, weil sie nicht hinreichend historisch unterfüttert sind« (S. 16). Einen Schlüssel zum Verständnis des »teilweise recht befremdliche[n] Geschehen[s] mittelalterlicher Erzähltexte« (S. 117) im Allgemeinen und vormoderner Figurenkonzepte im Besonderen liefere die »mittelalterliche[ ] Anthropologie« (S. 18).

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Deshalb rekonstruiert Schulz anhand vieler Beispiele Grundelemente feudaler Identität, das Verhältnis zwischen Figuren und ihre Verschränkung mit thematischen Leitkategorien wie Liebe, Gewalt und Geschlecht. Er gibt dem Leser dabei immer wieder Begriffsdifferenzierungen an die Hand, mit deren Hilfe sich literarische Phänomene erfassen lassen und sich das historische Material ordnen lässt: So greift er bei der Charakterisierung höfischer Interaktion auf Harald Haferlands Typologie von ›Reziprozität‹, ›Agonalität‹ und ›Ausdruck‹ zurück (vgl. S. 43 f.) oder – im Fall der Auseinandersetzung mit Gewalttypen – auf Jan Philipp Reemtsmas Unterscheidung zwischen ›lozierender‹, ›raptiver‹ und ›autotelischer‹ Gewalt (vgl. S. 73 f.). Doch angesichts der Detailfülle und thematischen Breite des Kapitels, die sich in den vier Unterebenen der Gliederung niederschlagen, gehen solche begrifflichen Systematisierungsangebote schnell unter.

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I.2 Agon als generisches Grundprinzip

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Schulz’ zweites Kapitel gilt den »vier Hauptgattungen« (S. 119): höfischer Roman, Märe, Legende und Heldenepos. In der Darstellung wählt Schulz einen perspektivierten Blick, der die vier Gattungen miteinander vergleichbar machen soll: »Für alle Gattungen grundlegend ist der Umstand, daß sie durchgängig über das Prinzip des Agon (d. h. der potentiell gewaltsamen Konkurrenz) beschreibbar sind« (S. 119). Sollen also die generischen Eigenheiten beschrieben werden, müssen die Gattungen auf ihren Agonalitätstyp hin befragt werden: Der höfische Roman verwirklicht den Agon in der Aventiure, das Märe unter anderem im Schwankschema des ›Ausgleichs-‹ oder ›Steigerungstyps‹ (oder in der »agonale[n] Struktur von Schlag und Gegenschlag« [S. 138]), höfische Legenden kontrastieren ›Weltflucht‹ und ›Sichtbarkeit‹, die Heldenepik hingegen biete die Möglichkeit, »sich über die eigenen kulturellen Grundlagen zu verständigen, indem sie eine ›moderne‹ höfische Adelskultur mit ihrem ›archaischen‹ Gegenteil aus der Welt der Gewalt und des Mythos konfrontiert« (S. 152).

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Wenngleich ein konzeptuell perspektivierter Blick auf die Gattungen methodisch sinnvoll ist, erweist er sich nur dann als ordnend, solange die Vergleichbarkeit der Gegenstände gewahrt bleibt. Die Relationen, in denen der Agon im höfischen Roman, in der Legende, im Märe und im Heldenepos eine tragende Rolle spielt, liegen jedoch teils auf kategorial unterschiedlichen Ebenen: Der höfische Roman sei geradezu durchzogen vom agonalen Prinzip, denn man finde es »auf nahezu allen Ebenen des Erzählens«, etwa in »thematische[n] Logiken« oder der »Weltbewältigung« durch »ritterliche Aventiure« (S. 129). Das Schwankschema als Plotstruktur des Märe, das als Gattung selbst im konkurrierenden Spannungsfeld von literarischer Narration und moralischer Tugendlehre steht (S. 134–136), passe »[a]ls agonales Handlungsmuster […] perfekt in die mittelalterliche Erzählwelt« (S. 136). Das Heilige in der Legende hingegen müsse »zumindest kurzfristig evident werden, aber prinzipiell [sei es] etwas Unverfügbares« (S. 148). Das agonale Prinzip scheint hier in der Relation zwischen dem Motiv und seiner Darstellung oder seiner Wahrnehmung zu liegen. Dem Heldenepos sei schließlich sowohl im Hinblick auf seine Rezeption durch eine höfische Gesellschaft als auch im Hinblick auf die Motivanordnung ein agonales Prinzip eingeschrieben. Der Agon betrifft mal die Motivanordnung, mal die Plotstruktur und mal die Rezeption. Die Verbindungslinien zwischen den agonalen Strukturen der Gattungen bleiben folglich eher einem rhetorischen Argument geschuldet und gründen weniger in der motivisch-strukturell analogen Komposition der Texte.

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I.3 Muster und Variation: Erzählschemata mittelalterlicher Erzählliteratur

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Den Kern von Schulz’ Studie bildet das Kapitel zum ›Erzählen nach Mustern‹ (S. 159–291). Die Explikation zentraler Kategorien und Theorien des Narrativen stellt er seiner Analyse der »gängigsten Erzählschemata der höfischen Literatur« (S. 183) voran. In den Blick rückt Schulz dabei Grundbegriffe (wie histoire, discours und Diegese), Grundrelationen (wie Erzählen und Handlung), die Standardmodelle von Claude Bremond, Algirdas J. Greimas und Jurij M. Lotman sowie die Frage nach dem »interpretatorischen Nutzen von Erzählschemata« (S. 184). Die Modelle von Bremond und Greimas verabschiedet Schulz mit den Argumenten, dass sie erstens ihrem Anspruch nicht haben nachkommen können, »allgemeingültig zu erklären, was Narration sei«, und dass sie zweitens darauf verzichtet haben, »komplexe Semantiken zu integrieren« (S. 175).

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In Lotmans Raumsemantik mit der Grenzüberschreitung als narrativer Grundoperation sieht Schulz eine heuristisch wertvolle Alternative, denn die »Tauglichkeit von Lotmans Theorie erweist sich vor allem in ihrer Offenheit«. Sie sei »kaum formalisiert« und zwinge nicht, Texte »in ein starres Analyseraster [zu] pressen«, man könne vielmehr »auf dasjenige achten […], was für die Organisation einer Geschichte je eigen und je besonders ist« (S. 183). Deshalb legt Schulz seiner Beschreibung der schematischen Plotstruktur der ›gefährlichen Brautwerbung‹, der ›gestörten Mahrtenehe‹, des ›Artusromans‹ sowie des ›Minne- und Aventiureromans‹ (des weltlichen und frommen Typs) Lotmans Konzept zugrunde.

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Im Hauptteil des Kapitels rekonstruiert Schulz im Dialog mit der historischen und aktuellen Forschung – von Friedrich Panzer über Vladimir Propp und Hugo Kuhn bis Jan-Dirk Müller – das erzählerische Syntagma eines jeden Schematyps. Auch wenn die Übertragung von Lotmans Raumsemantik-Konzept, das jeder Syntagma-Darstellung vorangestellt ist, in ihrer ›Diesseits‹-›Jenseits‹-Dichotomie an einigen Stellen reduktionistisch wirkt (vgl. S. 193, S. 218), überzeugen die Rekonstruktionen in ihrer Zusammenschau. Schulz gelingt es nicht nur, einschlägige Forschungspositionen synthetisierend oder mit eigener Akzentsetzung zu vereinen, sondern auch den schmalen Grad zwischen notwendiger Abstraktion (im Sinne von Schema) und Anschaulichkeit (im Sinne von Textnähe) zu bestreiten. Dabei reflektiert er die methodischen Prämissen einer solchen Schemarekonstruktion (S. 188 f.) und lenkt den Blick auf Variationen und Hybridisierungen von Erzählmustern, denen im Rahmen des »Wiedererzählens« (S. 123 f., vgl. S. 378–380) und »mittelalterlichen Erzählen[s] als Agon« (S. 189) eine zentrale Rolle für die Bildung des »literarischen Horizont[s]« im »kollektiven Imaginären« (S. 126) zukommt.

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I.4 Sonderräume und verzerrte Zeiten: die Heterogenität der erzählten Welt

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Das knappe Kapitel zu Räumen und Zeiten basiert größtenteils auf dem einschlägigen Studienbuch von Uta Störmer-Caysa 9 sowie der von Jörg Dünne und Stephan Günzel herausgegebenen Anthologie zu kulturwissenschaftlichen Raumkonzepten. 10 Mit Blick auf den Raum präsentiert Schulz außer den Standardtheorien von Jurij M. Lotman (Raumsemantik), Michail Bachtin (›Chronotopos‹), Michel Foucault (›Heterotopie‹) und Ernst Cassirer (›mythischer‹ und ›profaner‹ Raum) weitere sinnvolle analytische Unterscheidungen: diejenige zwischen ›Aggregat-‹ und ›Systemraum‹ (Erwin Panofsky), die zwischen ›Ordnungs-‹, ›Bewegungs-‹ und ›Schwellenräumen‹ (Andrea Glaser) sowie die Differenz von ›Insularität‹ und ›Linearität‹ (Bernhard Jahn).

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Im Vergleich zu der ausdifferenzierten Raumterminologie wirkt die Diskussion der Zeit eher blass: Die zu Beginn des Kapitels kurz skizzierten »[b]asale[n] Kategorien der Zeitorganisation« (S. 294) werden für die Analyse nicht systematisch fruchtbar gemacht. Zwar verweist Schulz auf die temporalen Implikationen von Cassirers Raumtypen und Foucaults Heterotopien, aber insgesamt bleibt die theoretische Perspektive des Kapitels raumdominiert. Anschaulich und überzeugend hingegen sind die ausführlichen Analysen von Eilharts von Oberge ›Tristrant‹ und Ulrichs von Zatzikhoven ›Lanzelet‹, wenngleich damit potentielle generische Differenzen – wie sie von Schulz für die Figurenkonzeption stark gemacht werden (vgl. S. 117) – fortfallen. Zu klären wäre in einem weiteren Schritt, ob und inwiefern sich Zeiten und Räume des höfischen Romans von denen des Heldenepos, des Märe und der Legende unterscheiden.

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I.5 Verfahren vormoderner Kohärenzstiftung

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Nach der Auseinandersetzung mit der erzählten Welt widmet sich Schulz der erzählerischen »Verknüpfung« von Motiven (S. 322–366). Geleitet wird die Argumentation von den Thesen, dass das »Grundprinzip narrativen Zusammenhalts […] die variierende Wiederholung« ist (S. 322) und dass die Verfahren der Kohärenzstiftung nicht allein »Zusammenhalt« erzeugen, »sondern auch sinnhaften Zusammenhang« (S. 325). Schulz stellt dabei eine Reihe einschlägiger Zugriffe vor: Markus Stocks Konzept der ›korrelativen Sinnstiftung‹, Jan-Dirk Müllers Unterscheidung zwischen ›syntagmatischer‹ und ›paradigmatischer‹ Motivation, Matías Martínez’ Differenzierung von ›kausaler‹, ›finaler‹ und ›kompositorischer‹ Motivation, James A. Schultz’ Unterscheidung von ›story motivation‹, ›narrator motivation‹, ›recipient motivation‹ und ›actional motivation‹, Roland Barthes’ Überlegungen zu ›Handlungsfolgen‹, neuere Positionen zum ›metonymischen Erzählen‹ und zum ›Erzählen im Paradigma‹ sowie zur ›Funktion blinder Motive‹.

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Gerade die Ausführungen und Beispiele zum metonymischen Erzählen, das auf ›realen‹»kausale[n], räumliche[n] und zeitliche[n] Zusammenhänge[n]« (S. 333) basiert, zum ›Erzählen im Paradigma‹ als einem »serielle[n] Erzählen, das immer wieder die gleichen oder zumindest sehr ähnliche Basiskonfigurationen durchspielt« (S. 343) und zur Funktion blinder Motive, wie sie die ›abgewiesene Alternative‹ bestimmen, lassen einerseits Eigenheiten vormodernen Erzählens besonders deutlich werden und machen zugleich auf Leerstellen der klassischen Erzähltheorie aufmerksam.

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I.6 Verunsicherungen von Erzähler- und Fokalisierungskonzepten

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Das kurze Abschlusskapitel zum Erzähler und zur Erzählperspektive (als discours-Aspekten) lässt die Historizität des klassischen Theoriedesigns der Narratologie und die Notwendigkeit einer Revision etablierter Begriffe hervortreten: Die Trennung von Autor und Erzähler einerseits sowie homo- und heterodiegetischem Erzähler andererseits, so Schulz’ These, sei mit Blick auf mittelalterliche Texte nur bedingt sinnvoll, »da der empirische Autor sich [im höfischen Roman] unter seinem realen Namen als Erzähler inszeniert« (S. 367) und da der »Erzähler des höfischen Romans wie auch des Heldenepos ein heterodiegetischer« ist, »der allerdings nicht unbedingt kategorisch außerhalb der dargestellten Welt steht (extradiegetisch), weil er für die Ereignisse seiner Erzählung grundsätzlich Relevanz für seine eigene Lebenswelt und diejenige seines Publikums behauptet« (S. 368). Darüber hinaus betont Schulz unter Rückbezug auf die Arbeit Gert Hübners, dass die narratologischen Kategorisierungen von Perspektive »von historisch spezifischen Erzählformen abgeleitet sind, die uns heute zwar vollkommen natürlich erscheinen mögen, dies jedoch im Hinblick auf ein vormodernes Erzählen keinesfalls sind« (S. 384).

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Die komplexe Anlage des Erzählers macht Schulz für eine generische Differenzierung fruchtbar: Im Heldenepos habe der »Erzähler eine eigne Stimme, die sich als das ›Ich‹ der Narration konturiert, aber diese Stimme verfügt nicht über ein Wissen und eine Wahrnehmung, die von derjenigen des Publikums unterschieden wäre« (S. 373); zugleich gebe es keine wissensbasierte Hierarchisierung von Erzähler und Figuren, beide wissen gleich viel: »Das Heldenepos entwirft eine Welt, in der es keine je individuelle Sicht auf die Dinge gibt, eine Welt, die grundsätzlich für jeden gleich ist« (S. 373). Im höfischen Roman hingegen sei das Wissen unterschiedlich verteilt, der Erzähler sei »Mittler zwischen dem Stoff […] und dem Publikum« (S. 375). Zweierlei wird also deutlich: Das Begriffssystem der Narratologie ist nicht nur historisch, sondern auch generisch bedingt.

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Fazit

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Schulz’ Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive hat den schwierigen Grad zwischen einem ›studienbegleitenden Arbeitsbuch‹ und einem ›Forschungsbeitrag‹ zu passieren. Die Studie überzeugt durch ihre gute Lesbarkeit, durch die Anschaulichkeit der vielen Beispiele, durch die Breite des präsentierten Materials sowie durch die Vielzahl der vorgestellten Zugriffe – damit erfüllt sie die Ansprüche, die an ein Studienbuch gestellt werden.

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Verfehlt ist in dieser Hinsicht leider die Position des Bandes auf dem Buchmarkt: Ein ›studienbegleitendes Arbeitsbuch‹, das 119,95 Euro kostet, wird den vom Autor anvisierten Leser schwerlich erreichen – der Verlag hingegen hat wohl, wie man der Homepage entnehmen kann, einen anderen Rezipienten im Blick (Bibliotheken, Institute, Mediävisten). Dabei ist der Studie zu wünschen, dass sie auch von Studierenden gelesen wird.

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Fraglos wird Schulz’ Studie für jeden, der systematisch zu einer histoire-interessierten historischen Narratologie arbeitet, ein erster Referenzpunkt sein. Seine Erzähltheorie kartographiert die grundlegenden Parameter und gibt – über ihre komplementäre Dimension hinaus – Impulse, über die etablierten narratologischen Begriffe aus historischer und generischer Perspektive nicht nur nachzudenken, sondern sie auch angemessen zu revidieren.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Ansgar Nünning: Towards a Cultural and Historical Narratology. A Survey of Diachronic Approaches, Concepts, and Research Projects. In: Bernhard Reitz / Sigrid Rieuwerts (Hg.): Anglistentag. 1999 Mainz. Trier: WVT 2000, S. 345–373; Monika Fludernik: The Diachronization of Narratology. In: Narrative 11 (2003), S. 331–348; Astrid Erll / Simone Roggendorf: Kulturgeschichtliche Narratologie: Die Historisierung und Kontextualisierung kultureller Narrative. In: Ansgar Nünning / Vera Nünning (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: WVT 2002, S. 73–113.   zurück
Nünning (Anm. 1), S. 357.   zurück
Matías Martínez: Vielheit und Einheit des Erzählens? Möglichkeiten einer historischen Narratologie. In: Internationale Vereinigung für Germanistik. URL: http://www.ivg2010.pl/index.php/page/Sektion-38(aufgerufen am 01.02.2011).   zurück
Ulrich Ernst: Die natürliche und die künstliche Ordnung des Erzählens. Grundzüge einer historischen Narratologie. In: Rüdiger Zymner (Hg.): Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Fs. für Dietrich Weber. Köln: edition chōra 2000, S. 179–199, hier S. 179.   zurück
Vgl. z.B. Irene de Jong / René Nünlist (Hg.): Time in Ancient Greek Literature. (Studies in Ancient Greek Narrative 2) Leyden: Brill 2007.   zurück
Gert Hübner: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im »Eneas«, im »Iwein« und im »Tristan«. (Bibliotheca Germanica 44) Tübingen / Basel: Francke 2003.   zurück
Vgl. z.B. Evelyn Birge Vitz: Medieval Narrative and Modern Narratology. Subjects and Objects of Desire. New York / London: New York University Press 1989.   zurück
Z. B.Harald Haferland / Matthias Meyer (Hg.): Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Unter Mitarbeit von Carmen Stange und Markus Greulich. Berlin / New York: de Gruyter 2010.   zurück
Vgl. Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman. Berlin / New York: de Gruyter 2007.   zurück
10 
Vgl. Jörg Dünne / Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. (stw 1800) Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006.   zurück