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Laienastrologie und Kalenderprognostik

Ein Desiderat der germanistischen Forschung

  • Markus Mueller: Beherrschte Zeit. Lebensorientierung und Zukunftsgestaltung durch Kalenderprognostik zwischen Antike und Neuzeit. Mit einer Edition des Passauer Kalendars (UB/LMB 2° Ms. astron. 1). (Schriftenreihe der Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel 8) Kassel: Kassel University Press 2009. 442 S. EUR (D) 59,00.
    ISBN: 978-3-89958-296-3.
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Zur Themenstellung und ihrer wissenschaftlichen Bedeutung

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Kalenderprognostik bzw. laienastrologische Traditionen spätmittelalterlicher Textzeugen transportieren kollektiv verbindliches kulturelles Wissen unterschiedlicher Genese, das sich bekanntlich erst später in der Ausbildung von Disziplinen kommunikativ voneinander abschließen wird. Die komputistisch-prognostischen Handschriften des späten Mittelalters, die vereinfacht auf lateinische Traktate und deren Vorläufer, vor allem die babylonisch-assyrische Astrologie, zurückgehen, sind so eine wahre Fundgrube ursprünglich gelehrten Wissens, das in Volkskalendern und Hausbüchern in immer neuen zeitspezifischen Kompilationen Eingang fand.

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Trotz einer erheblichen Anzahl spätmittelalterlicher Textzeugen sind diese von den Philologien ziemlich wenig beachtet worden. Ursache hierfür ist möglicherweise auch der Abstand zu einem heute in der Tat fremden Wissen bzw. Denken, das der unbefangene Betrachter abschätzig belächeln mag, dessen Decodierung jedoch nicht einfach ist und transdisziplinäres Arbeiten unbedingt einfordert. Ein solches Unterfangen ist ausgesprochen begrüßenswert, bedienen sich doch narrative Texte, Fachprosa und bildende Kunst zwischen Spätmittelalter und Aufklärung gleichermaßen aus diesem Fundus laienastrologischen Wissens. Vor diesem Hintergrund ist Muellers Untersuchung sozusagen von vornherein mit einem erheblichen Bonus zu bedenken, noch dazu, weil er seiner Arbeit die Edition des Passauer Kalendars (UB/LMB 20 Ms. astron. 1) zugrundelegt und dabei, und das ist sehr zu begrüßen, Texte sowie Bilder dieses laienastrologischen Kompendiums übermittelt.

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Teilweise nur handbuchartige Behandlung der Thematik und Mängel hinsichtlich des besonderen Bezugs auf den Passauer Kalendar

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Doch freilich sind Irritationen nicht zu übersehen. Markus Mueller war mit der Anlage seiner Arbeit nicht unbedingt gut beraten. Im zweiten Hauptkapitel wird der Inhalt des Passauer Kalendars vorgestellt und dabei auf »Kalendertafeln«, »Komputus«, »Tierkreiszeichentraktat«, »Aderlasstraktat«, »Zodiakal-Lunar«, »Sphärentraktat«, »Planetentraktat«, »Jahreszeitenlehre«, »Monatsregimen«, »Sammellunar«, »Christtagsprognostik« und »Anhänge« (wie etwa Wind- oder Sonnenscheinprognostik) eingegangen, und zwar oft vermittels eines schematisierten Zugriffs (»Inhalt und Form«, Quellen, Fassungen etc.). Die Ausführungen sind eher lehrbuchhaft, sie informieren oft nur oberflächlich und bilden teilweise geradezu erratische Blöcke, vernetzen also kaum.

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Ein weiterer Zugriff auf das Passauer Kalendar erfolgt über die Betrachtung der »Text- und Wissensorganisation«: »Kompilationstechnik«, »Textstruktur«, »Wissensstrukturen« (etwa: »temporal-rhythmisch«, »zahlenschematisch« und »sonstige« wie »topographisch-anatomisch« etc.), »Bilder und graphische Elemente«. Auch hier sind die Ausführungen in einer Art und Weise segmentiert, dass Handbuchcharakter entsteht. Für den Rezipienten verwirrend sind dann die folgenden Hauptkapitel, die da lauten: »Volkskalender«, »Zeichen«, »Ordnungen«, »Zeitherrscher«. Hier handelt es sich mitnichten in erster Linie um das Passauer Kalendar, breit gestreut sind zum Beispiel in den Ausführungen zum Volkskalender allgemeine Informationen (etwa die relativ breit geführte »Geschichte der Astrologie«, die Frage nach »Funktion und Publikum« etc.): Das sind in der Tat basale Problematiken, sie sind jedoch leider mit dem eigentlichen Thema, dem Passauer Kalendar nur locker verbunden insofern, als eben auch dieser Text, wie Mueller richtig feststellt »alle Elemente [enthält], die den Kernbestand eines Volkskalenders ausmachen« (S. 119).

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Ähnliches gilt für die folgenden genannten Hauptkapitel, die sich breit etwa der »Zeichenhaftigkeit der Welt« widmen, der Signaturenlehre, der »Wahrsagung«, der astrologischen Mantik, der »Laienastrologie«, den Ordnungssystemen »Zeit« (Kalender, zyklische vs. lineare Zeit) und »Raum« (mit Ausführungen z.B. zur mittelalterlichen Kosmologie), dem Menschen als Mundus minor, der Geschichte der Medizin, schließlich den »Zeitherrschern«, als da sind die »Planeten(götter)«, die »Tierkreiszeichen« und die »Monatsregenten«: All dies sind gewisslich gewichtige Themen, doch in jedem Fall gibt es leider nur schmale Durchblicke zum Passauer Kalendar.

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Ausführungen zum Bildprogramm des Passauer Kalendars

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Solches ändert sich mit der Behandlung des Bildprogramms (ab S. 223); hier werden explizit die »Tierkreiszeichen-Serien im Passauer Kalendar« behandelt, die Vorstellung der »Planetengötter« bleibt leider wiederum mehr im Allgemeinen, interessant sind dagegen die Einlassungen zu den »Sieben Todsünden«: Hier stellt Mueller in Text und Bild und zugehörigen Kommentaren eine Besonderheit des Passauer Kalendars vor, den »mittels ›Symboltieren‹ auf die Fahnen der Planeten eingearbeitete[n] Laster- oder Sündenkatalog«, der »ohne Parallele in diesem Genre geblieben zu sein scheint« (S. 255). Ebenso wird mit den »Planetenkindern« verfahren, hier folgen Text und Bild mit jeweiligem Kommentar – und bieten so einen sehr guten Einblick in die Besonderheit des Passauer Kalendars. Auch hinsichtlich des »Monatsbilderzyklus« wird erfreulicherweise ähnlich verfahren, zu den Ausführungen zu »Tierkreiszeichenmann«, »Aderlassmännchen« und »Weltallbild (Sphära)« existieren ebenso genauere Zugriffe auf das Passauer Kalendar.

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Fazit

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Der Anspruch Muellers einer erstmaligen umfassenden Kommentierung eines spätmittelalterlichen Volkskalenders, »wobei sämtliche zentralen Text- und Bildelemente in die inhaltliche und formale Analyse miteinbezogen wurden« (S. 349) ist zwar umgesetzt, doch verschenkt der Autor dabei erhebliches Potential. Sein Resümee, dass das Passauer Kalendar eine »idealtypische Zusammenstellung von populären Kalenderillustrationen und komputistisch-prognostischen bzw. medizinisch-astrologischen Traktaten [ist], die insgesamt eine Informationsfülle bieten, die über das Angebot gewöhnlicher laienastrologischer Handschriften des 15. Jahrhunderts weit hinausgeht« (S. 349), ist gewiss richtig, doch ist es Mueller nicht unbedingt gelungen, dies auch zu vermitteln: Zu allgemein sind seine Ausführungen im Handbuchstil, die zwar für sich genommen interessant, doch nicht geeignet sind, die Tiefendimension des Passauer Kalendars auszuloten. Hier wäre weniger mehr gewesen, und das heißt in diesem Fall: den weitgehenden Verzicht auf allgemeine Informationen und die Beschränkung auf wesentliche Charakteristika, die zusammengeführt und funktionalisiert das besondere Profil des Passauer Kalendars (auch im Hinblick auf Rahmenbedingungen wie Adressatenschicht etc.) hätten ausloten können. Trotz dieser Monita bleibt der Untersuchung selbstverständlich unbenommen, dass sie mit der Vorstellung relevanter Themenfelder einen wichtigen Vorstoß innerhalb eines kaum beachteten Forschungsfelds leistet und so möglicherweise weitere Arbeiten hierzu befördert.