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Interkulturelle Kommunikation im europäischen Monolog?

Georg Forsters Reise um die Welt aus kulturwissenschaftlicher Perspektive

  • Yomb May: Georg Forsters literarische Weltreise. Dialektik der Kulturbegegnung in der Aufklärung. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 127) Berlin: Walter de Gruyter 16.09.2011. 330 S. Gebunden. EUR (D) 99,95.
    ISBN: 3-11-023801-2.
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Georg Forsters Pionierleistungen auf dem Feld aufklärerischer Reisebeschreibungskunst sind in der Forster- wie in der Reiseliteratur-Forschung geradezu topisch. Schon vor 30 Jahren hat Harro Segeberg Forsters Ansichten vom Niederrhein als eine »poetische Prosa« charakterisiert, die programmatisch eine ausdrücklich »subjektbezogene Weltentdeckung« zur Darstellung bringe. 1 Ergänzend zu dem Rekurs auf Subjektivität wurde Forsters Forderung nach Literarizität des Reiseberichts festgehalten. Uwe Hentschel hat in diesem Sinne – auch unter Auswertung von Forsters Gattungsreflexion in seinen Rezensionen reiseliterarischer Werke – den expliziten »Kunstcharakter« des Reiseliteraturkonzeptes herausgestellt. 2 Für die eigenen Reise-Werke Forsters wiederum hat Tilman Fischer die literarische Umsetzung des Anspruchs auf eine ›philosophische Reisebeschreibung‹ durch verschiedene »Erzählerrollen« nachgewiesen. 3 Neben diesen erkenntnistheoretischen und narratologischen Innovationen zeichnet sich, so der breite Konsens der Forschung, gerade die Weltreisebeschreibung inhaltlich durch hochdifferenzierte ethnologische Aufzeichnungen sowie eine (wenngleich nicht immer konsequente) kritische Reflexion auf Nutzen und Kosten von Entdeckungsreisen aus. 4

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Die anzuzeigende Studie nun sieht in Forsters Reise um die Welt nicht nur ein »Gründungsdokument der modernen Reiseliteratur«, sondern zugleich einen »Großkommentar des europäisch-südpazifischen Kulturkontaktes«, der »ungewöhnliche Einblicke in die beginnende Verflechtung der Kulturen« gebe (S.1). Der Verf. knüpft damit an die neuere Interkulturalitätsforschung an. Leitend ist der Gedanke, dass die Reise um die Welt nicht als ein »europäischer Monolog über die Südsee«, sondern als ein Text gelesen werden müsse, der von einem »Doppelblick« Zeugnis ablege (S. 16). Forsters Schilderungen der mehr oder weniger gelungenen Begegnungen oder Konfrontationen von Kulturen beinhalteten also immer mindestens zwei Perspektiven: dem Blick der Europäer auf die Südseeinsulaner geselle sich der umgekehrte Blick der Südseeinsulaner auf die Europäer hinzu. Gerade die versteckten Spuren indigener Wahrnehmungen, Erfahrungen und Deutungen aber will der Verf. im Anschluss an die Arbeiten von Nicholas Thomas u.a. freilegen. 5 Die Reise um die Welt soll damit als »literarischer Ort wechselseitiger Interpretation und Relativierung von kulturellen Selbstverständlichkeiten in Überschneidungssituationen« gelesen und Forster »als Zeuge […] und klarsichtige[r] Analytiker der Dialektik von Kulturbegegnungen« sichtbar gemacht werden (S. 18). Das zentrale Erkenntnisinteresse liegt dabei auf dem Inhaltlichen, d.h. der Frühgeschichte der Interkulturalität, nicht auf dem Formalen, d.h. der erzählerischen Inszenierung dieser Begegnungen. Dass der mutmaßliche »Doppelblick« Effekt spezifischer literarischer Darstellungsstrategien ist, gerät daher leider nur ansatzweise in den Blick.

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Die Abhandlung gliedert sich neben Einleitung und Zusammenfassung in sieben Kapitel. In einem der Textanalyse vorgeschalteten Methodenteil (Kap. II) verortet sich der Verf. in einer kulturwissenschaftlich orientierten interkulturellen Literaturwissenschaft. Ausdrücklich verficht er die Erweiterung einer traditionellen Texthermeneutik zu einer Kulturhermeneutik (S. 25) im Sinne einer xenologischen, auf eine interkulturelle Hermeneutik zielenden Perspektive (S.34).

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Den historischen und denkerischen Hintergrund für die Reise um die Welt bildet das so genannte zweite Entdeckungszeitalter als ein Zeitalter des Umbruchs, in dem gleichwohl traditionelle Wahrnehmungs- und Darstellungsmuster weitergeführt werden (Kap. III). Die beiden wichtigsten zeitgenössischen Topoi der Fremdwahrnehmung, Idealisierung (Tahiti-Mythos) und Abwertung (»Wilde«), finden sich auch bei Forster. Dieser schreibt sich also – wie der Verf. zu Recht und in Abgrenzung zu älteren, verklärenden Tendenzen der Forster-Forschung betont – durchaus »in den herrschenden Diskurs seiner Zeit« ein (S. 70). Allerdings zeichne er sich im Unterschied zu vielen anderen Weltreisenden durch eine kritische Selbstreflexion auch auf die negativen Folgelasten der als Aufklärung verstandenen Entdeckungsreisen aus. Um diese bekannte Ambivalenz Forsters zwischen Eurozentrismus und Einsicht in die Dialektik der Aufklärung kreist die Studie auch in den folgenden Kapiteln.

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Allerdings holt der Verf. zunächst noch einmal sehr grundsätzlich und weit aus, indem er Forsters Erkenntnistheorie rekapituliert (Kap. IV). Forsters empiristische Grundausrichtung und seine Kritik an einem blinden Gehorsam gegenüber deduktiven Systemen bei gleichzeitiger Anerkennung der Notwendigkeit und des Nutzens systematischer Konzepte ist in der Forschung insbesondere anhand der Debatte zwischen Forster und Kant gründlich rekonstruiert worden. 6 Diese Darstellungen werden durch Bemerkungen des Verf., wie der, dass »Forster die Empirie in den Mittelpunkt des Erkenntnisprozesses« rückt (S. 87), lediglich bestätigt, nicht ergänzt. Dies gilt auch für den Hinweis auf die zentrale Bedeutung von Forsters Metaphorik der »Farbe des Glases« (S. 106) als Formel, die auf die dialektische Verknüpfung von Erkenntnisgegenstand und Erkenntnissubjekt anspielt. Diese Zusammenfassung des Forschungstandes hätte etwas knapper ausfallen dürfen.

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Nach der Erkenntnistheorie geht es um die Erkenntnispraxis (Kap. V). Forster setzt bekanntlich auf Beobachtung und Beschreibung und sucht im Reisebericht immer auch den kritischen Austausch mit Vorbildern: So evoziert er etwa zunächst in seiner Schilderung den Tahiti-Mythos, um ihn dann in der konkreten Auseinandersetzung mit dem Gegenstand nach und nach kritisch als europäische Ideologie zu destruieren. (Im folgenden Kapitel wird der Verfasser zudem zeigen, wie Forster mit der Antikisierung Tahitis als ›versunkene Kindheit‹ seine eurozentrische Perspektive dieser Ideologiekritik ungeachtet beibehält).

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Weniger überzeugend ist hier die etwas apologetisch wirkende Suche des Verf. nach diversen Vorreiterrollen Forsters. Dass Forster etwa »Techniken der Montage« (S. 169) verwende und eine Form der »Intertextualität« (S. 171) praktiziere, wie sie sich erst im 20. Jahrhundert »voll entfalten« konnte, scheint schlichtweg falsch und hätte weiterer Ausführung durch eine detaillierte Analyse literarischer Strategien bedürft.

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Dem einleitend exponierten zentralen Untersuchungsgegenstand, den interkulturellen Begegnungen in doppelter Perspektive, wendet sich die Arbeit im engeren Sinne erst in der zweiten Hälfte zu (ab Kap. VI). Dass etwa nichtsprachliche Zeichen und Symbole keineswegs universale anthropologische Konstanten, sondern kulturell determiniert sind, und ihr Gebrauch daher zu fundamentalen Missverständnissen führen kann, ist eine bekannte Forstersche Einsicht. Derartigen verblüffend klarsichtigen Erkenntnissen des Weltreisenden zum Trotz hält der Verf. fest, dass Forster »sich nicht darauf beschränkt, kulturelle Differenz zu markieren, sondern meistens ein hierarchisches Modell zugunsten Europa daraus ableitet« (S. 188). Bei Forster finde sich also beides nebeneinander: »kulturchauvinistisches Gedankengut« mit eurozentrischen und imperialistischen Überlegungen (S. 213) ebenso wie sensible, selbstkritische Blicke auf Situationen misslungener interkultureller Kommunikation.

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Dies verdeutlicht der Verf. abschließend noch einmal in seiner Analyse von Forsters Darstellung gewalttätiger Kontakte (Kap. VII). Zwar stelle der Weltreisende die Insulaner tendenziell als Opfer der Entdeckung dar (S. 248), deren aggressives Verhalten meist nichts anderes als Notwehr sei. Bei aller Empathie für die Südseebewohner bleibe Forster jedoch – wie insbesondere seine Kolonialphantasien zeigten (S. 267) – in der Widersprüchlichkeit von eurozentristischer Normativität und propagierter Vorurteilslosigkeit gefangen. Ob dieser fraglos richtige Sachverhalt nun eine Ambivalenz oder eine Dialektik ist, wird nicht ganz deutlich und ist eine der terminologischen Unklarheiten, die die Argumentation der vorliegenden Studie trüben.

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Und was sagen nun die Bewohner des südpazifischen Inselraums? Es leuchtet ein, dass zwischen Erst- und Wiederholungskontakten unterschieden werden muss. Während die Begegnung mit den Tahitianern, die Cook bereits auf seiner ersten Weltumseglung besucht hatte, seitens der Insulaner von Wiedersehensfreude und einer gewissen »Routine« geprägt ist (S. 180), verlaufen die Erstkontakte äußerst unterschiedlich. Häufig sind sie auf Seiten der Insulaner gleichzeitig von Berührungsängsten und interkultureller Neugier geprägt, so dass die Begegnungen letztlich unentschieden und zweideutig bleiben.

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Dass auch die Insulaner kulturelle Praktiken anwenden, um die überraschende Begegnung mit den Europäern in den eigenen Kontext einzubinden (vgl. S. 178) ist nur eine von unzähligen ethnographischen Spuren, die der Verf. aus Forsters Reise um die Welt überzeugend herausliest. Kenntnisreich und differenziert bindet er die neueren und neuesten Ergebnisse der angloamerikanischen und australischen interkulturellen Forsterforschung ein: Der Anschluss an diese Forschungen ist die vielleicht wichtigste Leistung der vorliegenden Studie. Gleichwohl wird die südpazifische Sicht im Gegensatz zur Perspektive des Europäers Forsters nur in Ansätzen deutlich – was angesichts der grundsätzlichen Unentrinnbarkeit aus der eurozentrischen Perspektive freilich wenig verwunderlich ist.

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Was also lernen wir, wenn wir dieses Buch lesen? In seinen Schilderungen interkultureller Kontakte bedient und zitiert Forster nicht nur, er bricht auch mit tradierten Wahrnehmungs- und Darstellungsklischees. Er beobachtet die Südseevölker sehr genau und fixiert das Gesehene hochreflektiert – ohne dabei die eurozentrische Perspektive zu verlassen. Dass Forster gleichwohl eine »interkulturelle Hermeneutik« begründe, die sich in der rezenten Interkulturalitätsforschung fortschreibe, ist wieder eine dieser Aktualisierungen, die etwas forciert wirken. Ob Forsters Überlegungen zum Handel und zur Vorherrschaft europäischer Zivilisationsvorstellungen auf aktuelle Debatten und Begriffe wie ›Globalisierung‹ und ›Leitkultur‹ perspektiviert werden müssen, sei in diesem Sinne ebenfalls dahingestellt. Umgekehrt jedenfalls ist der Vorwurf gegen wissenschaftshistorische Rekonstruktionen, sie rollten längst erledigte Debatten auf (S. 216), einem problematischen Fortschrittsdenken verpflichtet, das Forsters zeitgenössische Kontexte und Problemstellungen nur ansatzweise zu erfassen vermag.

 
 

Anmerkungen

Harro Segeberg: Die literarisierte Reise im späten 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Gattungstypologie. In: Reise und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts. Hg. v. Wolfgang Griep u. Hans-Wolf Jäger. Heidelberg 1983, S. 14–31, hier S. 26.   zurück
Uwe Hentschel: Georg Forster – Theorie und Praxis der Reisebeschreibung. In: ders.: Studien zur Reiseliteratur am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Autoren – Formen – Ziele. Frankfurt/M. 1999, S. 45–70, hier S. 56.   zurück
Tilman Fischer: Denklust und Sehvergnügen. Zum Rollenwechsel in den Reisebeschreibungen Georg Forsters. In: Natur – Mensch – Kultur. Georg Forster im Wissenschaftsfeld seiner Zeit. Hg. v. Jörn Garber u. Tanja van Hoorn. Hannover-Laatzen 2006, S. 171–196.   zurück
Vgl. dazu etwa Reinhard Heinritz: »Andre fremde Welten«. Weltreisebeschreibungen im 18. und 19. Jahrhundert. Würzburg 1998; Vanessa Agnew: Ethnographic Transgressions and Confessions in Georg Forster’s Voyage round the World. In: Schwellen. Germanistische Erkundungen einer Metapher. Würzburg 1999, S. 304–315.   zurück
Nicolas Thomas: Discoveries. The Voyages of Captain Cook. London 2003.   zurück
Vgl. zu dieser Debatte auch neuerdings: Klopffechtereien – Missverständnisse – Widersprüche? Methodische und methodologische Perspektiven auf die Kant-Forster-Kontroverse. Hg. v. Rainer Godel u. Gideon Stiening. München 2012.   zurück