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Besitzt ein Markt Moral?

  • Michael Hochgeschwender / Bernhard Löffler (Hg.): Religion, Moral und liberaler Markt. Politische Ökonomie und Ethikdebatten vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. (Histoire 28) Bielefeld: transcript 2011. 312 S. Paperback. EUR (D) 29,80.
    ISBN: 978-3-8376-1840-2.
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Der Band geht auf eine Tagung der Akademie für politische Bildung in Tutzing vom Oktober 2008 zurück. Sie stand unter dem etwas abweichenden Titel »Kapitalismus, Liberalismus und religiöses Ethos«. Gegenstand waren die kulturhistorischen Interdependenzen und ideengeschichtlichen Entwicklungen in Westeuropa und den Vereinigten Staaten, wobei die seinerzeitige Bankenkrise den politischen, monetär-katastrophischen Hintergrund bildete. Entgegen dem von ihnen bemängelten »Hang zum Vergessen, Schön- und Herausreden« möchten die Herausgeber dazu beitragen, dass »die engen Zusammenhänge von politischer Ökonomie, Wirtschaftsmoral, Religion und Kultur im Bewußtsein« bleiben.

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Nun bedarf es wohl nicht erst eines so einschneidenden Vorkommnisses, wie es jener Bankenzusammenbruch samt der finanzpolitischen Folgeerscheinungen gewesen ist, um auf die angesprochenen Zusammenhänge aufmerksam zu machen. Kein anderes wirtschaftsethisches Thema ist während der letzten hundert Jahren, seit Max Weber seine Studien zur Korrelation von protestantischer Ethik und »Geist des Kapitalismus« vorgelegt hat, prominenter gewesen.

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Zur Kraft des »liberalen Kapitalismus«

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Mit Recht aber weist Bernhard Löffler im einleitenden Aufsatz auf die sozioökonomischen Transformationsvorgänge hin, die sich seit dem Untergang der staatssozialistischen Regime in Osteuropa ereignet haben. Unter Berufung auf jenes Scheitern machen nun viele einen »liberalen Kapitalismus« als schlechthin normsetzendes Ordnungsprinzip von Wirtschaft und Gesellschaft aus. Vermeintlich gibt ihnen dabei die globale Entwicklung, die Internationalisierung, verbunden mit dem Bedeutungsverlust partikularer Handlungsmuster, recht. Dass damit jedoch zugleich konsensliberale Lösungsmodelle in Frage gestellt werden, macht die politische Ausrichtung solcher Plädoyers deutlich. Auf diese, heute vielfach als »neoliberal« etikettierte kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystematik richten sich die kritischen Analysen des Bandes. Mit ihrer ökonomistischen und marktzentrierten Radikalität prägt sie die gegenwärtigen ökonomischen und wirtschaftsethischen Debatten.

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Der »Bedeutungsgewinn des Religiösen in der Welt«

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In der Zeitgeschichtsschreibung gilt der »digitalisierte Finanzmarktkapitalismus« geradezu schon als materielles Fundament der Epoche. Demgegenüber beobachten die Autoren »als Folge der Umbrüche und ihrer verunsichernden, viele traditionelle Lebensentwürfe, Wertvorstellungen und Sinngewißheiten« erschütternden Auswirkungen eine Intensivierung des Bedürfnisses nach ethisch-normativer oder religiöser Rückbindung. Trotz des fortschreitenden Erosionsprozesses der klassischen christlichen Religionsformationen und ihrer Institutionen »scheint es zu einem Bedeutungsgewinn des Religiösen in der Welt gekommen zu sein«. Das ist nun in solcher Allgemeinheit gewiss eine steile These. Aber wie berechtigt ist diese, und sei es auch mehr intuitive, Annahme? Es gibt ja viele Indikatoren dafür, dass das Gerede vom Verschwinden der Religion, der Kirche, ja gar Gottes selbst verfrüht gewesen ist. Heute geht es im Gegenteil eher um die richtige Einschätzung der diversen Resakralisierungsbestrebungen, um die neue Konjunktur des religiösen Phänomens, die sich bis dahin erstreckt, dass junge einkommenssteuerpflichtige Familien sehr entschieden ihre Mitgliedschaft in einer der großen Kirchen pflegen. An dieser analytischen Arbeit beteiligt sich der von dem Münchener Kulturgeschichtler Michael Hochgeschwender und dem Regensburger Historiker Bernhard Löffler herausgegebene Band.

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Den einzelnen Beiträgen schickt Löffler seine Beobachtung voraus, wonach auch im ökonomischen Bereich eine »grundsätzliche Revitalisierung religiös-ethischer Bezüge und entsprechender Selbstvergewisserungsmuster, Deutungskategorien und Symbolsprachen« festzustellen sei. Die in diesem Bereich »von vielen« empfundene »Notwendigkeit einer überweltlichen Dimensionierung« erstrecke sich nicht allein auf den Bereich der privaten Lebensentwürfe oder die gesellschaftlichen Vorstellungen der Einzelnen, sondern ganz explizit auf das Wirtschaftsleben.

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Interessant wird die Revitalisierungsthese vor dem Hintergrund des Siegeszuges des liberalen, marktwirtschaftlich konditionierten Kapitalismus. In der Summe versuchen die Beiträge beide Aspekte in einem weitausholenden historischen und systematischen Ausgriff zusammenzuführen. Im Mittelpunkt stehen die Wechselbeziehungen von Liberalismus, Kapitalismus und Religion beziehungsweise religiösem Ethos. Auf einer zweiten Ebene gelten die Analysen der Zuordnung von Staat, Markt, Individuum und Gesellschaft. Schließlich soll der Gehalt jener ethisch-religiösen Normen und moralischen Vorstellungen, die sich aufs Neue geltend machen, genauer ermittelt werden. Das Forschungsfeld ist nicht national begrenzt und umschließt die kulturgeschichtliche Seite ebenso wie transnationale Transferprozesse, gesellschaftliche und mediale »Diskursstrategien, Perzeptionsmuster und Rezeptionsprozesse« sowie die politischen Aspekte des Zusammenspiels von Ökonomie, Gesellschaft, Religion und Moral.

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Zu Struktur und Inhalt des Bandes – ein Überblick

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Bei einem derart elaborierten Projekt wäre man enttäuscht, wenn die konzeptionellen Vorgaben nicht auch eine differenzierte Methodendiskussion einschlössen. Naturgemäß knüpfen die Autoren an Weber, Georg Simmel und die Theoretiker der Sozialen Marktwirtschaft an. Es wirken aber auch die ältere »Wirtschaftskultur- und Wirtschaftsstilforschung« (die nach der außerökonomischen Einbettung von Wirtschaftsordnungen fragt) sowie der seit einiger Zeit auch von theologisch-sozialethischer Seite verfolgte Ansatz der »Religionsökonomik« ein. Als Orientierungsmodelle dienen die »Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte«, die »Neue Institutionenökonomik« und die transnationale Ideen- und Kulturgeschichte.

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Am deutlichsten treten die methodischen und inhaltlichen Prämissen in den beiden Aufsätzen der ersten Abteilung (»Methodendebatten zum Verhältnis von Religion, Kultur und Wirtschaft«) von Anne Koch und Clemens Wischermann heraus. Die zweite Gruppe ist dem »angloamerikanischen Diskurs« gewidmet (»Von Smith zu Hayek und Thatcher«). In das 18. und 19. Jahrhundert geht Jörn Leonhard in seiner Studie zur Differenzierung der »Political Economy« in Großbritannien zurück, während Johannes Wallacher über die bleibende Bedeutung der Theorie Adam Smiths, Iris Karabelas zu Hayek und Dominik Geppert über die Bedeutung religiös-ethischer Fragen in der Thatcher-Zeit schreiben. Dem intellektuellen Profil und wirtschaftstheoretischen Umfeld von John Rawls widmet sich Walter Reese-Schäfer. Starke Gesichtspunkte bringt schließlich auch der Mitherausgeber Michael Hochgeschwender ein, indem er die »Paradigmen kapitalistischer Marktordnung« auf die extrem disparate, von tiefen Konfessionsgegensätzen zerklüftete Religionslandschaft der USA bezieht. Die dritte Gruppe von Aufsätzen geht dem Verhältnis von Wirtschaftsdiskussionen und Gesellschaftsvorstellungen in Italien und Deutschland nach. Thomas Brechenmacher widmet sich dem »Disput« zwischen Benedetto Croce und Luigi Einaudi. Einen schönen Aufsatz steuert auch Nils Goldschmidt über »die protestantischen Wurzeln und katholischen Zweige der Sozialen Marktwirtschaft« bei. Problemgeschichtliche Fortschreibungen dessen liefern Ronald J. Granieri mit Studien über die Diskussion zur Sozialen Marktwirtschaft bei Katholiken und Christdemokraten im westlichen Nachkriegsdeutschland und Friedrich Kießling über den Zusammenhang von wirtschaftlicher Prosperität, Massenkonsum und Demokratiebegründungen in den liberalen und konservativen Gesellschaftsdeutungen bis 1989.

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Eine etwas andere Blickrichtung auf das bundesrepublikanische Modell – als einer auf Krieg und Zerstörung folgenden Wohlstandsdemokratie westlicher Prägung – nehmen Frank Bösch in einem Aufsatz über Interaktionen und Transformationen im Spannungsfeld von Kirchen, Religion und Medienmärkten und das Autorenteam Sven-Daniel Gettys und Thomas Mittmann mit ihrer Erörterung der »Konjunkturen« (im Plural!) religiöser Semantik in den deutschen Kapitalismusdebatten seit den 1970er Jahren ein. Beide Texte stehen unter dem Obertitel »Religion und Markt, Religion auf dem Markt«.

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Ein wacher, illusionsloser Blick auf die Situation im Geiste Webers

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Blickt man auf den Band als ganzen, so ist sein wichtigstes Verdienst zunächst sehr elementar: Mit den diversen Einzeluntersuchungen, aber auch schon mit der übergreifenden Fragestellung trägt er zu einer schärferen Profilierung der Bedeutung außerökonomischer Motive innerhalb des wirtschafts- und sozialtheoretischen Themenfeldes bei. Die Aufsätze geben einen substantiellen Beitrag zur historischen und systematischen Aufhellung der Wechselbeziehungen zwischen Marktökonomie, Individuum und Gesellschaft. Deutlich wird auch, dass eine »sozialverträgliche« Gestaltung der globalisierten Wirtschaftsordnung ohne den unmittelbaren Bezug auf religiös-ethische Steuerungsfaktoren des Urteilens und Handelns nicht möglich ist.

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Eine weitere Einsicht liegt darin, dass entgegen dem Globalisierungstrend die historisch gegebenen, nationalen und partikularen Differenzierungen nach wie vor eine wesentliche Rolle spielen. Das bedeutet aber: Es ist realitätsfern, von einem an sich bestehenden Ensemble religiöser Figuren auszugehen. Auch an dieser Stelle ging Weber mit seinen Forschungen voran, hat er doch gerade regionalen Aspekten bei seiner Suche nach mentalitätsprägenden Aspekten große Aufmerksamkeit geschenkt. So wenig sinnvoll folglich die Konstruktion homogenisierender Muster ist, so sehr weist auf der anderen Seite gerade die Uneinheitlichkeit der Konstellationen von Wirtschaft, Gesellschaft und Religion der Forschung den Weg. Was im einzelnen »Liberalismus«, »Kapitalismus« und »Religion« bedeutet, kann nur im Rahmen der kulturellen Kontexte ausgemacht werden, denn über sie wurden die jeweiligen Programme und Lagebeurteilungen an vertrautes Inventar angeschlossen.

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Nur von hier aus lässt sich dann auch eine Forderung vortragen, wie sie Bernhard Löffler zuletzt exponiert, dass es nämlich gelte, »das System der liberal-kapitalistischen Wirtschaft tatsächlich wieder stärker auf gesellschaftliche Normen zu beziehen«. Angesichts der in dem Band selbst beigebrachten Materialien klingt sie irgendwie rührend, wenn sie auch der Sache nach zweifellos zutrifft. Vor der Meinung, »der Kapitalismus« sei eben doch letztlich nur ein »ephemeres«, »vorübergehendes« Phänomen, sollte man sich allerdings hüten. Auch die Hoffnung auf irgendwelche Renaissancen von Ethik, Moral und gutem Liberalismus trügen. Besser wäre es, zum Beispiel mit Max Weber, der Situation illusionslos und wach ins Gesicht zu blicken.