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Der Wille zum Gesamtkunstwerk - eine andere Geschichte der ästhetischen Moderne

  • David Roberts: The Total Work of Art in European Modernism. (Signale: Modern German Letters, Cultures, and Thought) New York: Cornell 2011. 292 S. Kartoniert. USD 33,70.
    ISBN: 978-0-8014-5023.
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1. Revision vorherrschender Grundannahmen

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The Total Work of Art in European Modernism ist der letzte Teil einer Trilogie zur europäischen Moderne des australischen Literatur- und Kulturwissenschaftlers David Roberts. Die beiden ersten Teile, Art and Enlightenment. Aesthetic Theory after Adorno (1992) und Dialectic of Romanticism. A Critique of Modernism (2004) geben die Stoßrichtung vor, in welcher sich auch der letzte Teil bewegt: eine radikale Kritik an der von Adorno geprägten und bis heute Schule machenden Lesart der kulturellen Moderne. Während Art and Enlightenment darauf abzielte, die romantischen Wurzeln der Frankfurter freizulegen und zu zeigen, dass Aufklärung und Romantik die beiden in ihrem Antagonsimus komplementären Pole der kulturellen Moderne sind, ging Dialectics of Romanticism einen Schritt weiter und unterzog beide Spielarten der Moderne einschließlich ihrer rivalisierenden Selbstbeschreibungsgeschichten einer umfassenden Kritik. Der Standpunkt, von dem aus diese Kritik erfolgte, wird von Roberts charakterisiert als »the perspective of a third, classical modernism, which stresses civilizational continuities against the will to remake society in the name of the most advanced techniques or the most potent myths« (preface).

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Um eben diesen Willen zur Erneuerung der Gesellschaft im Namen der fortgeschrittensten Techniken und der mächtigsten Mythen geht es im abschließenden dritten Teil. In ihm führt Roberts mit futuristischen und archaischen Visionen nicht nur die vermeintlich konträren Konzeptionen der Avantgarde und des Gesamtkunstwerks innerhalb der Kunst, sondern auch die Politik, nachgerade in ihren totalitären Formen, zusammen. Damit wird über bereits vorliegende Darstellungen des Gesamtkunstwerks wie Roger Fornoffs Die Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk. Studien zu einer ästhetischen Konzeption der Moderne entschieden hinausgegangen. Während Fornoff, auf den sich Roberts an zahlreichen Stellen bezieht, im Bereich des Ästhetischen verbleibt und, der Titel sagt es, mit der Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk die romantische Dimension hervorhebt, steht das Gesamtkunstwerk bei Roberts für den totalitären Zug des Willens einer umfassenden sozio-kulturellen Erneuerung. Hinter dem Titel The Total Work of Art in European Modernism verbirgt sich dann auch nicht nur eine Ideengeschichte des ästhetischen Konzepts des Gesamtkunstwerks, sondern vielmehr die Geschichte der fatalen Begegnung von ästhetischen und politischen Totalisierungstendenzen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

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Dass diese Geschichte aus der Perspektive des Gesamtkunstwerks geschrieben wurde, muss zunächst verwundern, liegt das Konzept doch eher ausserhalb der vorherrschenden Paradigmen innerhalb der Moderneforschung. Ihm dann auch noch die Avantgarde zur Seite zu stellen, aber grenzt an Provokation – und genau das ist die Intention. Provoziert werden soll nicht weniger als ein radikales Umdenken. The Total Work of Art in European Modernism nimmt das Gesamtkunstwerk als Ausgangspunkt für eine Revision gängiger Grundannahmen zur Moderne, zu denen von Roberts neben der Betonung der Autonomie und der Ausdifferenzierung der Künste vor allem die Gleichsetzung von Avantgarde und Fortschritt, das Rechts-Links-Schema beziehungsweise die Gegenüberstellung von Revolution und Reaktion sowie von Moderne und Antimoderne gezählt werden.

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Im Kern geht es um den Nachweis, dass dem Gesamtkunstwerk eine Schlüsselstellung in der europäischen Moderne seit der französischen Revolution zukommt, welche wiederum, einmal überzeugend nachgewiesen, dazu einlädt, die Beziehungen von Kunst und Religion sowie Kunst und Politik in der europäischen Moderne neu zu überdenken. Nach Roberts werfen die Geschichte und die Theorie des Gesamtkunstwerks zahlreiche Fragen nicht nur bezüglich der ästhetischen Moderne und ihrer Utopien auf, sondern auch hinsichtlich der gesamten Epoche von der französischen Revolution bis zu den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts.

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Dabei folgt die Argumentation zunächst bekannten Mustern: Seit der französischen Revolution stelle sich die Frage nach der Bestimmung der Kunst. Die kulturelle Säkularisierung der Kunst, verstanden als Auflösung der Verbindung von Kunst, Thron und Altar, habe einen fundamentalen Bruch im Verständnis der Funktion der Kunst bewirkt, wie er durch das Museum symbolisiert und institutionalisiert wird. Die neu errungene Autonomie sei zur Quelle einer permanenten produktiven Krise geworden, die wiederum den Drang nach Selbstaufhebung ausgelöst habe. Ersichtlich werde dieser Drang in den zwei wesentlichen Reintegrationstendenzen der Kunst: Zum einen die soziale in Form von Verbindungen und Kollaborationen von Künstlern, angefangen bei den Nazarenes am Anfang des 19. Jahrhunderts bis hin zu den Bohemian-Gegenkulturen und militanten Avantgardebewegungen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, und zum anderen eine ideologische, von Roberts verstanden als Suche nach einer neuen sozialen Funktion der Kunst.

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Beide Tendenzen nun, und hier geht Roberts einen neuen Weg, fanden einen gemeinsamen Fokus in der verbindenden Idee vom Gesamtkunstwerk; eine Idee, die sich über die gesamte europäische Moderne, von der französischen Revolution bis zum Bolschewismus und Faschismus, verfolgen lasse. Dabei wird das Gesamtkunstwerk oder vielmehr der Wille zum Gesamtkunstwerk verstanden als Beleg für das Fortdauern des Sakralen in Kultur und Politik. »The idea of the total work of art«, so Roberts in der Einleitung, »highlights the ambiguous place of art between religion and politics« (S. 5). Die Idee des Gesamtkunstwerks verkörpert in der Studie gewissermaßen die Ambiguität des Vorhabens, Kunst und Religion oder auch Politik zu verschmelzen. Als Visionen bilden diese Verschmelzungen den Horizont, das heißt das Ziel wie auch die Grenze, welche die Möglichkeiten beziehungsweise Unmöglichkeiten des Gesamtkunstwerks bestimmen. Von Beginn an verbunden mit dem Willen, die öffentliche Funktion der Kunst zurückzugewinnen und zu erneuern, steht das Gesamtkunstwerk als Synthese der Kunst nach Roberts dabei vor allem in Deutschland im Dienst der sozialen und kulturellen Regenerierung.

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Die Verknüpfung von Kunst und Politik in der Moderne erfolgt über den Begriff des Sublimen, verstanden als jene mit dem politischen Ausnahmezustand korrespondierende ästhetische Kategorie, wie sie von Nietzsche geprägt wurde. Roberts beruft sich in diesem Punkt einerseits auf Lyotard, der das Sublime als bestimmende Kategorie der modernen Kunst definierte, und andererseits auf Hanna Arendt und ihre Definition des Sublimen als bestimmende Kategorie des Totalitarismus:

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As the liminal experience par excellence, the sublime signifies the abyssal ground of modern, secularized art and politics, which refers on the one hand to a meta-aesthetic imaginary, tied to the destination or the »end« of (aesthetically differentiated) art, and on the other to a meta-political imaginary, tied to the destination or »end« of (functionally differentiated) politics. (S. 12)
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Auf die zentrale Stellung des Sublimen als eine Art Scharnier zwischen Kunst und Politik wird an anderer Stelle zurückzukommen sein. Doch bleiben wir zunächst bei der Intention des Buches. Wie gesagt, geht es Roberts in erster Linie um den Nachweis, dass dem Gesamtkunstwerk eine Schlüsselstellung zukommt, der die Forschung zur europäischen Moderne bislang nicht gerecht wurde. Der Grund dafür wird hauptsächlich in der Bewertung der Avantgarde gesehen. »The progressive constructions of aesthetic modernism«, so Roberts, »have completely overshadowed the other, complementary quest of the avant-garde for the total work of art« (S. 76). Noch deutlicher:

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Such is the power of slogans that »avant-garde« has imposed itself regardless of the programmes, social or mystic, of the various artistic movements. Publications on the avant-garde continue to proliferate, while there is still not a single book in English on the Gesamtkunstwerk as integral category of aesthetic modernism – an absence that is symptomatic of the progressive reduction of the notion of the avant-garde to the dimension of artistic experiments and techniques (S. 145).
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Mit The Total Work of Art in European Modernism soll diese Einseitigkeit behoben und belegt werden, dass die Avantgarde und das Gesamtkunstwerk zusammengehören. »In the decisive years of the European avant-garde from Marinetti’s 1909 futurist manifesto to the last manifesto of surrealism in 1938, we observe a far-reaching convergence between the idea of the total work of art and the spirit of the avant-gardism« (S. 4).

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Tatsächlich bekommt man beim Lesen den Eindruck, dass es dem Autor vornehmlich um eine Neubewertung der Avantgarde geht. Nicht nur, dass die künstlerischen Experimente und Techniken ausgeblendet werden, auch die anarchistischen oder pazifistischen Momente der historischen Avantgarde sowie die Repression von Seiten der Politik bleiben unberücksichtigt. Stattdessen konzentriert sich die Studie ganz auf die radikalen, zum Totalitären tendierenden Versuche einer Zusammenführung von Kunst und Leben und formuliert auf dieser Grundlage die steile These, dass die utopischen Träume der Avantgarde vom Gesamtkunstwerk in pervertierter Form im Gesamtwerk des Totalitarismus realisiert wurden. Dass eine solche Pervertierung überhaupt möglich war, wird von Roberts sowohl auf die Hybris wie auch auf die Komplexität der politischen und ästhetischen Moderne zurückgeführt.

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The complexity and pluralism of modern society both provoke and relativize all such retotalizing visions; in this sense they partake as discourses in the self-interrogation and debates at the heart of modernity’s cultural and political identity, which it is the function of high culture to articulate. (S. 8)
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Von daher ist das Anliegen des Buches auch und nicht zuletzt eine andere Diskursgeschichte der Moderne – eine Geschichte, die entgegen den vorherrschenden Lesarten die Entdifferenzierungstendenzen fokussiert und dabei gleichsam die über die innovativ-künstlerische nahezu vergessene spirituelle Dimension der Avantgarde aufdeckt. Ein äußerst ambitioniertes Vorhaben also, dem die Anlage und der pointierte Schreibstil der Studie entsprechen, zeugt sie doch von einer enormen thematischen wie argumentativen Reichweite und einer eben solchen analytischen Schärfe.

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2. Tour de force: Von Rousseau über Wagner und die Avantgarden bis zum Dritten Reich

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Roberts konzentriert sich auf die kritische Periode zwischen 1890 und den 1930er Jahren »as the core period of aesthetic modernism under the creative and critical sign of the avant-garde« (S. 7). In den ästhetischen und politischen Radikalismen der Avantgardebewegungen wird die Antwort auf die Krise der autonomen Kunst und die zunehmende politische Krise der europäischen Gesellschaften seit den 1890er Jahren gesehen. In ihnen lässt Roberts mit der revolutionär französischen und ästhetisch deutschen Entwicklung die beiden wesentlichen, in enger Wechselbeziehung stehenden Entwicklungslinien der europäischen Moderne kulminieren. Untersucht werden die Schlüsseljahre sowohl von einer meta-ästhetischen wie auch einer meta-politischen Perspektive. Von daher beruft sich die Studie neben der Philosophie, der Literatur, der Malerei, der Musik, dem Ballet und der Architektur auch und gerade auf das massenwirksame Festspiel beziehungsweise das Festival in der Tradition der antiken Zivilreligion.

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Die Studie gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil steht unter der Überschrift »Das Kunstwerk der Zukunft« und verfolgt die Idee des Gesamtkunstwerks durch das 19. Jahrhundert, angefangen von der französischen Revolution bis zum Wagnerismus des Fin de siècle. Der Ausgangspunkt ist hier Rousseau und sein Traum von der Wiederherstellung der ursprünglichen Transparenz einer unmittelbaren Politik, wie er von der französischen Revolution verwirklicht wurde. Folgt man Roberts, so inspirierte das Rousseausche Ideal des öffentlichen Festspiels, hervorgegangen aus der Kritik an der Repräsentation nicht nur im Theater, sondern auch in der Politik, die revolutionären Versuche, die Festivals für die Etablierung der neuen Zivilreligion der Nation zu instrumentalisieren. Mit ihnen aber wurde Politik zum Theater, auch wenn die Akteure angestrengt versuchten, die Erhabenheit der Revolution vor der theatralischen Ansteckung zu bewahren.

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Die Festivals erscheinen somit gleichzeitig als Seele und Ergänzung des revolutionären Geistes und nehmen gleichsam vorweg, was der Idee und der Praxis des Gesamtkunstwerks noch widerfahren sollte: Sie gerieten in die zwei unausweichlichen Dilemmas der Repräsentation. Das erste ist politischer Natur und wird von Roberts in der Frage gefasst, ob das Volk das Festival macht oder das Festival das Volk. Das zweite Dilemma betrifft das theatralische beziehungsweise ästhetische Problem, wie das öffentliche Fest dem Spektakel entgehen kann, wenn es doch selbst bereits ein Spektakel ist. Zielten die Festivals Rousseaus ihrem Wesen nach auf die Spontaneität des Zusammengehörigkeitsgefühls, so verfolgten die Festivals der Revolution den Zweck der Massenmobilisierung und Propaganda und beförderten so das Theatralische, welches sie transzendieren sollten. Innerhalb der Argumentation der Studie kommt dem Festival eine zentrale Rolle zu. In ihnen manifestieren sich nach Roberts beide Formen des politisch Sublimen, das heißt sie stehen einerseits für die Revolution als Schaffung einer neuen Religion ohne nachfolgende Institutionalisierung und andererseits als Versuch, eine politische Staatsreligion zu institutionalisieren, welche dann wiederum als Modell der »totalitären Demokratien« des 20. Jahrhunderts angesehen wird. Zusammengenommen bilden sie »the republic of virtue and terror« (S. 32).

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Der mit der französischen Revolution ausgelöste Impuls, Kunst und Leben zu vereinen, begleitet Roberts zufolge fortan die europäische Kunst – und dies mit weitreichenden Folgen:

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We could call this impulse the bad conscience of modern art – it has generated a stream of manifestos und programmes proclaiming the sublation of art in terms of a critique of aesthetic illusion. This critique and its goal – the reunion of art and life – is of necessity ambiguous and totally ambiguous insofar as it is inspired by a totalizing impulse. (S. 29)
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Wie dieser totalisierende Impuls in Deutschland zum Tragen kommt, wird von Roberts zunächst am Beispiel von Schillers ästhetischer Erziehung illustriert. Innerhalb der durch die Revolution unter Dichtern und Denkern ausgelösten Diskussionen über die Möglichkeiten ästhetischer Politik und einer neuen Mythologie bezeugt sie jene Verschiebung von der Politik zur Sozial- und Kulturkritik und weiter zur Kunst, mit der letztere zum Tor zur wahren politischen Freiheit wird. Wenngleich also beide – Frankreich und Deutschland – auf die antike Polis und ihr öffentliches Leben als Modelle für die Reintegration von Kunst, Religion und Politik schauten, so zielten, folgt man der Studie, die französischen Anhänger Rousseaus auf die republikanische Freiheit, während seine deutschen Anhänger von Schiller bis Hegel und von Hölderlin bis Schelling die schöne Harmonie und den Traum vom ästhetischen Staat betonten.

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Der eigentliche Protagonist der Geschichte des europäischen Gesamtkunstwerks ist jedoch Richard Wagner als »the prophet of the downfall of the politcal state and the inheritor and liquidator of the existing arts, the creator who is called to enter the legacy of Shakespeare and Beethoven« (S. 75). Angefacht durch die Revolution von 1848 habe er versucht, das revolutionäre Festival und das Festivaldrama und damit die beiden Paradigmen des Gesamtkunstwerks im Kunstwerk der Zukunft zu vereinen. Erst seine ästhetische Konzeption von Politik ergänzt nach Roberts die von Rousseau entworfene politische Konzeption der Kunst; erst mit ihr wird wahre Kunst zum Ausdruck höchster Freiheit und kann an die Stelle der Politik als höchste Aktivität des Menschen treten. Mit Wagner erreicht die Studie gewissermaßen ihr Zentrum; zu ihm lässt Roberts die Wege seit der französischen Revolution führen, und von ihm gehen die Stränge aus, mit denen Roberts die europäische Kulturgeschichte auf der Spurensuche nach dem Willen zum Gesamtkunstwerk durchzieht. Immer wird dabei eine duale oder vielmehr polare Struktur aufgebaut. So werden die Visionen eines poetischen Gesamtkunstwerks von Nietzsche und Mallarmé als unmittelbare Gegenentwürfen zum musikalischen Gesamtkunstwerk Wagners verstanden; Gegenentwürfe, die in dem Aufbau der Studie umgehend wieder in ihrer Differenz erfasst und der Gesamtargumentation eingefügt werden. In ihren kritischen Antworten auf Wagner, so Roberts, artikulieren Nietzsche und Mallarmé die beiden Pole des Gesamtkunstwerks: Nietzsche »foreshadowes the mass politics of the twentieth century« (S. 11) und steht mit seiner Prophezeiung des kommenden theatralischen Zeitalters des politischen Schauspielers und der Massen für die politische Ausrichtung; Mallarmé vertritt mit seiner grandiosen Idee des Buches als symbolistisches Mysterium die spirituelle Seite.

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Entscheidend für den fatalen, die Studie motivierenden und organisierenden Ausgang der Geschichte des Gesamtkunstwerks ist dabei, dass wir es bei Nietzsche und Mallarmé mit einem »post Enlightenment project« zu tun haben, und zwar insofern, als beide die Existenz Gottes als Kreation, ja Fiktion verstehen, das heißt als bewusste Produktion des modernen Poeten in Form eines Buches, das eine Art Kunstreligion höherer Ordnung verkörpert, durch welche wiederum die Menschheit zu Selbsterkenntnis und Selbstidentität findet (S. 86). Dass dieses Buch nie vollendet werden kann, markiert nach Roberts nicht nur die Leerstelle, die der Tod Gottes hinterlassen hat, sondern zugleich den »empty space of advent« (S. 90) – ein Raum, der durch totalitäre Vorstellungen jeder Art angefüllt werden konnte. Angefüllt wurde dieser, auch dies macht Roberts deutlich, keineswegs allein vom esoterischen Symbolismus des Fin de siècle. Nicht nur Teile der Kunst, auch die Wissenschaft vollzog den Schritt vom Individuum zur Masse und begann sich namentlich mit Durkheim und Le Bon für Fragen der Mobilisierung letzterer zu interessieren. Mit dem Blick auf die Massenpsychologie schwenkt Roberts auf die Themen des zweiten und dritten Teils: »the avant-garde’s fascination with the spiritual in art and quest for the total work, and the transformation of the total work into the totalitarian theatre of politics« (S. 97).

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Der zweite, nach Kandinsky mit »Das Spirituelle in der Kunst« überschriebene Teil untersucht die wichtigsten auf die Realisierung des Gesamtkunstwerks abzielenden Avantgarde-Projekte. Analysiert werden einzelne, in vier Themenbereiche unterteilte Kunstwerke und Projekte. Der erste Bereich untersucht das Gesamtkunstwerk als Verbindung von Kunst und Religion am Beispiel von Wagners Parsifal, verstanden als eine der wichtigsten Inspirationen für den europäischen Symbolismus und die Resakralisierung der Bühne. Wagners Parsifal fungiert dabei als »model for the avant-garde search for a synthesis of the arts« (S. 123) und Bayreuth als Urquelle der Idee des Festivals und der Theaterreform des 20. Jahrhunderts. Von Bayreuth, so Roberts in Anlehnung an Udo Bermbach, führt eine direkte Linie zum Dritten Reich, vorbereitet durch die Politisierung und Nationalisierung von Wagners »religion of humanity« (S. 116). Der zweite Themenbereich fasst das Gesamtkunstwerk als symbolistisches Mysterium und analysiert das Paradox des unmöglichen Meisterwerks bei Mallarmé und Scriabin. Mallarmés Buch und Scriabins Mysterium werden dabei als Grenzfälle der Transzendenz des Spirituellen in der Kunst gelesen. Beide, so Roberts, bezeugen den Anspruch auf das ultimative Kunstwerk; auch wenn sie scheiterten, so wohnt ihnen doch jener die konventionelle Interpretation der Moderne unterwandernde »synthetic impulse at the heart of modernist culture« (S. 142) inne, welchen die Studie insbesondere für die Avantgarde nachzuweisen beabsichtigt. Entscheidend für Roberts ist dann auch, dass Mallarmés Kunstreligion den auf eine Wiedervereinigung von Kunst und Leben abzielenden Willen zur Totalität erkennen lässt und somit in Verbindung zu den Avantgarde-Bewegungen steht.

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Spätestens an dieser Stelle dürfte klar werden, dass der von Roberts verwendete Begriff der Avantgarde recht weit gefasst und, mit Wagners Parsifal und dem Symbolismus als Vorboten, auch um einiges von dem der deutschsprachigen Avantgarde-Forschung abweicht. Dass der Begriff nicht klar definiert wird, ist der teilweise an eine Kulturkritik erinnernden, rigorosen Gedankenführung der Studie sicher zuträglich, führt andererseits aber notwendig zu Verständnisschwierigkeiten. So fragt man sich unweigerlich, ob sich nicht ein anderes Bild ergäbe, wenn man etwa anstelle des Symbolismus auf den Naturalismus schauen würde. Doch will Roberts eben die herkömmliche Sicht auf die Avantgarde brechen, indem er sie durch das Prisma des Gesamtkunstwerks betrachtet. Wie dies geschieht, wird im dritten, sich explizit dem Gesamtkunstwerk und der Avantgarde zuwendenden Themenbereich noch deutlicher. In ihm geht es um das Gesamtkunstwerk als Synthese. Untersucht werden Stravinskys Zusammenarbeit mit dem russischen Ballett, Kandinskys und Schönbergs Experimente mit Alternativen zu Wagner, Kandinsky und der Blaue Reiter sowie Tauts Manifest für eine Kristallkathedrale als spirituelles Zentrum der Stadt.

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Nehmen wir Bruno Taut heraus, dessen Plan einer Kristallkathedrale von Roberts in Anlehnung an Fornoff als Beispiel für das Bauhaus insgesamt gesehen wird. »The Bauhaus«, so Roberts, »was itself conceived as a multiple Gesamtkunstwerk: on the level of its guiding idea, the cathedral of the future; on the institutional level as a collaborative social and aesthetic synthesis; on the level of the staff and their individual projects.« (S. 160) Tatsächlich rief Taut im Februar 1914 in der Zeitschrift Der Sturm zum Bau eines Gesamtkunstwerks auf; eines Gebäudes, an dessen Schaffung alle Künste beteiligt sein sollten. Auch besteht sein Entwurf des Stadtzentrums aus vier kreuzförmig angeordneten Gebäuden, nämlich Opernhaus, Theater, Bürgerhaus und eine schmale Halle. Umgeben werden sie von einem Aquarium, einem Gewächshaus, einem Museum, einer Zentralbibliothek und Leseräumen, welche wiederum von Geschäften, Restaurants und Parks umgeben sind, hinter denen die Gartenstädte liegen. Ob ein solcher Entwurf nun Roberts Schlussfolgerung zulässt, dass »Taut’s glass architecture, his theatre without limits, his crystal house, all bear witness to the desire to dematerialize and spiritualize the art of building« (S. 162), wäre angesichts des architektonischen Gesamterbes Tauts zu diskutieren.

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Überzeugender und geradezu illuminierend ist die in der Studie mit zahlreichen Geschichten belegte These des Aufbaus eines gesamteuropäischen, vom Ausbruch des Krieges jäh unterbrochenen Netzwerks der Avantgarde. So spricht Roberts bezüglich des Russischen Balletts und seines enormen Erfolgs zwischen 1909 und 1929 von einer Russifizierung des Gesamtkunstwerks, die durch den Krieg abgebrochen wurde. Getragen war dieser Erfolg von der Kooperation einer beeindruckenden Liste namhafter Avantgardisten aus ganz Europa und ihrer gemeinsamen Vision eines Balletts als Verbindung von Musik, Choreographie, Design und Malerei. Die Zäsur des I. Weltkriegs, in der gesamten Darstellung unübersehbar, wird von Roberts auch am Beispiel Kandinskys geradezu spannend in Szene gesetzt: Inspiriert von der Idee einer Erneuerung der Gesellschaft durch die Vereinigung aller Künste, plante dieser nach dem gemeinsam mit Franz Marc fertiggestellten Blaue Reiter Almanach (1912) einen weiteren, diesmal in Zusammenarbeit mit Hugo Ball. Der Almanach sollte die geplante Neueröffnung des Münchner Künstlertheaters als Darstellungsort des expressionistischen Gesamtkunstwerks begleiten. Neben Kandinsky und Ball sollten auch Maac, Kokoschka, Klee, Fokine, Thomas von Hartmann, Evreinov, Erich Mendelsohn und Alfred Kubin an dem Projekt mitwirken. Auch plante Ball als Dramaturg der Münchner Kammerspiele für Herbst 1914 sechs der europäischen Avantgarde gewidmete Programme, einschließlich Claudel, Kokoschka, die Künstler um Die Aktion und die italienischen Futuristen. Gedacht waren diese Programme als Werbung für eine zukünftige Internationale Gesellschaft für Neue Kunst. All diese Pläne wurden durch den Ausbruch des Krieges vereitelt. Kandinsky kehrte nach Russland zurück, der Pazifist Ball emigrierte nach Zürich. Was bleibt ist der Blaue Reiter Almanach – für Roberts das bedeutendste Zeugnis des Willens zum Gesamtkunstwerk der Vorkriegsavantgarde.

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Mit dem vierten Themenbereich wendet sich Roberts dem Gesamtkunstwerk als Theaterreformbewegung zu und attestiert anhand der Theorie und Praxis von Hofmannsthal, Claudel, Brecht und Artaud eine Regeneration des heiligen Theaters. Nachgerade Hofmannsthals Salzburger Festival wird als »counterpart to Wagner’s Bayreuth« (S. 168) verstanden, mit dem gezielt nicht die moderne kosmopolitische Metropole Wien, sondern Salzburg die integrierende nationale Rolle zugesprochen wurde. Der Erfolg von Jedermann musste, folgt man Roberts, Hofmannsthal in der Annahme bestätigen, dass sich das Theaterpublikum zu einem Volk transformieren und somit das Theater politisch wirken kann. »The ideological programme of the Salzburg Festival found its most problematic extension in Hofmannsthal’s call in a public lecture at Munich University in 1927 for a ,conservative revolution. It was once again the question of the healing of the divided German soul« (S. 171). Denselben Willen zur De-Individualisierung durch das Theater sieht Roberts auch in den beiden gemeinhin als Antipoden betrachteten Dramatikern Brecht und Artaud. »In their pursuit of a retotalized theatre, rational-discursive and irrational cruelty have the same goal of de-individuation« (S. 181). Zwar ziele das Verfremdungsmodell auf die kritische Selbstreflexion des Theaters als Repräsentation, doch geht es nach Roberts darin nicht auf, weil selbst die Verfremdung beziehungsweise die »de-fusion« des epischen Theaters letztlich auf Fusion hinauslaufe, wie Claudels Welttheater und die didaktischen Stücke Brechts belegten.

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Zusammengefasst und abgeschlossen wird der zweite Teil der Studie von einer Typologie der (impliziten oder expliziten) Theorie und Praxis der Vereinigung der Künste. In ihr stellt die Theaterreformbewegung den vierten, als artifiziell klassifizierten Typ dar. An erster Stelle innerhalb der skizzenhaften Typologie steht der Typ »Natur I«, von Roberts definiert als das organische, durch Wagners tragisches Musikdrama als lebendige Repräsentation der Religion menschlicher Natur verkörperte Modell. Wagner, so wird an dieser Stelle einmal mehr deutlich, ist der zentrale Bezugspunkt der Studie. Die in der Tat zahlreichen von Roberts aufgezeigten Experimente werden durchweg als Reaktion auf Wagners Modell des Gesamtkunstwerks gedeutet (S. 184). Am nächsten steht dem Wagnerschen Modell der Typ »Natur II« oder auch das primitv-orgiastische Modell, in dem, wie bei Stravinsky oder Artaud, die im Theater sich vereinigenden Kräfte der Vereinigung von Körper und Geist dienen sollen, und zwar mittels der Versenkung des Zuschauers in ein vom Ritual und von der Magie getragenes Spektakel. Eher geistig dagegen erscheint der dritte Typ, das synästhetische Modell, in dem das Werk als Mysterium erscheint. Hier denkt Roberts an Mallarmé, Sciabin, Kandinsky und Schoenberg, deren Werke als Symbol des Geistes auf Abstraktion und Dematerialisierung als Mittel zur Totalisierung zielen.

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Entscheidend für die Gesamtarchitektur der Studie aber ist der fünfte, als utopisch klassifizierte Typ, verkörpert vom futuristisch-konstruktivistischen Modell. Erst mit ihm bekommen wir es mit dem zu tun, was strenggenommen und vor allem – auch dem eigenen Selbstverständnis nach – als Avantgarde verstanden wird. Tretyakow, Meyerhold und Eisenstein sowie Moholy-Nagys »Theater der Totalität« repräsentieren innerhalb des beeindruckend breit ausgelegten Spektrums der Versuche zur Erschaffung eines Gesamtkunstwerks die Vereinigung von Kunst und Technologie und vertreten damit jenes Modell einer sich aktivistisch dem Gesamtwerk als Vereinigung von Kunst und Leben zuwendenden Avantgarde, das im dritten und abschließenden Teil verhandelt wird. Mit der intendierten Zerstörung der Museen durch die Futuristen, aber auch mit d’Annunzio und Jünger kann Roberts eine Paradoxie des Gesamtkunstwerks aufzeigen, wie sie bereits bei Wagner ersichtlich ist. »Total realization signifies self-destruction. Wagner’s artistic programme of the sacrifice of the individual arts to the whole is replicated in life in the totalitarian programme of the sacrifice of the individual to the whole« (S. 185). Wie diese Replikation konkret gedacht wird, verdient eine gesonderte Darstellung.

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3. Die Mutation des Sublimen der Kunst im Feld der Politik

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Überschrieben ist der dritte Teil »Das Sublime in der Politik«. Er widmet sich denselben kritischen Jahren der europäischen Moderne, aber unter einem neuen Fokus, nämlich dem der meta-politischen Vorstellung vom Gesamtkunstwerk in Verbindung mit den totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Wie eingangs bereits erwähnt, kommt dem Konzept des Sublimen im Verständnis Nietzsches dabei die entscheidende, weil Kunst und Politik überbrückende, Rolle zu. Als »the privileged proxy of the sacred« (S. 189) spielt das Sublime insbesondere für das zu den Massenveranstaltungen der totalitären Systeme mutierte Festspiel – verstanden als Produkt wie auch als Produzent der sublimen Wiedervereinigung und Regeneration der sozialen Gemeinschaft – eine zentrale Rolle.

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Das Sublime bei Nietzsche ist das Dionysische in Die Geburt der Tragödie. Bei Roberts wird diese Schrift gleichsam zum Schlüsseltext einer anderen Geschichte der Moderne.

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With its radical opposition of myth to enlightenment, aesthetics to ethics, tragic culture to Alexandrian decadence, The Birth of Tragedy was a seminal text of the new aesthetic politics, which placed the total work of art at the centre of its countervision of modernity. (S. 201)
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Nietzsches Theorie des Sublimen bricht mit Burke und Kant, indem sie das Schöne und das Sublime in der höchsten Form der Kunst – der Tragödie – zusammenführt und die Mischung zwischen Schmerz und Vergnügen, wie wir in Verbindung mit dem Sublimen fühlen, als unsere fundamentale Ambivalenz der Selbsterhaltung gegenüber deutet. Verortet wird das Sublime dabei weder im Subjekt noch im Objekt, sondern vielmehr im kollektiven Erlebnis und führt damit zurück zum Bereich der Politik und der französischen Revolution, der das Gesamtkunstwerk entsprungen ist. Hier schließt Roberts den Kreis seiner Argumentation: Das politische Erbe der Revolution, die verwobenen Mythen von Revolution und Nation, begannen um und nach den Revolutionen von 1848 / 49 ihre Wirkung zu entfalten und spalteten sich mit Sozialismus und Nationalismus zunehmend in zwei feindliche Lager, um ihren Höhepunkt in den rivalisierenden totalitären Bewegungen nach dem I. Weltkrieg zu erreichen.

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Der Prophet der zukünftigen ästhetischen Politik, die, angeführt von Weltkünstlern, die Massen nach ihrem totalen Willen zur Macht formen wird, ist Nietzsche. Seine »theory of the sublime, which reverses Kant’s theory of the sublime, can be read as the prototype of the goal of Fascist aestheticization: the collective identification with and surrender to power and through ecstasy and terror beyond self-preservation« (S. 241). Und an anderer Stelle: »It is only in Nietzsche’s theory of the sublime […] that mankind experiences supreme aesthetic pleasure in its own annihilation, in the form of the intense terror and ecstasy experienced through the release from the principle of individuation in collective intoxication.« (S. 243) Auch hier markiert der I. Weltkrieg eine Zäsur:

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And it was from the Great War and its blind machinery of death that the regenerated »Nation« emerged, not as the community of peace but as the community of death, to find its re-presentation in the spectacle of the militarized masses. In declaring that we can never understand music and tragedy in terms of beauty, Nietzsche prepared the way for the Fascist sublime: the birth of tragedy from the spirit of German music was written against the background of the birth of the German nation from the »terrors and sublimities« of the Franco-Prussian War, to which Nietzsche alludes in his dedication of The Birth of Tragedy to Richard Wagner, dated the end of the year 1871. (S. 206)
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Die sich hier deutlich zeigende Radikalität und Schärfe der Robertschen Kritik dürfte so manchen deutschsprachigen Leser verblüffen, hat im angelsächsischen jedoch, denkt man etwa an Richard Wolin, durchaus bereits eine eigene Tradition. Und doch zeigt gerade der vergleichende Blick auf Wolin, wie grundsätzlich die Robertsche Kritik ausfällt. Während Wolin in The Seduction of Unreason. The Intellectual Romance with Fascism from Nietzsche to Postmodernism am Konzept der Vernunft und damit der Aufklärung als Zentrum der Moderne festhält, geht es Roberts vor allem um den Nachweis, dass die europäische Moderne zu keinem Zeitpunkt in dieser Deutung aufging, ja ihrem Wesen nach ambivalent ist.

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Für diese Ambivalenz stehen im dritten Teil Romain Rollands Theatre du peuple (Sozialismus) und d’Annunzios Il fuoco (im Dienst des Nationalismus). Beide haben die zukünftige Gemeinschaft vor Augen, doch beruft sich d’Annunzio auf Nietzsche, während Rolland sich auf Rousseau und die französische Revolution beruft. Die Kluft, die beide trennt, ist erst aus der Retrospektive erkennbar und wird für Roberts zum Ausgangspunkt seiner Zwei-Wege-Theorie. Rolland und d’Annunzio repräsentieren einerseits zwei Linien des Erbes des 19. Jahrhunderts mit jeweiligen Verbindungen zur russischen beziehungsweise italienischen Revolution und stehen andererseits in Verbindung zu den totalitären Revolutionen nach dem Krieg. Beide träumen von einem Gesamtwerk, in dem die Grenzen des Theaters durch die Mobilisierung der Massen in einer sublimen Einheit von Kunst und Leben transzendiert werden.

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Dabei ist es der Fall d’Annunzio, an dem Roberts die Konvergenz von künstlerischer und politischer Avantgarde illustriert:

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Theatre, public place, battlefield: the artist as dramatic poet, as political leader, as war hero. D’Annunzio will play all these roles in both histrionic and deadly serious fashion, for the coming of the longed-for intoxication of war changed everything. The mobilization of the masses through war and through the theatre of politics carried d’Annunzio and the Italian avant-garde beyond their dreams of the cultural regeneration of the nation to the new mass politics of the twentieth century. (S. 199)
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In seinem Kapitel zum Dritten Reich, das mit Sorel und seiner Ethik des Kampfes als transformierendes inneres Erlebnis einsetzt, kann Roberts zeigen, wie d’Annunzio und Marinetti diese Ethik mit einer Ästhetik des Kriegs verbinden. Zwar gingen beide in andere Richtungen, doch teilen sie den Willen, das revolutionäre Ziel zu realisieren, nämlich Kunst in politische Aktion zu übersetzen. Für einen kurzen Moment, 1919 und 1920, teilten beide die führende Rolle mit Mussolini bei der Schaffung einer ultranationalen Bewegung, die der Prototyp europäischer faschistischer Bewegungen wurde. Dass d’Annunzio daraufhin zu seinen symbolistischen Wurzeln zurückkehrte und der Bilderstürmer Marinetti nicht nur Mitglied der Italienischen Akademie wurde, sondern mit einer Kampagne für die staatliche Unterstützung für ein Museum des Futurismus endete, wird von Roberts als Ironie einer Geschichte gewertet, die nichtsdestoweniger unmissverständlich das Zusammengehen von Avantgarde und totalitärer Politik belegt. »That is to say, the aestheticization of work in the Fascist theatre of politics owed its undeniable mass appeal to the performative reunion of art, religion, and politics that was achieved in its staging of the myth of the rebirth of the nation.« (S. 237)

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Im Anschluss an die italienische Avantgarde schaut Roberts nach Russland, streicht den Einfluss von Wagner und Nietzsche auf die russischen Intellektuellen seit der Jahrhundertwende an Blok und Trotsky heraus und illustriert die Verbindung von Kunst und Politik an drei Versuchen, das Gesamtkunstwerk im Namen der Revolution zu realisieren: die Massenfestivals der Revolution nach dem Vorbild Frankreichs (Lunacharskys Der Sturm auf das Winterpalais als Höhe- und Endpunkt der Massenspektakel); Proletkult, Futurismus und Konstruktivismus sowie Stalins Schauprozesse als einem gänzlich neuen, spezifisch totalitären Gesamtkunstwerk, das im wahrsten Sinne des Wortes die Kluft zwischen Kunst und Leben liquidierte.

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Anders als in Italien lässt sich für die russische Avantgarde jedoch kein bruchloser Übergang zur totalitären Politik attestieren. Robert räumt dies ein, wenn er festhält, dass das Jahr 1928 die Grenzen der Avantgarde markiert und Stalin das Jahr 1929 zum Jahr des großen Bruchs erklärte. Doch wird dieser Bruch allein Stalin zugeschrieben. Mehr noch, Stalin habe nicht nur die Avantgarde liquidiert, sondern sie mit dem sozialistischen Realismus sogar fortgesetzt: »his (Stalins) total work of art involved the liquidation of the artistic avant-garde, but at the same time its continuation – in Groys’s words, the birth of socialist realism from the spirit of the Russian avant-garde« (S. 226). Über Groys hinausgehend, sieht Roberts in der Kunst des sozialistischen Realismus und den Schauprozessen Stalins zwei sich komplemetierende Momente des Stalinschen authentischen totalitären Gesamtwerks. Auch Eisensteins Filmtheorie und Stalins Großen Terror lässt Roberts konvergieren, wenn er den von Stalin 1941 in Auftrag gegebenen und unvollendet gebliebenen Film Ivan der Schreckliche als den letzten Ausdruck des »Nietzsche/Wagner/Ivanov Syndroms« des russischen Symbolismus ansieht (S. 231).

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Den Höhepunkt der Argumentation bildet das Kapitel über den Willen zur Macht als Kunst im Dritten Reich. Illustriert wird dieser an Ernst Jünger und Leni Riefenstahl. Bezüglich des ersteren wird allen Rehabilitierungsversuchen eine deutliche Absage erteilt. »Nothing distinguishes Jünger’s apocalypse from that of the Nazis: neither the latter’s unlimited goals nor even the glaring disproportion between goals and means in the coming struggle for planetary power.« (S. 246) Jünger, der im Kampf um die Weltherrschaft ein erhabenes Spektakel sieht und für den nur der tote Soldat lebt, weil er die Zeit besiegt hat, verkörpert nach Roberts die »Nazi religion of death« (S. 253). Mit Hitler teile er »the same will to eternity in stone« (S. 249). Hitler selbst wird gesehen als »the highly visible producer of the Nuremberg party rallies« (S. 249), in denen alle Formen der Kommunikation und der Propaganda für die Schaffung dieses Gesamtkunstwerks zusammengeführt wurden. Zum Gesamtkunstwerk wurde es durch Riefenstahls Film, in dem die sieben Tage in zwei Stunden meisterhaft kondensiert sind. Riefenstahl, so Roberts, »fused the power of the image with the image of the power« (S. 251). Die Grenzen zwischen Zuschauer und Schauspieler verschwimmen, womit der ästhetische Raum des Scheins und Spiels wegfällt und die Ästhetisierung der Politik durch die Nazis die kritische, distanzierende Funktion der Kunst zerstört und mit der mobilisierenden Kraft der Bilder ersetzt (S. 251).

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Mit dem Ende des Dritten Reichs endet dann auch die europäische Geschichte des Gesamtkunstwerks als einer historistischen Konzeption, in der die Frage nach der Bestimmung und Entwicklung der Kunst und der Geschichte eng miteinander verbunden sind. Die Betonung liegt hier auf europäisch, denn das Gesamtkunstwerk findet laut Roberts durchaus eine Fortsetzung, und zwar mit der Übersetzung seiner Idee von der alten Welt in die Neue. In den USA sei es nach dem II. Weltkrieg zu einer Wiedergeburt unter den neuen Bedingungen der Massengesellschaft gekommen. Roberts denkt hier etwa an Hollywood, Las Vegas und Disney World, aber auch an die sogenannte Kreativwirtschaft und the new cultural class. Aus der künstlerischen Inspiration und dem einzelnen Kunstwerk seien in der amerikanischen Version das gemeinschaftliche Projekt und die kollektive Kreation geworden, aus der Avantgarde die institutionalisierte Innovation und damit die Veralltäglichung. Roberts spricht von einer Säkularisierung der modernen Kunst und Kultur, welche in den USA ihren Anfang nahm und mit den sechziger Jahren nach Europa schwappte.

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Was diese postmoderne Version des Gesamtkunstwerks von ihrer modernen Vorläuferin unterscheidet, ist nach Roberts vor allem die Abwesenheit eines totalisierenden Metanarrativs. Das europäische Gesamtkunstwerk, so wird klar herausgestellt, war das Produkt der historischen Zäsur der französischen Revolution und die Antwort auf die mit ihr verbundene Säkularisierung. Von daher muss es sowohl als Organon der Geschichtsphilosophien wie auch als performative Wiedervereinigung von Kunst, Religion und Politik verstanden werden. Vor allem aber ist es der Träger einer holistischen, erlösungs-revolutionären Vision der Moderne, getragen von einer »longing for community« (S. 258), die von Hollywood oder Disneyworld Welten getrennt ist.

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4. Fazit

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Mit dem Ende des europäischen Gesamtkunstwerks – dem Dritten Reich – gelangt man gewissermaßen wieder an den Anfang, denn wenngleich die Arbeit chronologisch verfasst ist, so liest Roberts die Geschichte doch von ihrem Ende beziehungsweise vom totalitären Finale her. Erst mit ihm erreicht die Idee der Aufhebung der Kunst ihren Höhepunkt und zeigt sich in ihrer ganzen Ambivalenz. Darin besteht gleichsam die Stärke und Schwäche der Studie. Dass es die totalitären Regime gab, dass sie möglich waren und von einer Kunst begleitet wurden, die bereit war, sich selbst zu opfern, ist die ebenso unumstößliche wie gern vernachlässigte Tatsache, von der die Studie ihren Ausgang nimmt. Von ihr aus lenkt Roberts den Blick zurück und durchkämmt die europäische Kulturgeschichte überwältigend kenntnisreich nach Versuchen, die Grenzen der Kunst aufzuheben. Um den Nachweis der Schlüsselstellung des Gesamtkunstwerks für die europäische Moderne seit der französischen Revolution zu erbringen, wird ein enges Geflecht aus dezidierten Belegen mit äußerst suggestiver Kraft ausgebreitet. Die Stärke der Studie liegt in dieser Kompromisslosigkeit und Konsequenz.

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Diese wiederum speisen sich aus dem unübersehbaren Engagement, mit dem Roberts auf eine Revision der vorherrschenden Grundannahmen drängt. Dass gerade auch diese engagierte, zu Recht als Pionierarbeit verstandene Gegendarstellung (etwa zur Betonung der Autonomie, der Ausdifferenzierung der Künste oder der Gleichsetzung von Avantgarde und Fortschritt) von der Selektion der stichhaltigsten Ausschnitte der Geschichte lebt, versteht sich von selbst. Notwendig verbunden ist damit die Ausblendung all dessen, was nicht im Narrativ des Gesamtkunstwerks aufgeht. Besonders deutlich zeigt sich dies am Verständnis der Avantgarde. Hier möchte man bei der Lektüre zuweilen dazwischenrufen, wo denn die zahlreichen von den Diktaturen verbotenen, verbrämten und vertriebenen Vertreter der Avantgarde bleiben, in deren künstlerischer Praxis und Theorie sich keine Anzeichen des Willens zum Gesamtkunstwerk auffinden ließen. Auch kann man sich fragen, ob die Studie etwa im Fall der russischen Avantgarde nicht unterschätzt, was letztlich überhaupt erst den Nährboden der Geschichte des Gesamtkunstwerks insgesamt stellt, nämlich eine revolutionäre Stimmung, gleichzeitig getragen vom Bewusstsein des Aufbruchs und einem (notwendigen) Unwissen des Kommenden. Welche Bilderstürmer zu Wegbereitern des politischen Totalitarismus wurden, lässt sich erst im Rückblick sagen, so wie sich auch die Ambiguität der Idee des Gesamtkunstwerks erst im Nachhinein in ihrer Totalität zu erkennen gibt.

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Die möglichen Einwände aber sind Details vor dem Hintergrund dessen, was Roberts mit der Studie The Total Work of Art in European Modernism leistet. Zeigt sie doch überhaupt erst die Komplexität der Moderne und die Grenzen jedes Versuchs, diese mit radikalen Mitteln aufheben zu wollen. Die Versuchungen und Risiken von Vereinheitlichung und Entdifferenzierung methodologisch geschickt in Form der Geschichte des europäischen Gesamtkunstwerks herausgestrichen zu haben, scheint mir die eigentliche Leistung der Studie zu sein. Wer im Feld der neueren Literatur- und Kunstgeschichte forscht und lehrt, weiß um die Herausforderung, komplexe kulturhistorische Prozesse und Phänomene zu vermitteln. Roberts Studie setzt diesbezüglich neue Maßstäbe. Umso mehr mag man bedauern, dass sie sich aufgrund ihres hohen kulturhistorischen wie theoretischen Anspruchs nur bedingt als Lehrwerk eignet. Für die Forschung aber ist die Studie dafür gleich in mehrfacher Hinsicht lehrreich. Sie belegt, dass auch in Zeit, Raum und Gegenstand weit ausgreifende Darstellungen mittels methodisch kontrollierter und klarer Schreibweise gelingen können. Sie entwirft fast nebenbei den Grundriss des vom Krieg zerstörten und bis heute nur in Teilen rekonstruierten Netzwerks der europäischen Avantgarde. Vor allem aber provoziert sie mit dem unverhohlenen Willen zur Kritik an der vorherrschenden Lesart der ästhetischen Moderne ein Überdenken der bequemen, die Kunst noch immer weitestgehend vom politischen Terror des 20. Jahrhunderts trennenden Forschungstradition. Genau dazu wollte die Studie einladen. Es bleibt zu hoffen, dass der Einladung zahlreich gefolgt wird.