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Der deutsche Buchhandel in den Krisenjahren der Klassischen Moderne 1

  • Stephan Füssel / Ernst Fischer (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Die Weimarer Republik 1918-1933. (Teil 2). (Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert Teil 2) Berlin: Walter de Gruyter 2012. 674 S. zahlr. s/w Abb. Hardcover. EUR (D) 159,95.
    ISBN: 978-3-598-24809-2.
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Zum Anspruch des gesamten Projekts

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Band 2 der »Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert« vermittelt laut Verlagsankündigung ein »anschauliches Bild der Buchbranche in bewegter Zeit«, zeichnet das Bild von »Verlag und Buchhandel zwischen Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise, zwischen Republikgründung und schleichendem Verlust der Demokratie«. 2 Zum fulminanten Gesamtwerk und dessen Anspruch ist bereits einiges angemerkt worden, das hier nicht wiederholt zu werden braucht. 3 Hervorgehoben sei einzig vielleicht, dass die Reihe zwischen einer Darstellung mit Überblickscharakter und aktuellen Forschungsergebnissen sowie einem handbuchartigen Nachschlagewerk anzusiedeln ist. Sie soll damit nicht nur Fachleuten, sondern auch interessierten Laien spezifische Fakten, mehr noch strukturelle Entwicklungen vermitteln.

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Nach den Entbehrungen während des Weltkrieges, mit und nach dem Chaos der Inflation, die auch das bescheidene Hab und Gut von einem Tag auf den anderen in Nichts hatte auflösen können, sollte sich während der Zeit zwischen 1918 und 1933 besonders die Einstellung zum Leben verändern. Eher zog man es nun vor, sich zu amüsieren, sein Leben heute zu genießen, als sich um die Zukunft zu kümmern. Dabei wirkte sich auch das Vordringen der neuen Massenmedien auf Bewusstsein und Lebenswirklichkeit breiter Bevölkerungskreise aus. Die veränderte Einstellung zum Geschlechtlichen und zum anderen Geschlecht, gegenüber Kind und Heranwachsendem brachte eine Erweiterung und Veränderung der individuellen Lebenssphäre, die zudem besonders für Frauen die Möglichkeit der Individualisierung implizierte, zugleich aber auch antimodernen Gegenkräften Angriffsfläche bot. Hieran zu erinnern erscheint angebracht, um einerseits die Bedürfnisse des Lesepublikums, andererseits die allgemeinen ökonomischen Rahmenbedingungen, denen der Buchhandel nun begegnete, entsprechend einordnen zu können.

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Band 2 zur Geschichte des deutschen Buchhandels während der Weimarer Republik liegt in zwei Teilen vor. Im 2007 publizierten Teilband 1 werden die LeserInnen in die Kultur und Gesellschaft, Wirtschaft und Politik der »langen Zwanziger Jahre« eingeführt, um dann an einzelne Spezifika der Republik, wie Zensur und Urheberrecht, Autoren und Publikum, die Buchhandelsorganisation, Herstellungstechnik, Buchgestaltung sowie an einzelne Programmbereiche des Buchverlags herangeführt zu werden. 4 Der nun vorliegende Teilband 2 widmet sich neben der Vorstellung weiterer Programmbereiche des Verlags dem Zwischenbuchhandel, dem verbreitenden Buchhandel, den Buchgemeinschaften sowie dem deutschen Auslandsbuchhandel. Ergebnis dieser Aufteilung ist, dass das zentrale wie umfangreiche Kapitel zu den Programmbereichen nun leider fragmentiert wurde (Teil 1: Wissenschaftliche Verlage, Lexikon-, Kunst- und Musikverlage; Teil 2: Belletristische Verlage, literarische Zeitschriften und Publikumszeitschriften, Weltanschauungs- und konfessionelle Verlage, Kinder- und Jugend-, Schul- und Sachbuchverlage).

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Verlagswesen / Programmbereiche. Belletristische Verlage

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Der zweite Teilband schließt mit umfassenden Informationen über die zahlreichen belletristischen Verlage (Stephan Füssel) an die Programmbereiche des ersten Teilbandes an. Durch eine dicht vermittelte, faktenorientierte und personenbezogene Historiographie wird der Band hier seinem Anspruch als Nachschlagewerk für das Fachpublikum mehr als gerecht, wobei der gewöhnliche, nach schneller Information suchende Nutzer die handbuchartige Gliederung innerhalb des Kapitels vermissen dürfte. Erschwert wird eine schnelle Orientierung durch die sich nicht im Inhaltsverzeichnis durch unterschiedliche Schrifttypen oder anderweitige Formatierungen widerspiegelnde tiefergehende Untergliederung. Insgesamt hätte sich innerhalb der Unterkapitel sicherlich auch eine alphabetische Reihenfolge der behandelten Verlage angeboten, zumal eine dort scheinbar gewählte chronologische Reihung nur schwer nachvollziehbar ist. Positiv hervorzuheben sind die eingeschobenen Querschnittsthemen, wie beispielsweise der Exkurs zu den Filmnebenrechten oder die Bemerkungen zur Bücherkrise, die die enzyklopädische Anlage dieses Kapitels zu Recht durchbrechen.

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Alle Verlage agierten angesichts massiver struktureller Veränderungen auf dem Büchermarkt und der krisenhaften konjunkturellen Entwicklung in einem äußerst schwierigen wirtschaftlichen Umfeld. Allerdings gilt das für die deutsche Industrie während der zwanziger Jahre insgesamt, so dass an dieser, wie auch an manch anderer Stelle des Teilbandes die fehlende Einbindung in Trends der allgemeinen Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte der Weimarer Republik schmerzen. Schließlich stellte die Inflation alle Unternehmen vor Herausforderungen, weshalb öffentliche Klagen wie jene Diederichs, »dass sich der Nachdruck von Büchern bei der galoppierender [sic!] Entwertung kaum noch rechne«, keinen Seltenheitswert besitzen. Welche betriebswirtschaftlichen Überlebensstrategien die Verlage im Einzelnen einschlugen, bleibt dagegen vage. Offen bleibt auch, wie die Verlage zu Ende der Republik mit dem umgekehrten monetären Ungleichgewicht, der Deflation, umgingen. Das mag durchaus an allgemeinen Desideraten liegen, worauf dann allerdings hätte hingewiesen werden sollen. Es bleibt zu erwähnen, dass sich der Abschnitt über den »Weg ins Dritte Reich« inhaltlich nicht immer erschließt.

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Literarische Zeitschriften und Publikumszeitschriften

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Angesichts der rund 6.700 während der Weimarer Republik jährlich erschienenen Zeitschriften ist die handbuchartige Darstellung des Marktes für literarische Zeitschriften und Publikumszeitschriften, der hierzu durchschnittlich etwa 100 Titel beisteuerte, auf 17 Seiten eine Leistung. Corinna Norrick beschreibt hier in allgemeiner Form die Rolle der Zeitschriften vor dem Hintergrund einer sich stetig ausdifferenzierenden Verwertungskette auf dem Literatur- und Buchmarkt sowie als Organ der Buchvermittlung. Deutlich wird auch die allgemeine Tendenz zur Politisierung, die zudem anhand ausgewählter Beispiele untermauert wird. Dabei wäre es interessant gewesen zu erfahren, ob die rechtsgerichteten, völkisch-nationalen Blätter tatsächlich erst zu Ende der Republik überwogen, oder ob deren Übergewicht zunächst nicht nur durch Aufsehen erregende linksbürgerliche und linksdemokratische Zeitschriften verschleiert wurde. In jeweils einem Abschnitt werden schließlich die expressionistischen Zeitschriften, erfolgreiche und langlebige literarische Blätter, Publikums- und Rundschau- sowie Populärwissenschaftliche Zeitschriften abgehandelt.

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Ärgerlich ist, dass die Zeitschriftentitel nicht in das Gesamtregister aufgenommen wurden. So wird den zum Nachschlagewerk greifenden, weniger Sachkundigen das Auffinden beispielsweise der Berliner Illustrirte Zeitung unnötig erschwert. Solches erscheint angesichts der Existenz von Wikipedia auch für den künftigen Handbüchermarkt bedrohlich, zumal der Wiki-Artikel vor allem auf interessante technische Innovationen des Blattes fokussiert. 5

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Weltanschauungsverlage

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Siegfried Lokatis zieht in seiner Einleitung zu den Weltanschauungsverlagen in der Weimarer Republik einerseits eine Kontinuität bis in das Dritte Reich, andererseits sieht er die Verlage der extremen Linken »als erfahrungsprägende Vorläufer des DDR-Buchhandels und seines Zensursystems« an (S. 111). Mit dem Buch als Träger einer ausgewählten Ideologie, genutzt auch als Geltungsanspruch aufstrebender Schichten wie die der Angestellten, konnten sich die Verlage jedenfalls nicht zuletzt mit Hilfe eigenständiger Vertriebsstrukturen wie der Buchgemeinschaft neue Leserschichten und einen breiten Markt erschließen.

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Der Abschnitt über die zahlreichen, sich nicht selten außerhalb des organisierten Buchhandels bewegenden linken Verlage beschreibt lebhaft das politische Umfeld während des letzten Drittels des Bestehens der bürgerlichen Republik mit der Bedrohung durch Beschlagnahmen, gerichtlicher Nachzensur usw. Demgegenüber spiegeln die Abschnitte über den offiziellen Parteiverlag der KPD bzw. den Verlag der Komintern die revolutionäre Nachkriegsrealität mit ihrer Zerrissenheit der Linken, dem konspirativen Agieren dieser Verlage und regelrechten Angriffen durch die von SPD-Minister Gustav Noske geführte Reichswehr fast schon erschreckend wider; ebenso spannend, facetten- und kenntnisreich sind die Vertriebsprobleme beschrieben.

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Auch was die politischen Verlage der rechten Szene betrifft, zeigt sich Lokatis als Kenner der Materie. Hier finden sich ebenfalls unzählige, außerhalb des Börsenvereins agierende, abseits des Sortiments vertreibende (Kleinst-)Verlage, deren verlegerischer Hetze Finanzminister Matthias Erzberger 1921 zum Opfer fiel. Der Autor beschränkt sich allerdings nicht etwa auf einschlägige Verlagsprogramme, sondern verdeutlicht angesichts »gegebener bzw. erhoffter Marktgängigkeit« auch den Beitrag bürgerlicher Traditionsverlage zur »konservativen Revolution« (S. 124 f.). Leider wird das interessante Phänomen wirtschaftlichen Scheiterns völkisch gesinnter Verlage zwischen 1926 und 1929 nicht weiter erklärt, bleibt dadurch die möglicherweise entgegengesetzte Entwicklung von entsprechendem Gedankengut und relativer wirtschaftlicher Stabilität ungeklärt.

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Konfessionelle Verlage

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Das Kapitel über konfessionelle Verlage von Olaf Blaschke und Wiebke Wiede kommt den Anforderungen an ein modernes Handbuch ebenfalls sehr gut nach. Hier widmen sich die beiden Autoren erst nach einer geschichtswissenschaftlich fundierten, gut lesbaren Einführung über Konfessionen und konfessionelle Verlage der handbuchartigen Beschreibung nach theologischer Position ausgewählter protestantischer, katholischer und jüdischer Verlage. Damit wird die Darstellung erfreulicherweise auch in die anhaltende Forschungsdebatte eingebunden, zugleich werden hier sozial-, wirtschafts- und allgemeinhistorische Aspekte berücksichtigt. Abgerundet wird das Bild durch tabellarische Übersichten zu den konfessionellen Verlagen, obwohl unklar bleibt, warum sich die Übersicht zu den katholischen Verlagen im entsprechenden Kapitel, jene zu den protestantischen und jüdischen im Anhang befindet.

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Kinder- und Jugendbuch- sowie Schulbuchverlage

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Helga Karrenbrock bindet die während der Weimarer Republik boomenden Kinder- und Jugendbuchverlage sowie die Veränderung der Verlagslandschaft mittels umfangreichen statistischen Materials u.a. in eine Analyse der Titelproduktion sowie einen Vergleich mit dem belletristischen Verlag ein. Ebenso souverän wird die 1918 entwickelte, bis in die 1960er Jahre wirkende Lesealtertheorie als kritisches und fruchtbares Analyseraster für das gesamte Umfeld der Kinder- und Jugendliteratur zu Grunde gelegt. Verwissenschaftlichung von Kindheit und neue Jungleserpsychologie einerseits, völkisch-nationaler Antimodernismus auch in Teilen des literaturpädagogischen Umfeldes sind die ambivalenten Charakteristika, die die Geschichte der einzelnen Verlage in jener Zeit zwischen Tradition und Moderne verständlich machen.

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Das Kapitel über den Schulbuchverlag (Julia Kreusch) verzichtet erfreulicherweise gleichfalls auf das ermüdende Nacherzählen von Einzelverlagsgeschichten und konzentriert sich dafür vorwiegend auf für die betroffenen Verlage oftmals überlebenswichtige Aspekte wie Bildungspolitik und Schulreform, Schulbuchzulassungsverfahren, Ausstattungsprobleme, Schulbuchmonopol, Lernmittelfreiheit usw. Der Abschnitt zur Schulbuchproduktion wird durch aussagekräftige Grafiken abgerundet, alles zudem in die allgemeinen Zusammenhänge der politischen, Wirtschafts- und Sozialgeschichte eingebettet.

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Sachbuch- und Ratgeberverlage

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Die Veränderung des Lesepublikums verhalf der neuen literarischen Form des Sachbuchs einschließlich der Ratgeberliteratur zum Durchbruch. Neben den nach beruflichem Aufstieg strebenden Angestellten und einer bildungsinteressierten Arbeiterbewegung formten populärwissenschaftlich interessierte LeserInnen nunmehr ein Massenpublikum. Hieran angelehnt bettet Brit Boges bravourös die spezifischen Strategien der einzelnen Sachbuch- und Ratgeberverlage in den sozio-ökonomischen Kontext ein. So erhalten die Handbuchnutzer einen tiefen Einblick in die nicht leichte Herstellung und Distribution des populärwissenschaftlichen Segments des Julius Springer Wissenschaftsverlags oder die Palette der Lehrmittel (neben Literatur Baukästen, Lernspielzeuge, Globen, usw.) der Franckh’schen Verlagsbuchhandlung. Auch die Darstellung der Ullstein AG ist weit entfernt von einer konventionellen Verlagsgeschichte, tritt hier doch das stärker kommerzielle Interesse im Rahmen der gesamten Verwertungskette eines ursprünglich auf dem Pressemarkt agierenden Unternehmens in den Vordergrund. Neben Rowohlt, Malik und Langenscheidt wird vor allem dem Kaufhausbuchhandel Beachtung geschenkt, der es verstand, den Verkauf von Waren mit dem eines komplementären Ratgebers (z.B. Küchengeräte und Kochbücher) unter einem Dach zu vereinen und damit den Sachbüchern und Ratgebern den Weg zum anerkannten Buchmarktsegment ebnete.

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Funktionalisierung und Professionalisierung
innerhalb der Verlagsorganisation

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Parallel zur Entwicklung des Literaturmassenmarktes schritt nach dem Ersten Weltkrieg die Institutionalisierung des Lektorats voran. Diese Entwicklung würdigt Ute Schneider in einem Kapitel über das Lektorat innerhalb der Verlagsorganisation. Angesichts einer expandierenden Buchproduktion, eines erhöhten Produktionsvolumens sowie zunehmender Unübersichtlichkeit der zeitgenössischen Literatur fand damit zugleich eine dem allgemeinen Trend industrieller Rationalisierung folgende Funktionalisierung von Aufgaben sowie durch die Einrichtung dauerhafter Lektorate eine dementsprechende Professionalisierung statt. Während der Weimarer Zeit fanden diese Prozesse allerdings noch nicht ihren Abschluss, so dass hinsichtlich Aufgaben und Anforderungsprofil des Lektors noch keine allgemeingültigen Standards galten.

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Der Zwischenbuchhandel: Kommissionsbuchhandel
und Barsortiment

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Thomas Keiderling zeichnet für das mit zahlreichen Bildern und Tabellen versehene Kapitel über den Zwischenbuchhandel verantwortlich, das den Kommissionsbuchhandel und das Barsortiment in jeweils einem Unterkapitel behandelt, dabei aber auch die Einkaufsgenossenschaften nicht unerwähnt lässt. Nach Skizzierung grundlegender, im Ersten Weltkrieg beginnender Entwicklungen sowie der »Geschäftsgeographie« des Kommissionsbuchhandels vertieft Keiderling seinen Blick auf die Kommissionsplätze Leipzig, Stuttgart und Berlin. Hier wie im Folgenden ist eine moderne Unternehmensgeschichtsschreibung gelungen, die von der detaillierten Beschreibung örtlicher Kommissions- oder Zwischenbuchhändlerviertel über jene einzelner Betriebsteile wie dem nicht realisierten »gläsernen Packhof« in Leipzig bis zur Beschreibung einzelner Betriebsabläufe wie dem Versand des Stuttgarter Zwischenbuchhandels reicht. Ergänzt wird die den LeserInnen vermittelte plastische Darstellung durch eine Analyse verschiedener Diskussionen über Konzept und Zukunft des Barsortiments, die Rationalisierungstendenzen während der 1920er Jahre, wie den Sammelbezug oder die Bücherwagendienste, sowie den allgemeinen Konzentrationsprozess, der Einblicke bis auf die Ebene der hauseigenen Rationalisierungskommission der Koehler & Volckmar AG & Co. erlaubt. Neben der betriebswirtschaftlichen wird der personalen Ebene der notwendige Raum gegeben, damit Kommissionsbuchhandel und Barsortiment auch sozialhistorisch eingebettet, wobei nicht nur der die Weimarer Jahre prägende Gegensatz von Arbeitnehmern und Arbeitgebern ausreichend Beachtung findet, sondern auch die soziale Hierarchie innerhalb der Angestelltenschaft sowie – immer noch keine Selbstverständlichkeit – die Stellung der Frau. Der Abschnitt über die Werbung für das Barsortiment erlaubt tiefergehende Einblicke in Marketing und Organisation des dortigen Bestellwesens, und neben ausgewählten Vereinssortimenten erfährt auch der Grossobuchhandel angemessene Beachtung.

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Verbreitender Buchhandel: Der Sortimentsbuchhandel

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Die Darstellung des verbreitenden Buchhandels beginnt mit einem umfangreichen Kapitel über den Sortimentsbuchhandel (Ernst Fischer). Dabei geht es zunächst um das spannungsreiche Verhältnis zwischen herstellendem und verbreitendem Buchhandel, das sich während und nach der Hyperinflation auch wegen der Einigung auf ein System der Grund- und Schlüsselzahlen sowie die Einrichtung der Abrechnungs-Genossen­schaft Deutscher Buchhändler entspannte. Mit der 1916 eingeführten und später auf 1,5 Prozent erhöhten Warenumsatzsteuer sowie der Luxussteuer auf teure Bildbände veränderten sich indessen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen; zugleich konnten sich einige Sortimenter mit Hilfe der Inflation ihrer Schulden gegenüber Verlagen entledigen. Überhaupt scheint die inflationsbedingte Flucht in die Sachwerte dem Buchhandel eine Sonderkonjunktur beschert zu haben – was die oben zitierte und kritisch kommentierte Aussage des Verlegers Diederichs im Übrigen ebenfalls relativiert!

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Durch eine ausführliche Firmenstatistik erhalten die LeserInnen einen guten Überblick über Dichte und regionale Verteilung des Buchhandelsnetzes während der Weimarer Zeit, bevor ein ausführlicherer Blick auf Geschichte, Ideale, Organe und Initiativen der buchhänderlischen Reformbewegung, den »Jungbuchhandel«, erfolgt, die noch längere Zeit das Selbstverständnis der BuchhändlerInnen prägen sollte.

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Mit der Vorstellung der »Bücherstube«, einem neuen Einrichtungstyp, der neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen folgenden Schaufenstergestaltung, dem überhaupt veränderten Werbebewusstsein folgt die Darstellung den Ansprüchen moderner Branchen- und Unternehmensgeschichtsschreibung, bevor abschließend der politische Sortimentsbuchhandel analysiert wird. Dabei nehmen der wirtschaftlich von der Sozialdemokratischen bzw. Kommunistischen Partei abhängige neben dem konfessionellen Buchhandel den breiteren Raum ein, während dem Bereich rechtsextremer Strömungen nur ein paar Zeilen gewidmet werden. Angesichts dieser ungleichen Behandlung dürften sich die LeserInnen nach den Gründen, ob nämlich Desiderat oder selbstauferlegte Zensur, fragen, denn auch dessen Analyse trüge zu mancherlei geschichtlichem Verständnis bei. Das Kapitel schließt mit der Beschreibung konkurrierender Distributionswege, also dem Auchbuch- sowie dem Vereinsbuchhandel und den zwischen diesen und dem Börsenverein schwelenden Konflikten, die in erster Linie um Buchhändlerrabatte sowie feste Ladenpreise oszillierten.

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Der Antiquariatsbuchhandel

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Der Antiquariatsbuchhandel war eindeutig Profiteur der Inflation: durch seine ausländische, valutakräftige Kundschaft, durch die allgemeine Flucht in die Sachwerte, seine freie, tagesaktuelle Preisgestaltungsmöglichkeit sowie die inflationsbedingte wirtschaftliche Not, die Adel, Kirchen und Bildungsbürgertum zur Veräußerung ganzer Sammlung zwang. Hinzu scheinen Gewinne durch die treuhänderische Abwicklung von Reparationszahlungen gekommen zu sein. Demgegenüber dürfte die von Ernst Fischer in diesem Kapitel beschriebene, zwischen 1918 und 1926 bestehende Luxussteuer auf Teile des Antiquariatsbuchhandels eine Petitesse gewesen sein.

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Mit einem Unterkapitel zu Organisationsbestrebungen sowie dem Bemühen um ein eigenes Organ, dem Verhältnis des Antiquariatsbuchhandels zum Börsenverein, einer Firmenstatistik und der durch einzelne Unternehmensgeschichten untermauerten Abschnitte über das international beachtlich vernetzte wissenschaftliche bzw. das bibliophile Antiquariat gelang auch hier eine moderne Branchen- und Unternehmensgeschichtsschreibung. Es schließen sich die spezifischen Problemlagen im Auktionsbuchhandel (Risikovermeidung für den Antiquar) sowie im Bereich des Modernen Antiquariats (Zunahme der Verramschung) an.

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Reise- und Versand-, Bahnhofs- und Verkehrs-, Warenhausbuchhandel sowie Buchhandelssonderformen

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Mittels moderner Unternehmenshistoriographie gewährt schließlich Christine Haug tiefergehende Einblicke in die in den Vorkriegs- und Kriegsjahren beginnende Professionalisierung des Reise- und Versandbuchhandels, dessen besondere wirtschaftliche Lage während der Inflationszeit und dessen Programmschwerpunkte. Gelungen ist dabei die Darstellung der spezifischen Organisationsstrukturen, Arbeitsabläufe und Werbestrategien, die unmittelbar auch die Reichspost sowie Adressbüros und Inkassounternehmen tangierten.

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Gleiches gilt für den die Versorgung von Reisenden übernehmenden Bahnhofsbuchhandel, der – wie leider nur aus einer Fußnote zu erkennen ist – seit der Weimarer Zeit infolge seines Schwerpunktes im Tourismusgeschäft nur noch als Verkehrsbuchhandel zu bezeichnen ist. In diesem Kapitel erwähnt Haug neben der Einführung des Teuerungszuschlags für Presseerzeugnisse und Sozialisierungsplänen für den Verkehrsbuchhandel während der Revolutionszeit auch die Auswirkungen der Ruhrbesetzung, die gewerberechtliche Sonderstellung des Verkehrsbuchhandels, Kooperationen mit anderen Reiseanbietern sowie die sozial- wie unternehmensgeschichtlich besonders interessante Ausprägung des Verkehrsbuchhandels in Form des Schiffs-, Luftschiff- und Flughafen- sowie des Hotelbuchhandels.

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Inhaltliche Überschneidungen, die dem Genre des Nachschlagewerkes zu Recht geschuldet sind, gibt es dabei mit dem Kapitel zu den Sonderformen des verbreitenden Buchhandels, also dem »fliegenden Buchhandel«, dem Straßen-, Kiosk-, Schreib- und Papierwarenhandel. Auch hier erhalten LeserInnen Einblicke in eine innovative Branche, die entlang der Gewerbeordnung und des expandierenden öffentlichen Nahverkehrs ihre spezifische Distribution und Werbung organisierte. Auch die Vorstellung innovativer Produkte fehlt hier nicht, wie die B[erliner] Z[eitung] am Mittag des Ullstein-Konzerns, einer Tageszeitung, die aufgrund ihrer Aktualität erstmals ohne Abonnentenkreis auskommen musste und ausschließlich über Zeitungsjungen in Berlin vertrieben wurde. Die sozialgeschichtlichen Aspekte reichen hier bis zur sich ausbildenden Subkultur in den Untergrundbahnen, den Verkauf von Presse und Büchern in Theatern, Kinos und zunehmend auch mittels Automaten.

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Und auch der Warenhausbuchhandel professionalisierte und spezialisierte sich nach dem Ersten Weltkrieg, wie ausgewählte Beispiele einschließlich der Einheitspreisgeschäfte zeigen; zugleich wurden Warenhäuser, die zwischenzeitlich sogar eigene Verlagsanstalten gegründet hatten, peu à peu durch den Börsenverein anerkannt. Ebenso findet sich in der analytischen Beschreibung der Werbemaßnahmen sowie von Buchabteilungen und Leihbüchereien in den Warenhäusern ein interessantes Stück allgemeiner deutscher Unternehmens- und Sozialgeschichte.

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Gewerbliche Leihbüchereien, Lesezirkel und Buchgemeinschaften

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Bis Ende der 1920er Jahre kann laut Ernst Fischer von einer Kontinuität im Leihbüchereigewerbe ausgegangen werden, der von öffentlichem (Volksbüchereien) und privatem Sektor geprägt war. Dabei entwickelte sich in letzterem eine starke Konkurrenzsituation durch Buchhandlungen und Kaufhäuser, die sich eine Leihbücherei angliederten. Daneben entstand nun der Typus der »neuzeitlichen Leihbücherei«, der sich durch seine modernen Geschäftspraktiken (pfandloser Verleih, Abkehr vom Abonnentensystem, Verleih erotischer Literatur, etc.) von der klassischen Leihbibliothek unterschied, und auf den einzelne Verlage nun ihre Produktion auszurichten begannen, so dass ein in sich geschlossenes Distributionssystem entstand. U.a. durch Differenzierung ihres Angebotes und Nutzung der Umschläge als Werbeträger konnten schließlich auch Lesezirkel, zumal während der Weltwirtschaftskrise, ihre Marktstellung festigen.

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Inhaltlich und weltanschaulich richteten sich die Buchgemeinschaften an ihrem spezifischen Kundenkreis aus, der von einem immer noch breit differenzierten bürgerlichen Lesepublikum über religiöse sowie andere spezielle Zielgruppen bis zu politisch orientierten Lesern (Stichwort: Arbeiterbuchgemeinschaften) reichte. Gemeinsam war allen ihre spezifische Distributionsform, nämlich ganze Verlagsprogramme überaus preiswert an einen festen Kundenstamm abzusetzen. Urban van Melis beschreibt nicht nur einzelne Buchgemeinschaften, ihre Bedeutung und den von diesen bedienten Markt, sondern auch die ökonomischen Vorteile dieses Systems, die daraus resultierende Konkurrenz sowie das Verhältnis zum »reformunwilligen« Buchhandel eindringlich. Interessanterweise scheint demnach gerade auch das Bedürfnis nach Selektion durch Vorauswahl und Angebotsbegrenzung den Erfolg der Buchgemeinschaften erklären zu können, die sich damit nicht nur aufgrund ihrer günstigen Preise in der kurzen Zeit der Zwanziger Jahre von einer Randerscheinung zu einer etablierten Form des Buchhandels zu entwickeln vermochten.

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Buchexport und deutscher Auslandsbuchhandel

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Der vorliegende Teilband schließt mit einer Analyse des deutschen Auslandsbuchhandels und dessen Versuche, ökonomisch an die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg anzuschließen. Abgesehen von hierüber ausgetragenen Kontroversen und dem Aufbau entsprechender Institutionen (Deutsche Gesellschaft für Auslandsbuchhandel, der späteren Auslandsabteilung des Börsenvereins, Adressbuch des Ausländischen Buchhandels, etc.) besticht dieses auf Ernst Fischer zurückgehende Kapitel durch seine Analyse der Bücherausfuhr in verschiedene Sprach- und Kulturkreise, des Auslands- und Exportsortiments sowie des Kampfs des Buchhandels gegen die Geldentwertung. Den wirtschaftshistorisch weniger versierten LeserInnen wird es dabei unverständlich vorkommen, dass sich Kommissionäre und Barsortimenter gegen eine Preisfestsetzung in wertbeständigen Devisen sträubten; dieser und andere Vorgänge um die Verkaufsordnung für Auslandslieferungen des Börsenvereins unterstreichen aber den selbst für zeitgenössische Geldpolitiker nachweisbaren naiven Umgang mit und eine nicht selten laienhaft praktizierte Anpassung von Unternehmen oder staatlichen Behörden an die Inflation. Dieses Kapitel ist im Übrigen das einzige, das sich explizit und mit einem eigenen Unterkapitel vergleichsweise umfangreich, im Vergleich zur Inflationszeit also zumindest annäherungsweise ausgewogen auch der Entwicklung während der Weltwirtschaftskrise widmet.

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Zusammenfassung

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Summa summarum wird Teil 2 der Geschichte des deutschen Buchhandels in der Weimarer Republik den Ansprüchen an ein modernes Handbuch, das neben seiner Funktion als Nachschlagewerk auch der Darstellung und Analyse neuester Forschungstrends sowie der Darlegung von Forschungs- und Quellenlage dient, gerecht. Obwohl einige Abschnitte strukturell eher einem faktenreichen und personenbezogenen lexikalischen Eintrag ähneln, stellt die überwiegende Mehrheit neben ihren Informationen zur Geschichte des Buchhandels qualitativ wichtige Beiträge zur allgemeinen Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Weimarer Republik dar. Hierfür haben die meisten Autoren auch nicht den Gang in Archive und die Verwertung archivalischer Quellen gescheut, eine Tatsache, die nicht hoch genug gewürdigt werden kann.

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Allerdings birgt die Verarbeitung von Quellen auch Fallstricke, die nur durch Einbettung in einen breiteren historischen Kontext hätten vermieden werden können. Um ein Beispiel zu nennen: nur weil die Beschäftigtenzahlen während der Inflationszeit anstiegen, muss ein Unternehmen von der Geldentwertung nicht unbedingt profitiert haben (S. 634). Denn fast bis zum Zusammenbruch der Währung im Jahr 1923 war die Beschäftigungslage im Deutschen Reich vergleichsweise gut – immerhin wollten die vielen Zahlen auf Rechnungen, Bestellungen, die schließlich notwendigen täglichen Lohnzahlungen in bar etc. verwaltet werden!

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Zudem hätte das Lektorat bei den Angaben zu Umsätzen und Gewinnen (die Angaben der Tabellen 12, 13 und 19, S. 308f. und S. 329 erfolgten für 1918 bis 1933 durchgehend in »Mark«) bzw. dem wertmäßigen Außenhandelsvolumen (Tabelle 3, S. 611 übernimmt von Ernst Umlauff die nicht wertbereinigten Angaben in Mark bzw. Reichsmark) genauer hinsehen müssen, wurde doch die Mark 1924 mit der Währungsreform durch die Reichsmark ersetzt. Da keine Umrechnung erfolgte, sind die auf Umlauff und Niewöhner zurückgehenden Wertangaben, da ursprünglich in Mark und Reichsmark ausgewiesen, Umsätze und Gewinne undifferenziert aneinanderreihend, inhaltsleer. Zudem fehlt mancher Zahl zu Betriebsgrößen, Konkursen oder etwa zur Arbeitslosigkeit im Buchhandel der Bezug zu allgemeinen Trends, was erst Vergleiche zu anderen Sparten oder gar Branchen ermöglicht hätte (vgl. beispielsweise S. 342).

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Die Kritik an der – gerade bei einem solchen Werk wichtigen – Lektoratsarbeit schließt aber auch die (wenngleich spärlichen) sprachlichen Mängel ein. So ist an mehreren Stellen von der »Epoche« der Weimarer Republik die Rede, obgleich die republikanische Moderne zunächst doch eher eine Episode war. Daneben werden immer wieder allgemeingültige Begriffsbildungen wie die »Flucht in die Sachwerte« während der Inflationszeit unnötigerweise, weil fachwissenschaftlich fundiert, in Anführungszeichen gesetzt, ebenso wie die durch den Ersten Weltkrieg stark in Mitleidenschaft gezogene »Weltgeltung« der deutschen Wissenschaft (z.B. S. 425, 619), die diese durchaus besessen hatte.

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Schließlich fehlt den Kapiteln – und das ist für ein Handbuch keine Frage des Geschmacks – eine weitere Gliederungsebene, und innerhalb dieser wiederum ein eigener Gliederungspunkt »Zusammenfassung«, die von einigen Autoren immerhin geliefert wurde. Einem solchen Nachschlagewerk hätte zudem ein Abbildungs- bzw. Tabellenverzeichnis gut zu Gesicht gestanden.

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Warum der Hugenberg’sche Medienkonzern, in dessen Besitz sich seit 1916 immerhin der mehrfach erwähnte August Scherl-Verlag befand, beispielsweise im Kapitel über die Weltanschauungsverlage, hier etwa im Abschnitt zu den Anfängen eines nationalsozialistischen Verlagswesens, mit keinem Wort erwähnt wird, dürfte dem historisch Interessierten unbegreiflich bleiben, zumal dem Verlagskonzern des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes und dessen vielfältigsten Aktivitäten im genannten Kapitel wichtiger Raum gewidmet wird. Selbstverständlich nähme der Konzern im Rahmen einer Buchhandelsgeschichte eine Sonderstellung ein, die durch einen Exkurs zum Ausdruck hätte gebracht werden können. Aber wo, wenn nicht in diesem Werk sollten sich Laien, Studierende oder gar Lehrkräfte über dieses Medienunternehmen informieren, das in der allgemeinen Historiographie über die Weimarer Zeit zu Recht als Wegbereiter für Hitlers NSDAP Erwähnung findet, 6 über dessen Geschäfte, Strukturen und Vertrieb es allerdings keine neure Publikation gibt.

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In Anbetracht der Positiva aber sind diese Kritikpunkte Petitessen, die der Etablierung auch dieses Teilbands als umfassendes Standardwerk zur Geschichte des deutschen Buchhandels in der Weimarer Zeit nicht im Wege stehen dürften.

 
 

Anmerkungen

In Anlehnung an den Titel eines Standardwerkes zur Weimarer Republik von Detlev J.K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne. Frankfurt am Main, 1987. (=Edition Suhrkamp 1282).   zurück
Vgl. http://www.gbv.de/dms/goettingen/520087313.pdf   zurück
Vgl. Büttner, Ursula: Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Stuttgart, 2008. S. 101 und 323.   zurück