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Zentral und doch nicht von Bedeutung

Lorenz Engells Fernsehtheorie zur Einführung als Überblick über Theorien zu einem medientheoretisch vernachlässigten Gegenstand

  • Lorenz Engell: Fernsehtheorie zur Einführung. (Junius Einführungen) Hamburg: Junius 2012. 256 S. Softcover. EUR (D) 15,90.
    ISBN: 978-3-88506-692-7.
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Es gibt grundsätzlich zwei unterschiedliche Möglichkeiten, wie ein Buch, welches das Wort ›Einführung‹ im Titel trägt, verfahren kann. Die eine besteht darin, so zu tun, als ob die behandelten Texte und Theorien zusammengefasst wiedergegeben werden, ohne dass es sich bei der Zusammenfassung um einen interpretierenden Akt handeln würde. Diese Methode würde voraussetzen, dass man aus Texten die Essenz, ihren »wahren Gehalt« herausfiltern und als objektive Gegebenheit in anderen Behältern als den diesem Gehalt eigenen Textkörpern transportieren könnte – z.B. eben in einführenden Darstellungen. Eine Einführung dieser Art tilgte damit für den Leser die Notwendigkeit, die von ihr behandelten Texte selbst lesen zu müssen, da die Einführung selbst ja schon alles enthielte.

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Die zweite Möglichkeit einer Einführung besteht darin, sich bewusst zu sein, dass sie selektierend in das von ihr behandelte Themenfeld eingreift, dass sie Schwerpunkte setzt und dass ihre Darstellung nicht einfach Gegebenes präsentiert, sondern eine bestimmte Deutung ist. Eine solche Einführung würde sich als Anschlussmöglichkeit an die von ihr behandelten Theorien begreifen und würde den Leser im besten Fall auf die Spur setzen, die besprochenen Texte selbst zu lesen.

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Eine Einführung der zweiten Art würde also so etwas wie eine »eigene Handschrift« aufweisen. Genau darin sieht denn auch die Reihe »Zur Einführung« des Junius Verlages nach Aussage der Herausgeber ihre Aufgabe: Bücher aus dieser Einführungs-Reihe sollen zum einen Überblick über ein Themenfeld bieten. Zum anderen soll dabei der eigene Standpunkt des jeweiligen Verfassers erkennbar sein. Diesem Anspruch gerecht wird – so viel vorweg – Lorenz Engells Buch Fernsehtheorie zur Einführung auf beispielhafte Weise.

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Das »Akkumulationsprinzip«

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Im Vorwort betont Engell, dass er wie der Gegenstand seines Gegenstandes – also wie das Fernsehen – nach einem Programm verfährt, das fragmentarisch und unvollständig ist. Auf diese Weise lässt es disparate Teile (im Fall dieses Buches heißt das: (Fernseh-)Theorien) nebeneinander stehen, ohne sie auf einen gemeinsamen Nenner bringen zu müssen. Zum einen rechtfertigt sich ein solches Verfahren durch eine grundlegende Einsicht, die Engell selbst immer wieder formuliert: Theoriebildung und gerade Theorien über das Fernsehen sind in einer televisuellen Gesellschaft nicht unabhängig vom Fernsehen möglich. Zum anderen bietet es damit an, sich den Texten der Fernsehtheorie selbst zuzuwenden: Engells Buch

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schaltet zwischen den verschiedenen Bezugshorizonten hin und her. Und gerade dadurch möchte es seine Leserinnen und Leser involvieren, sie sogar, wenn möglich, unterhalten. Und ganz bestimmt legt es seinen Leserinnen und Lesern nahe, das gewählte Programmschema zu verlassen und sich quer zu der hier getroffenen Anordnung der Materie, aber vor allem weit jenseits ihrer in den unendlichen Weiten des televisiven Theorieuniversums zu bewegen. 1
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Bezeichnenderweise handelt es sich bei Engells Präsentation der Fernsehtheorien um Lektüren. Engell nimmt die von ihm behandelten Texte tatsächlich genau zur Kenntnis, d.h. versucht sie für den Leser in ihrer argumentativen Struktur nachvollziehbar zu machen. Was selbstverständlich klingt, ist es wahrlich nicht. Er könnte demgegenüber den Inhalt der Texte ja auch nur knapp paraphrasieren, ohne den Weg, auf dem sich dieser Inhalt konstituiert, der geringsten Aufmerksamkeit zu würdigen. Oder er könnte verschiedene Theorien »summarisch« wiedergeben. Stattdessen macht Engells Lektürepraxis deutlich, dass es sich jeweils um bestimmte Texte handelt, die hier besprochen werden. Und auf diese Weise gelingt es ihm eben auch, verschiedene heterogene, ja teils sogar widersprüchliche Theorien nebeneinander stehen zu lassen, ohne der einen oder anderen explizit den Vorzug zu geben.

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Dieses televisive Verfahren, nach dem Engells Buch verfährt, könnte man mit Deleuze auch »Akkumulationsprinzip« nennen. Damit bezeichnet Deleuze ein Prinzip der Presse (und d.h. explizit auch des Fernsehens), demnach diese ohne Probleme die widersprüchlichsten Aussagen treffen kann:

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Da es jeden Tag ›Neuigkeiten‹ gibt und die Dementis von gestern keinerlei Einfluß auf die Neuigkeiten von heute oder morgen haben, akkumuliert die Presse von einem Tag zum andern alles, was gesagt wird, ohne irgendeinen Widerspruch fürchten zu müssen.
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Wichtig ist, dass dies aufgrund einer bestimmten Art zu sprechen möglich ist, die auch kennzeichnend für Engells Stil ist: »Die Verwendung des ›Konditionalis‹ ermöglicht es nämlich, alles zu vereinen und alles zu vervielfachen.« 2

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Fasst Engell Texte zusammen, so macht er dies überwiegend im Konjunktiv der indirekten Rede, wodurch deutlich wird, dass hier nicht die Meinung des Autors ausgedrückt wird, sondern dass die Aussagen eines anderen vorgetragen werden. Dieses Verfahren treibt er so weit, dass selbst Engells eigene Texte auf diese Weise verhandelt werden: Auch seine eigenen Theorien zur Fernbedienung als philosophischer Apparatur und zum Fernsehen als Medium der Langeweile fasst er in indirekter Rede zusammen.

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Programmübersicht

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Zunächst widmet Engell sich im ersten Kapitel der Frage, warum es bis jetzt keine umfassende und allgemeine Fernsehtheorie gibt, sondern lediglich Theorien, die Einzelaspekte des Fernsehens behandeln, warum also – salopp formuliert – sich das Fernsehen nicht mit seiner möglichen Theoretisierung zu vertragen scheint. Im Zuge einer möglichen Antwort bespricht er Stanley Cavells Fernsehtheorie, die genau diese Frage zum Ausgangspunkt nimmt. Diese Theorie steht damit außerhalb des Programms, welchem der Rest des Buches folgt, was aber kein Zu- oder gar Unfall ist. Denn anhand von Cavell kann Engell zeigen, wie (besonders) Fernsehtheorie immer einen markanten historischen Index trägt. Und das wiederum hat notwendigerweise zur Folge, dass Fernsehtheorien schnell »veralten«, woraus sich wiederum zwangsläufig eine gewisse Uneinheitlichkeit und Unmöglichkeit einer Globaltheorie ergibt. Das Programm, das Engells Buch anbietet, ist also auch nur ein mögliches Programm eines Überblicks über die Fernsehtheorien.

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Dieses Programm gliedert die Fernsehtheorie in sieben Bereiche: Der erste ist der der technologischen Medien-Ontologie, die den Wesenskern des Mediums Fernsehen anhand seiner technischen Eigenschaften bestimmt. Zu den Theoretikern dieser Richtung zählen für Engell u.a. Paul Nipkow, John T. Caldwell und vor allem Marshall McLuhan, dem ein äußerst umfangreicher Abschnitt gewidmet ist. Es folgen ein Kapitel über Theorien der Simulation (Eco, Baudrillard, Virilio), eines über Theorien, die verschiedene Aspekte der Räumlichkeit des Fernsehens in den Blick nehmen (u.a. Joshua Meyrowitz, John Hartley, Lynn Spigel), eines über die Möglichkeit des Schaltens (Hartmut Winkler und Engell) und das Decodieren des Fernsehbildes (Stuart Hall), zwei Kapitel, in denen Fernsehtheorien erörtert werden, die sich den Zeitstrukturen des Fernsehens widmen (im ersten der beiden Kapitel werden Theorien des »Live« und der Gleichzeitigkeit (u.a. Eco, Hall, Doane), im zweiten solche des Zeitflusses und der andauernden Zeit verhandelt (Raymond Williams, Jane Feuer, Engell, Richard Dienst), bevor zuletzt Modelle der kritischen Fernsehtheorie vorgestellt werden (u.a. Adorno und Deleuze).

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Alleine die große Zahl der Namen der genannten Theoretiker und das, was man mit ihnen verbindet, ohne speziell ihre Fernsehtheorien kennen zu müssen, weist auf zwei Dinge hin: Erstens ist es nicht so, dass es keine Fernsehtheorien gäbe. Der Theoriemangel in Bezug auf das Fernsehen besteht nicht darin, dass es keine oder nur sehr wenige Texte gibt, die sich mit dem Fernsehen beschäftigen. In der Tat ist denn auch die Bibliographie dieser Einführung in die Fernsehtheorie prall gefüllt. Zweitens aber sind diese Fernsehtheorien in vielen Fällen Bestandteil eines größeren theoretischen Gesamtgebäudes. Anstatt eine umfassende Fernsehtheorie zu begründen, begründen Fernsehtheorien über das Fernsehen hinausgehende Theorien. Und als Bestandteile solcher Theorien sind die verschiedenen Fernsehtheorien nicht auf einen Nenner zu bringen, was aber – wie bereits erwähnt – kein Nachteil und nicht notwendig ist.

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Der rote Faden

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Im Gegenteil gelingt es Engell zu zeigen, dass einige wirkungsmächtige Medientheorien (allen voran die McLuhans und Baudrillards) sich überhaupt nur mit dem Fernsehen als Leitmedium entwickeln konnten, auch wenn das Fernsehen nicht immer explizit Gegenstand dieser Theorien ist. Somit wird deutlich, dass (Medien-)Theoriebildung in einer televisuellen Kultur nur unter televisuellen Vorzeichen funktionieren und keine Perspektive außerhalb eines Raumes, der maßgeblich durch das Fernsehen geprägt ist, einnehmen kann.

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Und so funktioniert Engells Buch denn auch nach televisionärem Muster: Auf der einen Seite haben wir die disparaten Theorien, die in nicht-hierarchischer Ordnung nebeneinander stehen, wie die voneinander unabhängigen Fernsehbilder und -sendungen. Gleichzeitig aber haben wir einen linearen (Zeit-)Fluss, der dieser im Prinzip nicht-linearen Ordnung unterliegt, wie denn auch das Fernsehprogramm linear verläuft. Dieser Fluss wird gebildet durch das, was man Engells »eigene Standpunkte« nennen könnte: Thesen, Behauptungen und Erkenntnisse, die regelmäßig getroffen werden und so dem Text trotz seiner heterogenen Gegenstände eine gewisse Kohärenz verleihen.

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Zu diesen »eigenen Standpunkten« zählen wie eben erwähnt die Einsicht, dass moderne Medientheorien oft zumindest implizit das Fernsehen zum Leitmedium haben. Außerdem betont Engell immer wieder, dass es sich beim Fernsehen um ein »Schaltbild« handelt, dass es also eine bestimmende Eigenschaft des Fernsehbildes ist, dass es an-, aus- und umschaltbar ist. Darüber hinaus sind ihm die Veränderungen des Fernsehens wichtig, weshalb er auch die Unterscheidung zwischen »Paläofernsehen« und »Neofernsehen« (in diesen Begriffen von Casetti und Odin stammend) regelmäßig trifft. Entsprechend ist eine seiner eigenen Theorien, die Engell in dieser Einführung verhandelt, auch eine der Fernbedienung. Denn die Fernbedienung ist sicherlich eine der technischen Entwicklungen, die das Fernsehen maßgeblich veränderten. Die Fernbedienung aber, als (wenn auch sehr beschränkte) Möglichkeit der interaktiven Partizipation (durch Selektion), ist ein Bindeglied zum heutigen Computer:

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Mit der Ausbreitung der Fernbedienung in alle möglichen Funktionen auch jenseits des Fernsehens, besonders aber mit der Durchsetzung des Mausklicks als grundlegender Kulturtechnik, wird die Entwicklung dann […] in weitere Zeit- und Weltverständnisse hineingetrieben. (S. 140)
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Und so betont Engell des Öfteren, dass das Verhältnis von Fernsehen und Computer theoretisch noch nicht ausreichend erfasst ist.

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Außerdem macht Engell klar, dass das Fernsehen, trotz seiner Verbreitung und seiner Wirkung (auch auf die Theoriebildung selbst), wahrlich kein bevorzugter Gegenstand von Medientheorie ist. Darum ist es umso erfreulicher und wichtiger, dass mit seinem Buch – das sei festzuhalten – eine hervorragende Einführung in die Fernsehtheorie vorliegt. Denn gerade diese zentrale Stellung des Fernsehens ist es, die uns dazu zwingt, dass Fernsehen in den Blick zu nehmen, wenn wir unsere gegenwärtige Kultur (und d.h. eben auch Medientheorie) verstehen wollen. Schließen wir darum mit einem Zitat Jacques Derridas, das trotz seines Pathos hier nicht gänzlich unangebracht scheint. In einer komplexen Analyse der Massenmedien, in der er die Tendenz der Presse benennt, »dunkle«, »unlesbare« Texte auszuschließen – und damit erst zu »unzugänglichen« Texten zu machen – bietet Jacques Derrida folgende televisuelle Metapher für eine geringe Anzahl an Lesern an:

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Die unzeitgemäßen Vorstöße, die ihren Lesbarkeitsrastern sich entziehen, können sich eines Tages durchsetzen, ohne dass Widerspruch noch irgend möglich ist. Wenn es um den Weg geht, den ein Werk noch vor sich hat, kann, wie man weiß, der Rang von zehn Lesern zuweilen eine entscheidendere Rolle spielen als die gerade erreichte Zahl von zehntausend Lesern. Wie würden unsere großen Medienmaschinen im Jahr 1989 sich einem Rimbaud oder Lautréamont, einem Nietzsche oder Proust, einem Kafka oder Joyce gegenüber verhalten? Könnten sie überhaupt etwas mit ihnen anfangen? Diese Autoren wurden zunächst von einer Handvoll Lesern gerettet (minimale Einschaltquoten!) – doch was waren das nicht für Leser! 3
 
 

Anmerkungen

Lorenz Engell: Fernsehtheorie zur Einführung. Hamburg (Junius Verlag) 2012, S. 11.   zurück
Gilles Deleuze: Offener Brief an die Richter von Negri. In: ders.: Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche 1975 bis 1995. Herausgegeben von Daniel Lapoujade. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2005, S. 163.   zurück
Jacques Derrida: Die vertagte Demokratie. In: J. D.: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa. Aus dem Französischen von Alexander García Düttmann. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1992, S. 94. (Meine Hervorhebung.)   zurück