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Stimmenvielfalt: Interkulturelle Dialoge in den Türkisch-deutschen Studien

  • Seyda Ozil / Michael Hofmann / Yasemin Dayioglu-Yücel (Hg.): Türkisch-deutsche Studien. Jahrbuch 2010. Türkisch-deutscher Kulturkontakt und Kulturtransfer. Kontroverse und Lernprozesse. Göttingen: V&R unipress 2011. 303 S. EUR (D) 35,90.
    ISBN: 978-3-8997-1858-4.
  • Seyda Ozil / Michael Hofmann / Yasemin Dayioglu-Yücel (Hg.): Türkisch-deutsche Studien. Jahrbuch 2011. 50 Jahre türkische Arbeitsmigration in Deutschland. Göttingen: V&R unipress 2011. 251 S. EUR (D) 30,90.
    ISBN: 978-3-8997-1933-8.
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Zwar haben in den vergangenen beiden Jahren laut Statistischem Bundesamt mehr Türkinnen und Türken Deutschland verlassen als eingewandert sind, dennoch bilden sie mit rund 1,6 Millionen Menschen immer noch die größte Gruppe von »Ausländern« in diesem Land. 1 Etwa 2,5 Millionen Menschen haben türkische Wurzeln und leben in Deutschland 2 . Die Anfänge dieser Entwicklung liegen lange zurück: Seit dem Anwerbeabkommen, bei dem sich beide Länder darauf einigten, Arbeitsmigrantinnen und -migranten zu entsenden bzw. aufzunehmen, ist ein halbes Jahrhundert vergangen. Die türkische Kultur hat in dieser Zeit vor allem großstädtisches Leben spürbar geprägt: Davon zeugen nicht nur Aufsehen erregende Großprojekte wie etwa Moschee-Bauten in Köln und Duisburg, sondern auch die Türk Şoför Okulu, die türkische Fahrschule an der Ecke, Metzgereien und der »kuaför« gleich daneben. Von Diskotheken, Veranstaltungshallen für familiäre Großereignisse und Konzertveranstaltungen und Restaurants ganz zu schweigen. Es ist also höchste Zeit, den vielfältigen türkisch-deutschen Kulturkontakten systematisch nachzugehen und diesen ein Jahrbuch zu widmen.

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Eine Plattform für Kommunikation und Präsentation

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Die Türkisch-deutschen Studien, von denen bislang zwei Ausgaben erschienen sind, sollen die interkulturelle Kommunikation verbessern und eine Plattform bieten, auf der Forschungen präsentiert werden können. Die Beiträge erscheinen auf Deutsch und Englisch und stammen von deutschen, türkischen und US-amerikanischen Forscherinnen und Forschern. Da es keine Abstracts auf Türkisch und – bei den deutschsprachigen Beiträgen – auch nicht auf Englisch gibt, liegt es nahe zu vermuten, dass das internationale Herausgeberteam und der Verlag die Jahrbücher v.a. auf ein deutsches Publikum und auf türkische Germanistinnen und Germanisten hin konzipieren. Vielleicht ließe sich der Leserkreis noch erweitern, wenn wenigstens auf den Verlagsseiten Zusammenfassungen der Beiträge in allen drei Sprachen erschienen?

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Das Herausgeberteam ist international: Die Linguistin Şeyda Ozil arbeitet an der Istanbul Üniversitesi, der Germanist Michael Hofmann ist Professor an der Universität Paderborn, die Literaturwissenschaftlerin Yasemin Dayıoğlu-Yücel habilitiert an der Universität Hamburg, ist auch der Istanbul Üniversitesi verbunden und lehrt derzeit als Visiting Professor am German Department der University of Pennsylvania. Die sich daraus ergebenden unterschiedlichen Perspektiven erweisen sich überwiegend als äußerst fruchtbar, die Beiträge vor allem der türkischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als besonders aufschlussreich.

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Phänomene wie »Das Deutschlandbild im türkischen Film« (Ersel Kayaoğlu, Jb. 2010) oder »The Impact of Turkish-Origin Returnees« (Ayhan Kaya, Fikret Adaman, Jb. 2011) mögen in Fachmagazinen bereits erwähnt worden sein; die Türkisch-deutschen Studien jedoch bieten denjenigen, die sich für deutsch-türkische Kulturkontakte interessieren, die Chance, derlei auch jenseits der eigenen Disziplinen zu finden. Schwerpunkte der Jahrbücher liegen im Bereich kulturwissenschaftlicher Theorien, Literatur, Film, Sprache und sozialwissenschaftlicher Aspekte, hauptsächlich mit Blick auf Deutschland und die Türkei.

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Entsprechend heterogen sind die beiden Bände, obwohl sie jeweils einem Motto folgen: »Türkisch-deutscher Kulturkontakt und Kulturtransfer. Kontroversen und Lernprozesse« (Jb. 2010) bzw. »50 Jahre türkische Arbeitsmigration in Deutschland« (Jb. 2011). Die thematische und methodische Bandbreite reicht im Jahrbuch 2010 von der Sarrazin-Debatte über soziolinguistische Untersuchungen zur Mehrsprachigkeit hin zur Filmanalyse und weiter über literaturwissenschaftliche Fragestellungen hinüber zu Architektur, Literaturdidaktik, internationalen Studiengängen, Theaterprojekten und Übersetzungsproblemen. Das zweite Jahrbuch, das nicht wie das erste auf einer Konferenz basiert, ist inhaltlich geschlossener. Das Themenspektrum umfasst u.a. Ergebnisse empirischer Analysen zur Lebenswelt von Deutsch-Türken in Istanbul, Untersuchungen zu Migration und Sprache sowie zur kulturellen Landschaft Berlins und zum deutsch-türkischem Kino. Feste Rubriken fehlen.

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Variatio delectat?

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Dies hat zur Folge, dass die Präsentation der Beiträge abwechslungsreich ist, sich bisweilen überraschende Querbezüge auch zwischen unterschiedlichen Disziplinen auftun und sich einzelne Namen und Aspekte durch den gesamten Band ziehen. Nachteilig an dieser Anlage ist aber, dass ohne feste Rubriken potentielle Leser nicht wissen, womit sie rechnen dürfen. Bei der Themenfülle allein der ersten beiden Jahrbücher erschwert dies den Überblick.

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Es gibt viel zu sagen. Die Formen, in denen dies geschieht, variieren. Überblicksartikel und recht spezielle Studien wechseln miteinander ab. Der Nah- und Mittelost-Experte Udo Steinbach beispielsweise verfasst mit »Die Türkei und die EU – eine deutsche Perspektive« (Jb. 2010) einen sehr gut lesbaren, konzisen Beitrag, gibt allerdings außer FAZ, Focus und Sarrazin keine weiteren Quellen für recht grundsätzliche Aussagen zu Bildungssituation und bilateralen Beziehungen beider Länder an. Der Literaturwissenschaftler Mahmut Karakuş bietet eine bei aller Kürze differenzierte und fundierte Analyse des Romans Die Madonna im Pelzmantel von Sabahattin Ali hinsichtlich »Bildungsmigration nach Deutschland und ihre Auswirkungen auf die Literatur« (Jb. 2010). Es wäre jedoch mit Blick auf die interkulturelle Anlage des gesamten Bandes angebracht gewesen, die Zitate nicht nur in der deutschen Übersetzung, sondern auch im Original lesen zu können.

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»Helga« – blond und sexy

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An die Analyse von Karakuş schließt der Beitrag von Ersel Kayaoğlu an, in dem er noch einmal betont, dass Die Madonna im Pelzmantel aus dem Jahr 1943 eines der ersten literarischen Resultate türkisch-deutscher Kulturbegegnung im 20. Jahrhundert ist. Während Autoren wie Ali ein recht reflektiertes und differenziertes Deutschland-Bild verbreiteten, gelangt das Land in der Türkei erst in den 1960er Jahren – durch die sog. Gastarbeiter – in den Fokus einer breiten Öffentlichkeit. Klischeehafte Vorstellungen seien v.a. durch Kinofilme verbreitet worden. Zum festen Figurenarsenal gehörten zunächst strenge deutsche Gouvernanten, später Hippies und dann – als Männertraum auf Zelluloid – die attraktive, blonde »Helga«. Deren Name sei im Lauf der Jahre zum Synonym für Pornodarstellerinnen und andere freizügige Vamps deutscher Herkunft geworden. Neben dem Nazi bilde »Helga« einen Kontrast zu stereotypen Rollen des »guten Türken« bzw. der »tugendhaften Türkin«. Kayaoğlu kommt hinsichtlich des Deutschlandbildes in türkischen Filmen zu dem hochinteressanten Befund,

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dass vor allem bei dem bis in die Mitte der 1970er Jahre fortgesetzten Versuch, eine nationale Identität zu stiften und die eigene Rückständigkeit durch Aufwertung von eigenen kulturellen und gesellschaftlichen Werten zu kompensieren, auch das Bild der Deutschen und Deutschlands zur kontrastiven Darstellung eines oftmals überbewerteten Selbstbildes herangezogen wurde, was vor allem durch stereotypisierte und sehr oberflächliche Hippie- und Nazifiguren, oder die berühmten Helgas deutlich wird. 3
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Auch heute noch sei das Deutschlandbild nicht sehr viel differenzierter. Um so interessanter ist, was interkulturelle Filme jüngeren Datums, etwa EN GARDE der deutsch-kurdischen Regisseurin Ayşe Polats aus dem Jahr 2004, über den Ortrud Gutjahr im gleichen Band schreibt, zu einer Veränderung von Auto- und Heteroimages beitragen kann.

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Heimat – memleket

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Unter den acht bis zwanzig Seiten langen Jahrbuch-Beiträgen finden sich auch solche aus der empirischen Forschung. Ayhan Kaya und Fikret Adaman stellen in ihrem Beitrag zum Thema »The Impact of Turkish-Origin Returnees/ Transmigrants on Turkish Society« (Jb. 2011) fest, dass immer mehr junge, gut ausgebildete Deutsch-Türken in die Türkei übersiedeln. Gründe dafür seien u.a. die wachsende Islamfeindlichkeit in westlichen Industrienationen, die globale Finanzkrise und die negative Einschätzung der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands. Viele der Rückwanderer zeigten sich aber optimistisch hinsichtlich der Arbeitsmöglichkeiten in der Türkei mit ihrem zur Zeit hohen Wirtschaftswachstum. Die mehrsprachigen und multikulturell kompetenten Geschäftsleute, Lehrer und Handwerker könnten traditionelle, konservative Gesellschaftsschichten in der Türkei herausfordern. Prominente Rückwanderer wie Tarkan, Azer Bülbül, Sibel Sezal und Can Kat prägten die türkische Populärkultur. Die Autoren stellen überzeugend dar, dass weitere Forschungen nötig sind, um die Folgen dieser Auswanderung für die türkische Gesellschaft zu ermessen.

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Wie ambivalent vor dem Hintergrund von Emigration und Remigration Vorstellungen von Heimat bzw. memleket erscheinen, zeigt der Beitrag von Ela Gezen: »›Heimisches‹ Berlin: Turkish-German Longing and Belonging« (Jb. 2011). Die Verfasserin verdeutlicht die wichtige Rolle von »arabesker« Musik – Almanya türküleri bzw. gurbet türküleri – mittels derer Sehnsucht nach der Türkei ausgedrückt werde, und gibt auch diverse literarische Beispiele an, in denen Heimweh eine zentrale Rolle spiele. Gezen kann überzeugend aufzeigen, dass und wie beispielsweise Texte und Melodien der Gruppe »Islamic Force and Kurt« zu supernationalen Bereichen werden: In diesen sind Traditionen und musikalische wie sprachliche Spuren sowohl der türkischen als auch der deutschen ›Heimat‹ bewahrt. Die Entwurzelung der songwriter befördert kreative Prozesse und lässt Dichotomien zwischen Ost und West, deutsch und türkisch, Fremde und Heimat verschwinden.

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Fazit – özet

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Wie diese Beispiele zeigen, bieten die Türkisch-deutschen Studien diverse Anknüpfungspunkte für weiterführende Untersuchungen. Die Jahrbücher verdeutlichen die Vielfalt der deutsch-türkischen Kulturkontakte und sind bereits jetzt eine wichtige Plattform für den interkulturellen, interdisziplinären Austausch über Ländergrenzen hinweg. Gerade deswegen aber wäre eine noch stärkere Systematisierung der Inhalte wünschenswert.

 
 

Anmerkungen

Quelle: Statistisches Bundesland, vgl. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/MigrationIntegration/AuslaendischeBevolkerung/Tabellen/StaatsangehoerigkeitJahre.html (16.7.2012). Als Ausländer gilt rechtlich, wer sich in Deutschland aufhält, aber nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt.   zurück
Ersel Kayaoğlu: Das Deutschlandbild im türkischen Film. In: Seyda Ozil / Michael Hofmann / Yasemin Dayioglu-Yücel (Hg.): Türkisch-deutsche Studien. Jahrbuch 2010: Türkisch-deutscher Kulturkontakt und Kulturtransfer. Kontroversen und Lernprozesse. Göttingen: V&R unipress 2011, S. 95–106, hier S. 103.   zurück