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Figuren, Wissen, Figurenwissen

  • Lilith Jappe / Olav Krämer / Fabian Lampart (Hg.): Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung. (linguae & litterae 8) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2011. VI, 408 S. 11 Abb. Gebunden. EUR (D) 99,95.
    ISBN: 978-3-11-022913-4.
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Die narrative Figurendarstellung ist ein wesentliches Element der Wissensrepräsentation und Wissensgestaltung in fiktionalen wie nicht-fiktionalen Texten. Fasst man ›Wissen‹ als ein mentales Konstrukt, das zu seiner Repräsentation einer medialen Basis und einer semiotischen Repräsentationsform bedarf, dann stellen Figuren textuelle Manifestationen und Gestaltungsweisen von Wissen dar. 1 Die Figuren fungieren dabei nicht allein als Repräsentanten eines bestimmten Wissens (z.B. die Figur des Reproduktionsgenetikers) oder als Vermittlungs- und Popularisierungsinstanzen (z.B. in intradiegetischen Dialogen). Vielmehr codieren die Figurenkonzeption, verschiedene Modi der Figurencharakterisierung sowie die Figurenkonstellation selbst unterschiedliche Wissensmengen und übernehmen dadurch spezifische Funktionen für den Text.

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Gegenstandsbereich und Kontexte des Sammelbandes

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Der vorliegende Sammelband greift die narrative Figurendarstellung auf und versammelt Beiträge zu einer Tagung, die 2008 am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) durchgeführt wurde, in deren Zentrum die Untersuchung der Beziehungen zwischen Figuren in narrativer Literatur und verschiedenen Wissensformen stand (vgl. S. 1).

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Mit dem Titel Figurenwissen eröffnet der Band gleich mehrere Perspektiven auf das Thema. So ist hiermit nicht nur ein intradiegetisches Wissen der Figuren angesprochen, sondern auch ein anthropologisches Wissen über Figuren bzw. Figurenkonzeptionen. Das Kompositum lenkt den Blick außerdem auf Wissen, welches zur Konstituierung von Figuren verarbeitet wird. Entsprechend sind die Fragestellungen des Bandes sehr breit gefächert:

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Welche Rollen spielen spezifische Wissensbestände bei der Darstellung von Figuren in Erzähltexten, welche Anthropologie wird in der Darstellung von Figuren in literarischen Texten vermittelt? Wie lassen sich Techniken und Strategien der Transferierung von außerliterarischen Wissensbeständen in literarische Narrationen systematisch beschreiben? Welche Differenzen und Konstanten ergeben sich für diese systematischen Aspekte des Themas, wenn man die Abhängigkeit von Figur und Wissen in diachroner Perspektive untersucht? Wie intensiv ist der Einfluss bestimmter Konventionen narrativer Genres bei der Darstellung von Figuren? Welche Arten des vorgängigen Wissens sind an der Konstitution von Personenvorstellungen auf der Grundlage von Textdaten beteiligt, wie vollzieht sich die Interaktion zwischen Textinformationen und vorgängigem Wissen der Leserin oder des Lesers? Wie weit trägt der spezifisch ästhetische Charakter literarischer Texte dazu bei, außerliterarische Wissensbestände zu erweitern und zu ergänzen; inwieweit kann man sogar davon sprechen, dass die literarische Erzeugung von Figuren einen Erkenntnisprozess eigener Art ermöglicht, der das Wissen über den Menschen erweitern und als Parallelunternehmen zu den Wissenschaften gelten kann? (S. 1–2)
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Der Sammelband ordnet sich damit nicht nur in einen narratologischen, sondern auch in einen genuin anthropologischen Forschungskontext ein, insofern Figurenkonzeptionen bzw. Konzepte der Person im Allgemeinen an anthropologische Modelle rückgebunden sind. 2 Darüber hinaus stellt der Titel einen Beitrag zur Forschung im Bereich ›Literatur und Wissen‹ dar, der sich als eine Verquickung wissenschaftsgeschichtlicher, literatur- und kulturwissenschaftlicher sowie wissenschaftssoziologischer Fragestellungen präsentiert. Die Beziehung von Literatur und Wissen wird dabei einerseits daraufhin befragt, inwieweit von Wissen in Literatur gesprochen werden kann, d.h. ob, in welcher Form und auf welchen Ebenen Literatur Wissen ›enthalten‹ kann. Damit verknüpft ist andererseits die Frage, ob Literatur Wissen im Sinne eines Gedankenexperiments generieren bzw. zu einer Überzeugungsänderung bei Leserinnen und Lesern führen kann. Vor dem Hintergrund von Joseph Vogls Poetologie des Wissens 3 stellt sich gar die Frage, inwiefern über eine interaktive Ko-Evolution von Literatur und Wissen nachgedacht werden muss. Literatur wäre in diesem Fall eine spezifische Wissensformation, die nicht nur Produkt und Gegenstand von Wissen, sondern vielmehr selbst Funktionselement von Wissen ist.

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Aufbau des Sammelbandes

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Neben einer theoretisch orientierten Einleitung umfasst der interdisziplinäre Band 15 Beiträge aus den Bereichen Literaturwissenschaft, Historiographie, Linguistik und Philosophie, wobei literaturwissenschaftliche Beiträge deutlich überwiegen. Insbesondere die letzten beiden Beiträge bieten allerdings eine fruchtbare Erweiterung literaturwissenschaftlicher Instrumentarien an und machen den ohnehin sehr gut redigierten und anregend zu lesenden Band auch für andere Disziplinen anschlussfähig.

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Die Beiträge sind chronologisch nach Primärtexten vom Mittelalter bis zur klassischen Moderne gegliedert und bearbeiten schließlich auch Material aus zeitgenössischen Fernsehformaten (vgl. S. 2, 16). Zwar unterscheiden die Herausgeber die Beiträge locker danach, ob es diesen um Figuren als Vermittlungsinstanzen, als Produkt textueller Prozesse der Wissensrepräsentation und Wissensgestaltung oder als Elemente der Aktualisierung des individuellen bzw. kulturellen Wissensvorrats geht. Eine Gliederung nach Fragenkomplexen wurde aber nicht vorgenommen, was auch daraus resultiert, dass die meisten Beiträge die genannten Fragestellungen zwar tendenziell analytisch trennen, jedoch im Verbund und im Hinblick auf die Funktion der Figurendarstellung bearbeiten. Die Figurendarstellung erweist sich dabei als ein Thema, welches quer zu den verschiedenen Kontexten liegt, an denen der Band partizipiert. Die einzelnen Beiträge sind daher auch (und teilweise primär) als Fallstudien zu einzelnen Autoren, Texten, Epochen, Textsorten und deren jeweiligen Umgang mit Figurenwissen lesbar.

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Überblick über die Beiträge

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In ihrer Einleitung entfalten Lilith Jappe, Olav Krämer und Fabian Lampart den theoretischen Rahmen für die weiteren Analysen. Indem sie eine pragmatische, an der Wissenssoziologie bzw. am Konzept des ›Kulturellen Wissens‹ von Michael Titzmann 4 orientierte Wissensdefinition wählen (vgl. S. 2, 26), gewährleisten sie eine breite Anschlussfähigkeit der Beiträge. Der Begriff des Figurenwissens stellt keine Neuprägung dar, sondern eine »Kurzformel […], unter der sich diese ganz verschieden gearteten Beziehungen zwischen literarischen Figuren und Wissen versammeln lassen« (S. 2). In einem Überblick zur Forschungsgeschichte der literarischen Figurendarstellung greifen die Herausgeber insbesondere kognitionswissenschaftlich inspirierte Ansätze 5 auf. Diese erlauben es, die Interaktion von Wissensmengen auf der Mikroebene des Textes zu beschreiben und zu analysieren sowie den Prozess der Integration von Kulturellem Wissen einerseits und die Genese von neuen textuellen Wissensansprüchen 6 andererseits zu untersuchen. Theoretisch modellierbar und differenziert analysierbar werden so etwa das »Zusammenspiel von Textinformationen und Leserwissen bei der Figurencharakterisierung« (S. 8), verschiedene Formen der (mitunter dynamischen) Kategorisierung sowie »verschiedene ›Ebenen‹ von Rezeptionsprozessen« (S. 9).

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Die folgende Darstellung fasst die Beiträge in thematische Gruppen nach den möglichen Lesarten des Begriffs ›Figurenwissen‹. Da den Beiträgen kein gemeinsames analytisches Raster zugrunde liegt, lassen sie sich nur schwerlich und kaum überschneidungsfrei gruppieren. Dass Autorinnen und Autoren in mehreren Gruppen auftauchen, ergibt sich also aus den Beiträgen selbst.

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Figurenwissen als Wissen über Figuren

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Dem Bereich der literarischen Anthropologie zuzuordnen sind die Beiträge von Manuele Gragnolati, Frank Zipfel, Wolfgang Lukas, Michael Scheffel, Katharina Grätz und Michael Butter. Diese erste Gruppe begreift die dargestellten Figuren (auch) als Symptome 7 für textexterne Diskurse und Sachverhalte und rekonstruiert die Figurendarstellung vor dem Hintergrund von (stellenweise auch im Kontrast zu) anthropologischen Grundannahmen der jeweiligen Epoche.

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Figurenwissen als Wissen der Figuren

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Eine zweite Gruppe von Beiträgen thematisiert Wissen als ein Phänomen, das textintern als Wissen der Figuren verhandelt wird. So zeigt etwa Almut Suerbaum an der »Figurendarstellung in Thürings von Ringoltingen Melusine« auf, wie Wissen intradiegetisch für die Narration funktionalisiert wird, insofern sein Besitz / Nicht-Besitz »ein wesentliches Element in der Entwicklung des zentralen Konflikts« (S. 69) darstellt. Thorsten Fitzon erörtert an der »Perspektivierung sterblicher Zeit in Wilhelm Raabes Altershausen« das »Neben- und Gegeneinander verschiedener Wissenshorizonte« (S. 283) einer Figur.

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Figurenwissen als Produkt von textueller Wissensrepräsentation und Wissensgestaltung

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Mit Wissen im Sinn der Interaktion von textexternen Wissensbeständen einerseits und textinternen Prozessen der Wissensrepräsentation, -transformation und -gestaltung andererseits beschäftigt sich die dritte Gruppe von Beiträgen, darunter Daniel Fulda, Wolfgang Lukas, Michael Scheffel, Dorothee Birke, Friederike Carl und Katharina Grätz.

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Dorothee Birkes Beitrag »Zur Rezeption und Funktion von ›Typen‹« bringt dabei die von den Herausgebern thematisierten, kognitionswissenschaftlichen Modelle zur Anwendung. Insbesondere aber Maximilian Bergengruens Beitrag »Zur Figuration von Strafrecht und Forensik in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften« rekonstruiert das dem Text zugrunde liegende Wissenssystem und dessen Adaption im Text. Durch akribische Lektüre der verarbeiteten Prätexte sowie ihrer Repräsentation und Transformation kann er nachweisen, wie Musil die Figurengestaltung funktionalisiert, um »die Basis seiner eigenen Sprachphilosophie zu legen« (S. 334).

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Wissensrepräsentation als komplexes semiotisches Verfahren

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Herauszugreifen wäre in dieser Gruppe insbesondere Wolfgang Lukas‘ Beitrag »›Figurenwissen‹ vs. ›Textwissen‹«, da dieser theoretische, anthropologische und literaturgeschichtliche Fragestellungen ebenso aufgreift wie semiotische Verfahren zur Repräsentation und Gestaltung der analysierten Texte. Sein Beitrag liegt damit quer zu den thematischen Clustern bzw. integriert nahezu das gesamte Spektrum an Fragestellungen, die die Herausgeber in ihrer Einleitung aufwerfen. Am Beispiel des psychischen Unbewussten in der Erzählliteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts rekonstruiert Lukas die komplexe Beziehung zwischen Kulturellem Wissen, Textwissen und Figurenwissen in diachroner Perspektive. Theoretischen Vorüberlegungen zu Repräsentationsebenen von Wissen im Text folgt eine Differenzierung zweier Konzepte der Person in der Goethezeit einerseits und in der postromantischen Literatur andererseits. Diese Unterscheidung ist im Hinblick auf das Figurenwissen insofern von großer Bedeutung, als erst die postromantische Anthropologie »ein individuenspezifisches, dynamisches Unterbewusstes kennt« (S. 178), was somit auch explizit Teil der Figurendarstellung werden kann. 8 Im diachronen Vergleich kann Lukas dann nicht nur den Wandel einer »optimistischen Goethezeit-Anthropologie« (S. 185) zu einer neuen pessimistischen Anthropologie nachzeichnen. Vielmehr deckt er semiotische Verfahren der Text- und Wissensgestaltung auf, die über eine Analyse der dargestellten Handlung und Figuren hinausgehen und funktionale Variationen des Discours in den Blick nehmen. Anhand von Adalbert Stifters Der Waldgänger (1847) kann Lukas zeigen, dass sich psychische Mechanismen der Verdrängung der Figuren auf der Ebene des Dargestellten auf der Ebene der Darstellung wiederholen und dort als Leerstelle manifest werden. Indikator für diese Leerstelle sind dann wiederum sprachliche Mittel, die metonymisch-indexikalisch auf den ›Verdrängungsprozess‹ zurückverweisen:

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Was die Figuren nicht wissen, ist somit über komplexe semiotische Verfahren als Wissen gleichwohl im Text aufgehoben, wobei dieses ›Wissen des Textes‹ aufgrund der bestehenden Homologie bzw. Isomorphie als quasi ›personales Wissen‹ reformulierbar ist. […] Die Geschichte des literarischen Unbewussten im engeren […] Sinn beginnt mit dieser Leerstelle, die als solche textintern bewusst gemacht wird, mit einer Setzung ex negativo. (S. 195)
[23] 

Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung

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Auf die Funktionen von Figuren in einem spezifischen narrativen Kontext fokussieren Beiträge von Daniel Fulda, Johannes Süßmann, Frank Zipfel, Wolfgang Lukas, Michael Scheffel, Thorsten Fitzon, Michael Butter und Maximilian Bergengruen, die sich zu einer vierten Gruppe zusammenfassen lassen. Zu den Funktionen kann dabei u.a. die Transformation kultureller Konzept- und Kategoriensysteme zählen. Die jeweils analysierten Texte sind daher nicht allein vermittelnder Natur, sondern streben eine Steuerung der Rezeption an und/oder erheben neue Wissensansprüche.

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Dies zeigt sich etwa an den historiographischen Beiträgen von Daniel Fulda und Johannes Süßmann. Ihre Beiträge kontrastieren den literarisch-narratologischen Figurenbegriff mit dem historiographischen Begriff des Akteurs. Dabei zeigt sich, dass sich die von ihnen untersuchten historiographischen Schriften genuin literarischer Techniken, insbesondere der Figurengestaltung und deren narrativer Funktionalisierung, bedienen, um nicht Geschichte, sondern Geschichten zu schreiben (vgl. S. 92). Die Funktionalisierung einer Figur könne dabei so weit gehen, dass sie nurmehr virtuelles Produkt einer Deutungsarbeit des Historikers sei und daher keine auf eine reale Person referierende Funktion mehr habe, sondern eine pragmatische in Bezug auf den Erzählzusammenhang und den Erkenntnisgegenstand (vgl. 128–129).

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Interdisziplinäre Anknüpfungspunkte

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Die Beiträge von Anja Stukenbrock und Christian Budnik fallen aus dieser tentativen Gruppierung gänzlich heraus.

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Christian Budnik stellt »Narrative Theorien personaler Identität« vor und beleuchtet den »Prozess der narrativen Bezugnahme auf das eigene Leben […], in dem wir uns selbst konstituieren« (S. 386). Vor dem Hintergrund einer Kritik von Derek Parfits psychologischem Ansatz rekonstruiert Budnik einen alternativen Ansatz von Marya Schechtman. Dieser zufolge hat das eigene Leben »die Form und Logik einer spezifischen Erzählung […], nämlich der Erzählung über das Leben der Person, die man ist« (S. 397). Indem Budnik Schechtmans Ansatz in fünf ›Schritte‹ einteilt, ermöglicht er eine Analyse derjenigen Faktoren, die menschliche Wesen zu Personen machen, und die die Defizite psychologischer Theorien umgeht.

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Anja Stukenbrocks Beitrag analysiert detailliert »Figurendarstellung und Figurenwissen als multimodale Alltagsinszenierung«. Ihr linguistischer Beitrag untersucht anhand eines Verbal-Transkripts von Videoaufzeichnungen der ersten Big Brother-Staffel (RTL 2000) Figurenwissen »im Sinne eines den Figuren selbst zuzuschreibenden Wissens, das im Hinblick auf seine Komplexität bzw. Fragmentarisierung, das Interagieren oder Konfligieren mit dem Wissen anderer Figuren und dem des Erzählers betrachtet werden kann« (S. 345). Für ihre Analyse greift Stukenbrock auf einen ethnomethodologischen Wissensbegriff zurück, den sie mit Hilfe linguistischer Konzepte elaboriert und operationalisiert. Anhand einer Analyse der »Alltagserzählung ›Krankenhaus‹«(S. 358) kann sie zeigen, wie sich der komplexe Prozess der Einführung und Kategorisierung bzw. Typisierung einer Figur, ihre soziale Relationierung und Evaluierung vollzieht. Besonders spannend ist dabei, wie eine verbale und körperliche Inszenierung dazu beiträgt, »gemeinsames kategoriengebundenes Figurenwissen« (S. 374) aufzubauen:

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So wie er [der Erzählende] sein eigenes Figurenwissen in der erlebten Krankenhaussituation schrittweise über unterschiedliche Wahrnehmungsfaktoren aufgebaut hat, modelliert er in interaktiver Feinabstimmung mit den Adressatinnen den Fortgang seiner Erzählung bis zum Höhepunkt einer zweifachen Figurenanimation […]. (S. 376–377)
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Der Erzählende rekonstruiert also »schrittweise seinen in einer bestimmten sozialen Situation vollzogenen Wahrnehmungs-, Kognitions- und Typisierungsprozess« (S. 379), den seine Performance nicht nur nachvollziehbar macht, sondern der Wissen auch bei den Adressatinnen aktiviert und aufbaut. Der Beitrag veranschaulicht somit auf eindrucksvolle Weise, wie Wissensbestände interagieren bzw. durch Interaktion in Beziehung gesetzt und zur Gestaltung von Figuren funktionalisiert werden.

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Kritische Diskussion

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Bei der Lektüre ergeben sich einige Fragen, die die Konzeption des Sammelbandes und der Beiträge anbelangen:

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1. Der vorliegende Sammelband besticht durch seine breite Anlage und seine zahlreichen Perspektiven auf die Beziehung von narrativer Figurendarstellung und Wissensrepräsentation bzw. Wissensgestaltung. Hierin liegt allerdings auch ein wesentlicher Grund für die Schwierigkeit seiner Einordnung und Bewertung. Die Beiträge bewegen sich zumeist zwischen den Kontexten der literarischen Anthropologie und der literarischen Wissen(schaft)srezeption. Das ist nicht per se problematisch und kann, wie die Beiträge von Frank Zipfel, Wolfgang Lukas und Michael Scheffel zeigen, sogar äußerst fruchtbar sein. Manche Beiträge lassen sich jedoch nur bedingt unter die von den Herausgebern konturierten »zentralen Fragestellungen« (S. 12) subsumieren. So ist natürlich auch eine Analyse der Verarbeitung anthropologischen Wissens in den Texten von Interesse. Wenn diese Analysen sich jedoch in der Skizzierung eines anthropologischen Modells des Textes bzw. Autors erschöpfen, werden jene komplexen Transpositionsprozesse zwischen Text und Kontext aus den Augen verloren, die das Kompositum Figurenwissen auch beinhaltet. Gerade hierin läge – wenn der Sammelband ein fundierter Beitrag zum Forschungsgebiet ›Literatur und Wissen‹ sein will – noch weiteres Erkenntnispotenzial.

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2. Die Herausgeber greifen den Wissensbegriff in ihrer Einleitung explizit auf. Dies ist, da viele Untersuchungen dies bis heute kaum für notwendig befinden, sehr erfreulich. Der Rekurs auf Michael Titzmanns Begriff des Kulturellen Wissens 9 ist dabei insofern sinnvoll, als ein wissenssoziologisch und diskurstheoretisch inspirierter Zugang zum Phänomen ›Wissen‹ textanalytisch operationalisierbar und fruchtbar ist. 10 Leider versäumen es die Herausgeber, diesen Wissensbegriff tatsächlich für die folgenden Analysen aufzuschlüsseln. Gerade in Joseph Vogls Poetologie des Wissens, deren Wissensbegriff die Herausgeber als zu »speziellen Wissensbegriff« (S. 2, Anm. 2) verwerfen, wird z.B. kaum deutlich, wie genau der Wissensbegriff zu fassen und methodologisch gesteuert anwendbar wäre. Für epistemologisch orientierte Analysen, 11 wie sie ja auch im Rahmen des Sammelbandes durchgeführt werden, wäre ein anschlussfähiger und gleichzeitig klar umrissener wie textanalytisch operationalisierbarer Wissensbegriff jedoch unverzichtbar. Dies vor allem dann, wenn der Band für aktuelle und zukünftige Forschung anschlussfähig sein möchte.

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3. Hierzu wäre insbesondere der kognitionswissenschaftliche Wissensbegriff, den die Hausgeber mit den kognitiven Figurentheorien ansprechen, von Relevanz. Das Potenzial dieser Ansätze scheint deshalb so enorm, da sie zum einen eine höhere analytische Auflösung erlauben: Wissen ist in diesen Theorien keine black box, sondern lässt sich in Wissenselemente (Propositionen, Konzepte, Kategorien, Skripte etc.) untergliedern und in Beziehung setzen. Zum anderen können Prozess der Genese, Modifikation, Transformation und Gestaltung dieser Elemente nunmehr differenziert beschrieben werden. Dies gilt vor allem für die Schnittstelle von Text und Kontext. Einigermaßen erstaunlich ist es, dass lediglich die Beiträge von Frank Zipfel, Michael Scheffel, Dorothee Birke und Katharina Grätz die entsprechenden Instrumentarien (teilweise) zur Anwendung bringen. Der Beitrag von Anja Stukenbrock sticht in dieser Hinsicht hervor, da sie nicht nur mit einem linguistisch-kognitionswissenschaftlichen Wissensbegriff operiert, sondern diesen für ihre Analyse noch weiter elaboriert und damit ein Analyseraster synthetisiert, welches sie schrittweise vorführt. Der Detailliertheitsgrad ihrer Analyse und die daraus gewonnenen Erkenntnisse zeigen, dass sich pragmatische Überlegungen zum Wissensbegriff lohnen, die den erkenntnistheoretischen Wissensbegriff nur als einen Begriff neben anderen betrachten.

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4. In ähnlicher Weise divergieren die Beiträge in Bezug auf ihre Kontextualisierung, Abstraktionsleistung und Rückbindung an die in der Einleitung aufgefächerten Themenfelder. So sehr die Analysen alle interessante Perspektiven und Anregungen bieten – auch was die Möglichkeiten einer sinnvollen Verknüpfung von Fragestellungen betrifft –, so ist es kaum möglich, sie auf einen Nenner zu bringen, außer eben den, dass es um Figuren geht. Dies ist jedoch den Herausgebern kaum vorzuwerfen, die sich sogar um einen Vergleich der Beiträge bemühen. Aufgrund des divergenten Verständnisses von ›Figurenwissen‹ sowie der sehr unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen (zumal text-, autor-, kultur- und epochenübergreifend!) ist eine synthetisierende Zusammenschau der Beiträge kaum möglich. Dies vor allem dann, wenn die Synthese in ihrem Erkenntnisgehalt nicht hinter die Beiträge zurückfallen soll. Die Feststellung etwa, dass man »zwei Arten von Relationen zwischen literarischen Figurenentwürfen und wissenschaftlichen Theorien unterscheiden« (S. 32) könne, »zum einen ein Verhältnis der ›Antizipation‹, zum anderen ein Verhältnis der ›kreativen Adaption‹ oder ›Transformation‹«(S. 32), ist kaum neu.

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5. Das ausgewählte Quellenmaterial erweist sich im Hinblick auf die Fragestellungen des Bandes als sehr ergiebig. Wie so häufig – das lässt sich für die Forschung im Bereich ›Literatur und Wissen‹ verallgemeinern – liegt der Schwerpunkt dabei auf dem 18. und 19. Jahrhundert. Ohne die Leistung der Beiträge schmälern zu wollen, stellt sich dennoch die Frage, wieso nicht auch (mindestens) literarische Texte und Filme des 20. und 21. Jahrhunderts als Untersuchungsmaterial aufgenommen wurden. Gerade vor dem Hintergrund naturwissenschaftlicher Forschung, der damit einhergehenden Dynamik von kulturellen Normen, Sinn-, Bedeutungs- und Wertsystemen sowie ihrem Einfluss auf das Leben des Individuums, erscheint das angezeigt. Ein Blick auf entsprechende Text hätte so z.B. zeigen können, dass (und wie) sich wesentliche Parameter des Personen- und Lebensbegriffs unter dem Einfluss naturwissenschaftlichen Wissens verändern. 12 Dadurch hätten außerdem auch Phänomene der visuellen Codierung von Wissen im Film aufgegriffen werden können.

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6. Lohnenswert hätte es schließlich für verschiedene Beiträge sein können, noch deutlicher zwischen der Art und Weise der Bezugnahme auf ein dem Text vorgängiges Wissenssystem, dessen Adaption, Repräsentation und Transformation im Text, konkreten Formen der Wissensgestaltung und den damit verbundenen anthropologischen Annahmen, Wissensansprüchen und Leistungen für die jeweilige Kultur zu differenzieren.

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Fazit

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Ob man nun die Auswahl, Systematisierung, Ausrichtung oder theoretische Fundierung der Beiträge uneingeschränkt teilen mag oder nicht, sie stellen aufgrund der Vielzahl von Fragestellungen doch eine Bereicherung für die Erforschung der narrativen Figurendarstellung im Kontext von ›Literatur und Wissen‹ dar. Gerade weil sich die Figurendarstellung als Querschnittsthema nicht nur innerhalb der Literaturwissenschaft, sondern auch in anderen Disziplinen erweist, zeigt sich, dass und inwiefern multiple Analyseperspektiven fruchtbar sein können. Hierzu bieten die einzelnen Beiträge denn auch das entsprechende Instrumentarium, wenn sie vorhandene Ansätze an ihrem Quellenmaterial zur Anwendung bringen und die Bandbreite und Komplexität der Interaktion von Kulturellem Wissen, Textwissen und Figurenwissen erhellen. Dass die im Sammelband eingangs gestellten Fragen dabei vorerst nur summarisch beantwortbar erscheinen, ist daher kein Mangel: Vielmehr schärft der Sammelband hierdurch den Blick für sinnvolle Fragestellungen und beweist, dass diese durchaus interdisziplinär bearbeitet werden können, wenn nicht gar sollten. So – und das leistet der Sammelband durch die interdisziplinäre Auswahl der Beiträge bereits selbst – lässt sich die aktuelle literaturwissenschaftliche Forschung auch für die Historiographie und alltagsweltliche Kommunikations- und Interaktionszusammenhänge erschließen. Auch wenn sich die Herausgeber vorsichtig von der Poetologie des Wissens distanzieren, so erfüllt der vorliegende Titel doch den eigenen Anspruch, »die Produktion und Rezeption literarischer Figuren durch vielfältige und komplizierte Wechselwirkungen mit dem Wissen […], das in den diversen kulturellen Kontexten der Literatur kursiert« (S. 26) zu erhellen.

 
 

Anmerkungen

Siehe dazu etwa den theoretisch-methodologisch orientierten Vorschlag von Stefan Halft: Poetogenesis. Funktionalisierung von Wissen zur Konstruktion und Verhandlung von ›Leben‹ in der deutschsprachigen Literatur (1996–2007). Berlin: de Gruyter 2013 (in Vorbereitung).   zurück
Siehe exemplarisch Michael Titzmann: Das Konzept der ›Person‹ und ihrer ›Identität‹ in der deutschen Literatur um 1900. In: Manfred Pfister (Hg.): Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne. Passau: Rothe 1989, S. 36–52 sowie Marianne Wünsch: Wege der ›Person‹ und ihrer ›Selbstfindung‹ in der Fantastischen Literatur nach 1900. In: Manfred Pfister (Hg.): Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne. Passau: Rothe 1989, S. 168–179.   zurück
Joseph Vogl: Für eine Poetologie des Wissens. In: Karl Richter / Jörg Schönert / Michael Titzmann (Hg.): Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Stuttgart: M&P Verlag für Wissenschaft und Forschung 1997, S. 107–127 sowie Joseph Vogl: Robuste und idiosynkratische Theorie. In: Kulturpoetik 7 (2007), H. 2, S. 249–258.   zurück
Michael Titzmann: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung. In: Zeitschrift für Französische Sprache und Literatur 99 (1989), S. 47–61.   zurück
Zur Einführung: Thomas Seiler / Gabi Reinmann: Der Wissensbegriff im Wissensmanagement: Eine strukturgenetische Sicht. In: G. R. / Heinz Mandl (Hg.): Psychologie des Wissensmanagements. Perspektiven, Theorien und Methoden. Göttingen: Hogrefe 2004, S. 11–23; Gert Rickheit / Lorenz Sichelschmidt / Hans Strohner: Psycholinguistik. Tübingen: Stauffenburg 2007; Vyvyan Evans / Melanie Green: Cognitive Linguistics. An Introduction. Edinburgh: Edinburgh UP 2009; Sebastian Löbner: Semantik. Eine Einführung. Berlin: de Gruyter 2003; Hans Lenk: Bewusstsein als Schemainterpretation. Paderborn: Mentis 2004.   zurück
Damit soll hier bezeichnet sein: Eine a) vom Text und (Teilen) seiner Kultur (zur Entstehungszeit des Textes) für wahr gehaltene Proposition, die sich (zu dieser Zeit) auf einen gegebenen Sachverhalt bezieht, dessen Wahrheitsstatus (noch) nicht geklärt ist, oder die sich auf einen (noch) nicht gegebenen Sachverhalt bezieht, so dass ihr Wahrheitsstatus (noch) nicht geklärt werden kann. Oder b) vom Text als wahr gesetzte Proposition. Der Begriff geht zurück auf Tilmann Köppe: Vom Wissen in Literatur. In: Zeitschrift für Germanistik NF 17 (2007), H. 2, S. 398–410. Dort definiert Köppe den Wissensanspruch als eine »propositionale Einstellung, deren Wahrheits- und Begründungsstatus offen ist« (S. 409), die aber anhand externer Quellen überprüft werden kann.   zurück
Die Einleitung verweist auf den Ansatz von Jens Eder: Die Figur im Film. Grundlagen der Filmanalyse. Marburg: Schüren 2008.   zurück
In diesem Sinne stellt Lukas auch methodologische Überlegungen an, die sich darauf beziehen, welches Wissen für eine Interpretation zulässig ist. Zwar finden sich im romantischen Kunstmärchen zahlreiche Phänomene, die durch die Annahme eines Unbewussten erklärbar werden. In der Anthropologie der Epoche ist dieses Konzept jedoch noch nicht etabliert, weshalb sich die ›Psyche‹ dort »in einem ›unpsychologisch‹-fantastischen und zeichenhaften Modus« (S. 179) manifestiert. Zur methodologischen Zulässigkeit des Einbezugs von Kulturellem Wissen siehe Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation. München: Fink 1993.   zurück
Michael Titzmann (Anm. 4).   zurück
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Stefan Halft (Anm. 1).   zurück
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Damit ist ein textanalytischer Fokus auf die Ebene des Wissens und Denkens, die Ermöglichungsbedingungen und Organisation von Wissen, Erkenntnis und Erfahrung bezeichnet. Zum Begriff siehe Jürgen Förster: Literatur, Wissenschaft, Epistemologie. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 134 (2004), S. 44–65.   zurück
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Stefan Halft (Anm. 1).   zurück