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Eine Epistemologie der Fälschung

  • Martin Doll: Fälschung und Fake. Zur diskurskritischen Dimension des Täuschens. Berlin: Kadmos 2012. 480 S. 43 Abb. EUR (D) 29,90.
    ISBN: 978-3865991409.
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Abhandlungen zum Thema Fälschung haben derzeit in der Geisteswissenschaft Konjunktur, denn ihr Gegenstand zählt zu den bemerkenswertesten Phänomenen der Postmoderne. 1 Allerdings herrscht in der Forschung Uneinigkeit über die Begriffsbestimmung der Fälschung und die adäquate Bezeichnung der gefälschten Gegenstände. In der postmodernen Theorie wird generell ihre Charakterisierung anhand der Intention des Fälschers näher präzisiert. Während Fredric Jameson mit dem Begriff ›Pastische‹ eine wertneutrale Praxis der Täuschung bezeichnet, die von der Ahistorizität der Gegenwart zeugt 2 , sieht Linda Hutcheon in der ›Parodie‹ eine ironische Wirkungsabsicht, die die Repräsentation als solche kritisch hinterfragt. 3 In medientheoretischer Hinsicht besteht jedoch Konsens darüber, dass Fälschungen Baudrillards Gedanken der Simulation zugeordnet werden können. So läuft man aber Gefahr, Fälschungen als Symptome einer gewissen ›postmodernen Beliebigkeit‹ zu diagnostizieren, die die Wirklichkeit endgültig verabschiedet hat. In diesem Zusammenhang werden zum Beispiel journalistische Fakes lediglich als Beweis für die unabänderliche Simuliertheit der Medien betrachtet. Da Fälschungen derartig unterschiedliche Gegenstände wie Literatur, Wissenschaft und Medien betreffen, schwankt ihre Untersuchung zwangsläufig zwischen zeitkritischer Diagnose und ästhetischer Reflexion.

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Erkenntniskritik der Fälschung

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Mit seiner Abhandlung Fälschung und Fake. Zur diskurskritischen Dimension des Täuschens geht Martin Doll entschieden einen Schritt weiter, indem er von der postmodernen Debatte Abstand nimmt. Der Verfasser nimmt zunächst Baudrillard in Schutz gegen seine voreiligen Anhänger, indem er die Simulakren nicht pauschalierend für das Verschwinden des Realen verantwortlich macht, sondern sie als Infragestellung des Wirklichkeitsbegriffs überhaupt versteht (vgl. S. 9ff.). Diese Umkehrung der Perspektive wird möglich, weil sich die Untersuchung auf die Wahrnehmungsmodi der gefälschten Gegenstände bezieht. Vorausgesetzt wird, dass bis zum Augenblick ihrer Aufdeckung Fälschungen und Fakes als Träger einer objektiven Wahrheit wahrgenommen werden. Daher erweise sich, so der Verfasser, ihre Unterscheidung als belanglos, da beiden Täuschungsformen »ein kritisches Potential« (S. 7) innewohne. In diesem Sinne ist die Intention des Fälschers für die Analyse der Fälschung irrelevant. Dagegen ermöglicht die Wirkungsweise der Täuschung eine Verschiebung der Koordinaten zwischen wahr und falsch, unabhängig von der Frage nach dem ontologischen Wert der Wahrheit. Letztere werde, so die Ausgangsthese des Verfassers, »diskursspezifisch« konstruiert und erfahre somit eine »durch den jeweiligen geschichtlichen Zeitpunkt bedingte praxisabhängige flexible Bestimmung« (S. 11). Wenn eine Täuschung auffliegt, hat dies auch weitreichende Konsequenzen für das betroffene Wissensgebiet, das seine Zusammenstellung im Dienste der Wahrheitssuche neu ordnen muss.

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Doll betreibt also eine Erkenntniskritik der Fälschung, die auch in epistemologischer Hinsicht die Aussagen verschiedener und oft weit voneinander entfernter Praktiken des Wissens wie Literaturkritik und Paläontologie kritisch untersucht. Sie alle teilen eine durch ihren jeweiligen Diskurs bestimmte Suche nach der Wahrheit, welche die Prozesshaftigkeit der Täuschung in Frage stellt: »Fälschungen und Fakes […] lassen, nachdem sie sich in einem Diskurs ins Werk gesetzt haben, in ihm ex post ihre Akzeptanzbedingungen und damit die des Diskurses fragwürdig erscheinen« (S. 12). Vor diesem erkenntniskritischen Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass der Verfasser sich auf Michel Foucault beruft. Dies tut Doll in einer sehr bedachten Weise, indem er den Foucault’schen Diskursbegriff genau unter die Lupe nimmt. Das erste Kapitel »Eine Theorie der Fälschung« endet mit einem ausführlichen Kommentar zur Archäologie des Wissens und zu Die Ordnung des Diskurses, der durch Paratexte aus Foucaults Schriften unterstützt wird. Um die Übersetzung punktuell zu korrigieren, greift Doll zudem auf die Originalfassungen zurück. In Anlehnung an Foucault wird Diskurs durch die Regelmäßigkeit (›régularité‹) seiner Aussagen definiert, die sich zu einer Diskursformation verdichten. Letztere reguliert dann ein Wissensgebiet (Doll weist hier auf die zweite Bedeutung der französischen ›régularité‹ hin), das einen gewissen Wahrheitsanspruch behauptet.

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In diskurskritischer Hinsicht erweisen sich Fälschungen »als Elemente, die buchstäblich als Ausnahmen die Regel bestätigen und so ein betroffenes Feld an impliziten Normen und Konventionen dechiffrierbar machen« (S. 69). Der Verfasser belegt seine These mit vier verschiedenen Diskursfeldern, die den größten Teil seiner Abhandlung ausmachen: Naturwissenschaft, Literatur, Journalismus und elektronische Medien.

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Pluralität der Fälschung – Singularität des diskursiven Wahrheitseffekts

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Im Bereich der Paläontologie wird am Beispiel der ›Würzburger Lügensteine‹ gezeigt, wie der Transformationsprozess des Wissens im Zeitalter der Aufklärung von der ›natura naturata‹ zu der ›natura naturans‹ stattfindet. Dem Gelehrten Johann Beringer (1670–1738) wurden gefälschte Findlinge untergeschoben, die er als Wunderwerke der Natur betrachtete. Selbst wenn er eine induktive Methode verfolgte und die am Ende des 18. Jahrhunderts von Georges Cuvier (1769–1832) entworfene organische Theorie über die Fossilien nicht vorwegnahm, hat Beringer ähnlich dem französischen Wissenschaftler an einem Transformationsprozess der Paläontologie mitgewirkt. So wurde der Wirkungsabsicht der Fälscher widersprochen. Indem letztere die wissenschaftliche Beschäftigung mit Findlingen der Lächerlichkeit preisgeben wollten, ermöglichten sie die Formation eines neuen wissenschaftlichen Diskurses. In diesem Sinne, so der Verfasser, beinhalteten Fälschungen immer ein »Moment der historischen Wirksamkeit« (S. 50).

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Dies belegt auch im Bereich der Literatur die erfundene Gestalt des australischen Dichters Ern Malley, dessen surrealistische Gedichte als Zeugnis für eine Moderne in ›Down Under‹ in den 1940er Jahren gedeutet wurden. Die Erfinder des fiktionalen Dichters hatten sich zum Ziel gesetzt, die avantgardistischen Bestrebungen der australischen Bohème bloßzustellen. Doch die Gedichte des angeblich früh verstorbenen Malley, indem sie auf das Prinzip der freien Assoziation zurückgriffen, führten entgegen der Wirkungsabsicht der Fälscher zur Legitimierung des surrealistischen Schaffungsprozesses. Aus diesem Fall zieht Doll Schlüsse für die Auffassung der Literatur, da »die traditionelle Figur des Autors […] vom Spielfeld gefegt wurde« (S. 229). Mit der Aufdeckung der Fälschung entwickelte sich, so der Verfasser, ein eigenständiger literaturkritischer Diskurs, der die »Nicht-Existenz des Autors […] als (Lektüre-)Prinzip« (ebd.) im Sinne der Moderne stärken kann, so dass die literarische Qualität eines Textes nicht mehr anhand der Wirkungsabsicht seines Autors gemessen wurde. In diesem Zusammenhang zieht der Verfasser eine erhellende Parallele mit dem wahrscheinlich meist kommentierten Fälschungsfall der Literatur, den Gedichten Ossians. Sowohl im Fall von Ossian als auch von Malley wurde die Autorenfigur außer Kraft gesetzt und die »Literarizität« der Texte insofern verstärkt, als »Literatur […] nur über eines sicher Auskunft geben kann, und zwar über ihre eigene Sprache« (S. 189). Sämtliche Elemente, die etwa die Authentizität der Fragments of Ancient Poetry belegen könnten und von Macpherson als Peritexte in der Form von Kommentaren und Fußnoten zu den erfundenen Gedichten hinzugefügt wurden, verlieren durch die Aufdeckung der Fälschung nicht ihre literarische Qualität. Vielmehr weisen sie auf das folgende Problem hin, dessen der Fälscher sich durchaus bewusst war: Durch die Verschriftlichung wäre die Ursprünglichkeit der alten gälischen Gesänge möglicherweise für immer verloren gegangen.

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Auf den ersten Blick scheint Doll die Meinung von Ann-Kathrin Reulecke in ihrer jüngsten Untersuchung über Macphersons gefälschte Gedichte zu teilen: »Es gehört […] zur Ironie der Literaturgeschichte – und zur Logik der Fälschungsgeschichte –, dass ausgerechnet eine Fälschung für die Poetik des Originalen, Authentischen und Ursprünglichen im 18. Jahrhundert Pate stand.« 4 Doch der Verfasser geht noch einen Schritt weiter, indem er aus diesem Fälschungsfall Schlüsse über die Medialität der Literatur zieht:

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Das Skandalon der Fälschung besteht somit nicht darin, die Existenz eines Originals zu behaupten, obwohl es nicht vorliegt, sondern zu markieren, dass es eine solche Originalität – ein ursprüngliches Sprechen im Einklang mit der Natur oder den (re)präsentierten Gegenständen – nicht geben kann. (S. 193)
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Somit werden die zwei von Hans-Ulrich Gumbrecht herausgearbeiteten Hauptmerkmale des Mediums Literatur, ihre ›Fernanwesenheit‹ und ›Zusicherungsverhältnisse‹, kontrastiert. 5 Das diskurskritische Potential der literarischen Fälschung besteht also darin, die für immer verlorene Originalität als Wahrheitsmoment der erfundenen Gedichte zu behaupten.

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Die Frage nach der Entfernung zwischen dem Original und seiner Fälschung stellt sich als besonders kritisch dar, wenn es um die Massenmedien geht. Allerdings sieht Doll im Bereich von Printjournalismus keinen wesentlichen Unterschied zu den literarischen Fälschungen, was ihre jeweiligen Diskursaussagen angeht. Edgar Allen Poes sogenannte ›Hoaxes‹ als erfundene Nachrichtenmeldungen dienten einer Normierung der journalistischen Berichterstattung, indem sie eine strikte Trennung vom fiktionalen Schreiben bewirkten (vgl. S. 262). Der spektakuläre Fall jener Starinterviews, die Tom Kummers in den 90er Jahren fingierte, führte »zu einer Rekonfiguration des Feldes des ›Wahren‹ im Bereich des Journalismus« (S. 327), die der Verfasser mit dem diskursiven Wahrheitseffekt der Gedichte Ern Malleys vergleicht. Tangiert werden also nicht die Grenzen eines Wissensdiskurses, sondern dessen Organisation, die bestimmte Aussagen als Unregelmäßigkeiten ausschließt. In diesem Sinne erweist sich die Einordnung der journalistischen Fälschungen in eine historische Perspektive, die Dolls Ausführungen eröffnet, als besonders fruchtbar.

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Die Zeichenverschiebung der Medien als Wirkung der Fälschung

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Allerdings wird ein neues Terrain mit der Untersuchung von Fakes im Bereich der audiovisuellen Medien betreten, da letztere im Gegensatz zu gefälschten Texten ein anderes Verständnis der Medialität voraussetzen: »Ohne die Voraussetzung, dass man zu wissen glaubt, das Gezeigte entspräche in irgendeiner Weise dem, was es ›reproduziert‹, wäre die Rede von einer Manipulation, mit der etwas ex post als Fälschung markiert wird, nicht möglich« (S. 338). Anstelle der unmöglichen Wiederherstellung einer Verbindung zwischen dem Original und dessen literarischer Beschwörung, welche die ›Zusicherungsverhältnisse‹ fraglich erscheint lässt, tritt die spezifische ›Fernanwesenheit‹ der audiovisuellen Medien in der Form ihrer Indexikalität. Hier greift der Verfasser auf Charles S. Peirces pragmatische Theorie zurück, um die Zeichenhaftigkeit der medial erzeugten Bilder anhand verschiedener Fälschungsfälle kritisch zu beleuchten. So sind etwa gefälschte TV-Beiträge das Ergebnis einer falsch gesetzten Zeichencodierung, die jedoch ohne Konsequenzen für die semiologische Logik des Mediums Fernsehen sind. Dabei kommt Doll zu einem ernüchternden Urteil: »Das Medium kann sich im eigenen Medium im doppelten Wortsinne nicht in Gänze reflektieren« (S. 363). Der ausufernde Mediendiskurs lässt sich nur dadurch außer Kraft setzen, dass er gestört wird. So können parasitäre Effekte auf andere Diskurse, wie etwa die Öffentlichkeitsarbeit von Institutionen und Konzernen, erzeugt werden. Diese Thematik wird im letzten Kapitel über »Fakes und elektronische Gegenöffentlichkeit« der vorliegenden Untersuchung angesprochen. In diesem Zusammenhang stellt der Verfasser die Aktionen der Yes Men dar. Die amerikanische Künstlergruppe lässt eine elektronische Gegenöffentlichkeit entstehen, indem sie die diskursiven Machtmechanismen der neuen Medien entlarvt. Der Parasitismus besteht darin, sich die Kommunikationsformen von Institutionen wie etwa der Welthandelsorganisation anzueignen, um die Autorität ihres Diskurses in Frage zu stellen. So wurden im Namen der WTO durch die Yes Men absurd liberale Aussagen in den Medien propagiert.

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Ausblick auf eine erweiterte Medienpragmatik

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Die breit angelegte Studie zum Thema Fälschung endet mit einem gewissen Medienskeptizismus, der sich durch die Foucault’sche Diskursanalyse begründen lässt. Diskursformationen ergeben sich aus »irreduziblen Interrelationen aus Wissen und Macht« (S. 429), die das kritische Potential des angeblichen Freiraums Internet als fragwürdig erscheinen lassen. Hier stößt der medienkritische Diskurs notwendigerweise auf seine Grenzen, da ihm die historische Perspektive fehlt, die den Rest der Studie kennzeichnet. Die Beschwörung »eine[r] andere[n] Politik der Wahrheit« (S. 430), die die Interventionsform der Yes Men als Störfaktor der medialen Diskursformation ermöglicht, ist ein ernüchterndes Fazit, das offen bleibt. Doch an diesem Punkt würde die Studie den Bereich einer bisher durchaus methodologisch fundierten Medienwissenschaft verlassen, um sich einer Philosophie der Wahrheit zu widmen, was nur durch eine Vertiefung des in der vorliegenden Untersuchung ohnehin wissenschaftlich fundierten Diskursbegriffes möglich wäre. In diesem Zusammenhang haben neueste Untersuchungen auf die Verwandtschaft der Foucault’schen Konzeptualisierung mit der Philosophie Wittgensteins hingewiesen. 6 So ließe sich der analytische Blick auf Wahrheitsaussagen durch eine erweiterte Medienpragmatik amplifizieren, die von Doll nur punktuell mit Peirces Begriff der Indexikalität angesprochen wird.

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Ein solcher Einwand soll dennoch das Verdienst des besprochenen Buchs nicht schmälern, das seinen Gegenstand sogar in seiner Aufmachung thematisch behandelt. Augenzwinkernd erinnert die Buchgestaltung an die prominente wissenschaftliche Reihe eines 2010 nach Berlin umgezogenen Frankfurter Verlags, der Foucaults Werke veröffentlicht hat. Dies ist mehr als ein Kunstgriff, denn Dolls Studie dürfte dank der Dichte des behandelten Materials und der theoretischen Überlegungen zum Standardwerk der Fälschungsforschung werden.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Barbara Potthast (Hg.): Das Spiel mit der Warhrheit – Fälschungen in Literatur, Film und Kunst. Münster: LIT 2012.   zurück
Vgl. Frederic Jameson: Postmodernism, or, the Cultural Logic of Late Capitalism. Durham: Duke University Press 1991, S. 16.   zurück
Vgl. Linda Hutcheon: The Politics of Postmodernism. New York: Routledge 1989, S. 93f.   zurück
Ann-Kathrin Reulecke: Prekäre Ursprünge – James Macphersons Übersetzungen ohne Originale. In: Barbara Potthast (Hg.): Das Spiel mit der Wahrheit (Anm. 1), S. 11–23, hier S. 22.   zurück
Vgl. Hans-Ulrich Gumbrecht: Medium Literatur. In: Manfred Faßler / Wulf Halbach (Hg.): Geschichte der Medien. (UTB 184) München: Fink 1998, S. 83–108.   zurück
Vgl. Arnold Davidson / Frédéric Gros (Hg.): Foucault, Wittgenstein: de possibles rencontres. Paris: Kimé 2011.   zurück