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Auf Augenhöhe gehen

  • Bettina Kümmerling-Meibauer / Christian Exner (Hg.): Von wilden Kerlen und wilden Hühnern. Perspektiven des modernen Kinderfilms. (Marburger Schriften zur Medienforschung 41) Marburg: Schüren 2012. 304 S. EUR (D) 29,90.
    ISBN: 978-3-89472-754-3.
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Der Kinderfilm gilt sowohl dem erwachsenen Zuschauer als auch dem Filmwissenschaftler meist als eine Art unfertiges Kino. Dementsprechend ist für ein Kinderpublikum Produziertes nach wie vor häufig von einer gutgemeinten Pädagogik bestimmt. »Wertvoll« soll sein, was dem jungen Zuschauer dabei hilft, seinen Weg in die Welt der Erwachsenen zu bewältigen und ihn in seiner psychischen und kognitiven Entwicklung unterstützt. Das Fazit vorneweg: Das große Verdienst der Beiträge des Bandes Von wilden Kerlen und wilden Hühnern ist, dass sie diese pädagogische Prämisse hinter sich gelassen haben. Kinderfilme und ihr Publikum werden nicht mehr als ergänzungsbedürftig gesehen, sondern für voll genommen. Die Beiträge zeigen, dass sich die etablierten Topoi und Fragestellungen der Zunft ohne Weiteres auch auf das Kinderkino anwenden lassen – Intermedialität, Intertextualität, Raumanalyse, Genderkonstruktionen, es fehlt nur wenig von dem, was momentan in den Filmwissenschaften diskutiert wird.

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Der Band wird durch einen grundlegend gestimmten Beitrag von Christian Stewen eröffnet, der die Kategorie »Kinderfilm« einer Diskursanalyse unterzieht, um die rigide Grenzziehung zwischen »erwachsen« und »kindlich« selbst zu überprüfen. Ausgehend davon, dass die Kategorie nicht nur einen bestimmten Zuschauer als Adressaten, sondern »jeweils auch spezifische erwachsene Vorstellungen von Kindheit« (S. 37) impliziert, ließen sich Kinderfilme nicht mehr nur schlicht als Filme für und über Kinder verstehen. Stewen schlägt vor, sie daraufhin zu untersuchen, »welche Erwartungen und Zuschreibungen von Erwachsenen an Kindheit und Kinder gerichtet werden und welche Sehnsüchte oder traumatischen Erinnerungen sich mit der Hin- und Rückwendung zur Kindheit verbinden« (ebd.).

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Bruchstellen und Grenzen

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Kinder sind am Produktionsprozess der für sie gemachten Filme nur als Schauspieler (und nur als Ausführende) beteiligt, es gibt keine von Kindern produzierten Filme für Kinder. Dementsprechend virulent sind die pädagogischen Einschreibungen sowohl auf der Produzentenseite wie auch von Seiten der Filmkritik, die beide dazu beitragen, dass Fragen nach der Qualität eines Kinderfilms sich meist nur an »erwachsene, gleichsam medizinische Autoritäten [richten], die die Filme je nach Inszenierung als ›gesundheitliche Gefahr‹ oder aber als sozialverträglich und wertvoll einstufen« (S. 39). 1

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Christian Steven entwirft ein analytisches Konzept des Kinderfilmes, das von den Bruchstellen und Grenzen des Begriffs ausgeht. Wie jeder Genrebegriff ist auch der des Kinderfilms – eben weil er keine naturhafte Entität, sondern ein diskursives Konstrukt benennt, das zudem noch in hohem Maße pädagogisch aufgeladen ist – nicht frei von immanenten Widersprüchen. Die Grenzziehung zwischen kindlichem und erwachsenen Kino scheint bei näherem Hinsehen an vielen Punkten porös zu werden: Harry Potter oder auch die Filme der Pixar-Studios sind altersübergreifende Erfolge, die erwachsene Zuschauer nicht mehr nur als Vermittler oder Mitseher adressieren. 2 Motive und Stereotype des »erwachsenen« Genrekinos finden sich immer häufiger auch in Filmen, die für Kinder beworben werden (vgl. S. 44). Stewen plädiert dafür, die Bruchstellen der Kategorie als Möglichkeit und als Chance zu verstehen, den Kinderfilm neu zu denken. Die Kategorie des Kinderfilms wir hier als ein Möglichkeitsraum neu skizziert, in dem starre Grenzziehungen porös werden können:

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Die Definitionsgrenzen zwischen Kinder- und Erwachsenen-Film werden instabil; der Kinderfilm funktioniert als Ort, an dem Erwachsene Kind sein können und Kinder die Logik des Erwachsen-Seins reflektieren und befragen. […] Der Kinderfilm funktioniert wie kaum ein anderes Filmgenre als Grenzerfahrung, als Vexier- oder Kippbild, als mehrdeutiger Wahrnehmungseffekt. (S. 53)

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Inwiefern sich so ein Ansatz anhand des Filmmaterials realisieren lässt, müsste an einzelnen Analysen gezeigt werden. Die von Steven für viele Kinderfilme festgestellten Merkmale – Meta-Fiktionalität, Selbstreflexivität, Ironisierung von Genrekonventionen – deuten jedenfalls darauf hin, dass der Kinderfilm auch Erwachsenen filmische Erfahrungen ermöglichen kann, die im Rahmen des pädagogischen Diskurses nicht zur Sprache kommen können.

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Auralität als Alleinstellungsmerkmal

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Aber auch der von Steven entworfene Ansatz hat seine Grenzen. Trotz aller diskursanalytisch versierten Dekonstruktion allzu eindeutig gezogener Definitionen und Kategorisierungen, sollte man den objektiven Unterschied zwischen einer kindlichen und einer erwachsenen Rezeption nicht ignorieren. Tobias Kurwinkel und Philipp Schmerheim entwickeln in ihrem Beitrag ein entwicklungspsychologisch fundiertes Analyseinstrumentarium, das von einem nicht diskursiv, sondern entwicklungspsychologisch konstituierten Unterschied zwischen kindlichem und erwachsenem Wahrnehmungsapparat ausgeht. Kinder würden Filme weniger analytisch wahrnehmen, sondern dazu neigen, »die von ihnen rezipierten Filme intensiv zu erleben und in den Filmtext gleichsam einzutauchen« (S. 89). Das aber ist nur der offensichtlichste Unterschied zu einer erwachsenen Rezeption. Im Rückgriff auf entwicklungspsychologische Studien gehen Kurwinkel und Schmerheim von einem Primat des Hörsinns bei der Filmrezeption von Kindern aus und schlagen vor, die Analyse von Kinder- und auch Jugendfilmen auf deren Auralität zu richten (nicht umsonst halten sich Erwachsene im Kino eher die Augen, Kinder eher die Ohren zu). Auralität umfasst nicht nur dieschlicht die Tonspur (also Dialoge, intra- und extradiegetische Musik), sondern »weitere Gestaltungs- und Strukturmerkmale wie z. B. rhythmische Verschränkung von Bild und Ton, Kamera- und Figurenbewegung, die ›Metrik‹ der Montage, ›musikalisierte‹ Montagestrukturen oder narrative Strukturen, die sich am Aufbau von Musikstücken orientieren« (S. 94). Mittels zweier Beispielanalysen einzelner Szenen aus HARRY POTTER UND DER GEFANGENE VON ASKABAN (USA 2004, Regie: Alfonso Cuarón) und DER GESTIEFELTE KATER (USA 2011, Regie: Chris Miller) bekommt das Analyseprogramm Kontur und Plausibilität.

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Die Frage, ob Auralität im hier verstandenen Sinne ein Alleinstellungsmerkmal des Kinder- und Jugendfilm sei, drängt sich allerdings auf. Schließlich ließe sich gegen die These ohne Weiteres einwenden, dass auch die an ein erwachsenes Publikum gerichteten Blockbuster auf die enge Verzahnung von Ton- und Bildbewegung setzen.

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Man kann den Einwand aber auch als Bestätigung verstehen: Die These, die Auralität des Filmerlebens sei ein spezifisch kindlicher Aspekt des Filmerlebens, verweist im Umkehrschluss darauf, wie unablässig das Blockbusterkino mit einer möglichst intensiven Verschränkung von Bild und Ton daran arbeitet, dem erwachsenen Zuschauer eine Immersion zu ermöglichen, die ihm als Kind im Kino noch ohne Weiteres gelungen sein wird.

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Damit ließe sich die oftmals an inhaltlichen Kriterien festgemachte Wahrnehmung, Actionfilmen hafte etwas Kindliches an, auch mit formalen Kriterien unterfüttern. Das »Kindliche« des Spektakelfilms wäre dann allerdings eher ein Versprechen an den erwachsenen Zuschauer als ein ästhetischer Mangel – und damit läuft die von Christian Steven angestellte Kritik der allzu starren Grenzen zwischen Erwachsenen- und Kinderfilm dem Alleinstellungsmerkmal der Auralität paradoxerweise nicht zuwider, beide Ansätze korrespondieren miteinander.

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Ein vollständiges Kino

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Die zwei Aufsätze wurden hier auch deswegen so ausgiebig referiert, weil sie stellvertretend für eine nicht mehr primär pädagogisch ausgerichtete Haltung gegenüber dem Kinderfilm stehen können. Gemeinsam ist ihnen, dass sie, von unterschiedlichen Ausgangspunkten aus argumentierend, den Kinderfilm als ein in sich bereits vollständiges Kino begreifen, das, bei allen eventuellen Differenzen zum Erwachsenenfilm, nicht als dessen unfertige Form zu verstehen ist.

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Das gilt für den gesamten Band. In eigentlich allen Beiträgen werden Filme, die an ein junges Publikum adressiert sind, mit demselben Ernst behandelt, wie sonst das Kino der Erwachsenen. Das bedeutet, wie eingangs erwähnt, auch, dass die Begriffsinstrumente, die zur Zeit in den Film- und Medienwissenschaften diskutiert werden, sich ohne Weiteres auf das von Erwachsenen für Kinder produzierte Kino anwenden lassen. Eher formal ausgerichtete Analysen, wie Bettina Kümmerling-Meibauers Beitrag zu Paratexten im Kinderfilm oder Michael Staigers Text zu Raumkonstruktionen in Spike Jonzes WO DIE WILDEN KERLE WOHNEN und in der Buchvorlage Maurice Sendaks werden von Beiträgen ergänzt, die die in den Blick genommenen Filme mit philosophischen oder Gender-Konzepten verknüpfen. Natália Widmann widmet sich in ihrem Text den inszenierten Blickkontakten zwischen Kindern und Tieren in Filmen, die von Freundschaften zwischen Mensch und Tier erzählen und zeigt, dass sich Derrida, Disney und Filmanalyse ohne Weiteres zusammenbringen lassen.

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Andere Texte schlagen einen ideologiekritischeren Ton an, etwa wenn Jana Mikota in ihrem Beitrag über »Umweltschutz im Kinderfilm« zu dem Schluss kommt, dass die »in den Filmen vermittelten Naturbilder Konstrukte einer bürgerlichen Gesellschaft« seien (S. 199). Zu einem weniger eindeutigen Ergebnis kommt Tao Zhang in ihrer Untersuchung der Inszenierung von Geschlechterrollen in einer der momentan erfolgreichsten Kinderfilmserien, DIE WILDEN KERLE (nicht zu verwechseln mit der Sendak-Verfilmung). Obwohl die Filme durchaus einen zunächst innovativen Eindruck hinsichtlich der in ihnen zu findenden Gender-Konstruktionen hinterlassen würden (vgl. S. 232), kommt Zhang nach der Analyse der den Protagonistinnen und Protagonisten jeweils zugeschriebenen Charakteristika (und deren filmischer Inszenierung) zu dem Schluss, dass die althergebrachten Wertigkeiten nach wie vor ihre Gültigkeit behalten – auch wenn vormals ausschließlich den Jungen vorbehaltene Eigenschaften wie Wildheit, Kampfgeist, Durchsetzungsvermögen usw. nun auch Mädchen zugeschrieben werden können. Die Geschlechtermatrix bleibt intakt, wenn sie auch flexibler gehandhabt wird.

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Robuste Kinderseelen

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Aber nicht nur Diskurs, auch der Kinderfilm selbst hat sich geändert. Drei Beiträge stehen unter der Überschrift »Angst und Horror«. Dieser vierte und letzte Abschnitt des Bandes ist Filmen gewidmet, die kindliche Ängste auf die Leinwand bringen, ohne diese zwangsläufig mittels Happy End zum Verschwinden bringen zu wollen. Dass auch junge Zuschauer keinen Schaden nehmen, wenn ihnen im Kino von Furcht, Wut und Trauer erzählt wird, hat sich inzwischen herumgesprochen. Anke Sternborg etwa hat jüngst in der Süddeutschen Zeitung im Rahmen einer Besprechung von Tim Burtons FRANKENWEENIE (USA 2013) eine Erweiterung dessen, was im Kinderfilm als möglich und erlaubt gilt, konstatiert: »Kinderseelen sind möglicherweise sehr viel robuster, als die Unterhaltungsindustrie es bisher wahrhaben wollte.« 3

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Die vielschichtigsten Kinderfilme der letzten Jahre waren die, die ihren Protagonisten (und damit auch ihrem Publikum) Ängste zugestanden und sie damit ernst genommen haben, ohne am Schluss alles in Seligkeit aufzulösen, und so die Grenze – hier der wissende Erwachsene, dort das faszinierte, aber noch unwissende Kind – damit selbst porös werden ließen. Die drei Beiträge dieses Abschnitts argumentieren filmanalytisch weniger komplex, lassen sich dafür aber nicht nur in einem filmwissenschaftlichen Kontext, sondern auch in der medienpädaogischen Arbeit mit Kindern nutzen.

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Stefan Stiletto widmet sich in seinem Beitrag »Reisen in ein filmisches Grenzgebiet« der Angst als filmisch evozierter Emotion im Kinderfilm. Das ist durchaus immer noch kontrovers, zu stark ist die Befürchtung der Erwachsenen, ihre Schutzbefohlenen könnten im und durch das Kino Schaden nehmen werden. Stiletto beginnt seinen Beitrag mit einem Zitat Maurice Sendaks, der vermittelt über Spike Jonzes WO DIE WILDEN KERLE WOHNEN in mehreren Beiträgen des Bandes eine Rolle spielt: »We are Disneyfied. We don’t want children to suffer. But what do we do about the fact that they do? The trick is to turn that into art. Not scare children, that’s never our intention.« (zit. nach S. 236) In dieser Hinsicht hat sich in den letzten Jahren viel getan, in Kinderfilmen ist heute mehr Ambivalenz und Düsternis erlaubt als noch in den neunziger Jahren. In Ole Bornedals ALIEN TEACHER etwa treibt eine Hühner fressende außerirdische Lehrerin ihr Unwesen, besagter WO DIE WILDEN KERLE WOHNEN erzählt von der Angst vor der eigenen Aggression, die Protagonistin in PHOEBE IM WUNDERLAND ist ein neunjähriges Mädchen, das an Tourette erkrankt und die Kontrolle über ihr Verhalten verliert. Der zentrale Begriff Stilettos in der Beschreibung der beiden letztgenannten Filme ist der Begriff der Augenhöhe: Beide Filme würden ihren Zuschauern keine falschen Versprechungen machen und schlössen mit einem offenen Ende (vgl. S. 244).

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Fazit

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Der Band ist sowohl für Filmwissenschaftler wie auch für Pädagogen, die mit Filmen arbeiten, durchweg lesenswert. Bei aller Disparatheit der jeweils in Anschlag gebrachten Perspektiven benennt Stefan Stiletto mit der Augenhöhe das alle Beiträgen verbindende Merkmal, das dazu beiträgt, diesen Band homogener und abgestimmter wirken zu lassen, als es bei filmwissenschaftlichen Sammelbänden ansonsten oft der Fall ist. Der Versuch, sowohl den Filmen als auch dem von ihnen anvisierten Publikum analytisch gerecht zu werden, ist geglückt, vielleicht auch weil hier immer eine zugleich nicht naive und nicht bevormundende Vorstellung von Kindheit den Ausgangspunkt der Reflexion bildet. Augenhöhe bedeutet eben nicht, dass man sich hinabbeugt, sondern dass man sich im Anderen erkennt, ohne harmoniesüchtig die Differenzen zu verwischen.

 
 

Anmerkungen

Den nach wie vor umfassendsten Überblick über diesen Diskurs der Sorge, der im Kino insgesamt primär eine Gefahr sieht, bietet die Kritik der medienethischen Vernunft von Thomas Hausmanninger (München 1998).    zurück
Für die Filme, die offensichtlich versuchen, mehrere Altersstufen zu adressieren, hat sich der Begriff Family Entertainment etabliert, auf den Stewen in seiner Argumentation allerdings bewusst nur am Rande eingeht (vgl. Tobias Kurwinkel: Family Entertainment. In: Horst Schäfer (Hg.): Lexikon des Kinder- und Jugendfilms im Kino, im Fernsehen und auf Video. Hrsg. von Horst Schäfer. Band 5: Genre, Themen und Aspekte. 39. Ergänzungslieferung. Meitingen 2012. S. 1–5 und Beate Völcker: Kinderfilm oder Family Entertainment? In: Horst Schäfer / Claudia Wegener (Hg.): Kinderheit und Film. Geschichte, Themen und Perspektiven des Kinderfilms in Deutschland. Konstanz 2009, S. 231–241).   zurück
Anke Sternborg: »Robuste kleine Seelen«. In: Süddeutsche Zeitung. URL: http://www.sueddeutsche.de/kultur/frankenweenie-im-kino-robuste-kleine-seelen-1.1581579 (06.03.2013)   zurück