IASLonline

Friedrich Schlegels Antikerezeption:

Versuch einer Gesamtdarstellung

  • Dorit Messlin: Antike und Moderne. Friedrich Schlegels Poetik, Philosophie und Lebenskunst. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 68) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2011. 435 S. Kartoniert. EUR (D) 119,95.
    ISBN: 978-3-11-023797-9.
[1] 

In Antike und Moderne: Friedrich Schlegels Poetik, Philosophie und Lebenskunst (2011), der »leicht überarbeitete[n] Fassung« (Vorwort) von Dorit Messlins Dissertation, die in der von ihrem Betreuer Ernst Osterkamp und Werner Röcke begründeten de Gruyter-Reihe Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte erschienen ist, unternimmt die Autorin »eine umfassende Darstellung der Antikerezeption Friedrich Schlegels« (S. 36), um eine ihrer Auffassung nach bedeutende Lücke in der Frühromantik- und Friedrich-Schlegel-Forschung zu füllen. Die meisten Untersuchungen der romantischen Rezeption der Antike konzentrierten sich einseitig auf eine »dem Antike-Verständnis der Klassik entgegenstehende dunkle, hermetische Antike«, d.h. auf das »romantische Interesse an Mythologie und Mythisierung« (S. 42). Andere »Spezialuntersuchungen«, zu denen selbst Peter Szondis Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit gezählt wird, hätten nur vereinzelte »Bezüge und Zusammenhänge zwischen Altertumsstudien und frühromantischer Poetik herausgearbeitet« (S. 37 und ebd., Anm. 137).

[2] 

Messlins Studie richtet sich gegen die von ihr »angefochtene Auffassung eines Bruchs zwischen klassizistischer und frühromantischer Theoriebildung in Schlegels Werk« (S. 39), die sich »hartnäckig« halte und »hemmend« auf die Forschung gewirkt habe (S. 37). Von den drei Beispielen, die Messlin für diese Auffassung nennt, überzeugt allerdings nur eines: Martin Brücks Dissertation Antikerezeption und frühromantischer Poesiebegriff (1981). Der »angefochtene[n] Auffassung« setzt die Verf. eine »Analyse des systematischen Stellenwertes der Antikerezeption für die Theoriebildung in der frühromantischen Poetik« vor allem Friedrich Schlegels, des »theoretischen ›Kopf[es]‹ der Frühromantik«, entgegen (S. 20), sowie (besonders in Teil III ihrer Studie) eine »Erschließung der historiographischen, theologischen und philosophischen Bezüge auf das Altertum« in den Schriften Schlegels, die nach dem Ende seiner frühromantischen Periode (ca. 1797–1800) und seiner Wende zum Katholizismus und Konservatismus entstanden sind (S. 39–40; vgl. 3, 13). Den Schwerpunkt setzt Messlin auf die Funktion, die die Antike in Schlegels Begründung einer Ethik besitze, »welche sich als Lebenslehre im praktischen Sinn verstand« (S. 20).

[3] 

Der Messlins Ansicht nach überbetonte romantische Mythologie-Begriff (vgl. S. 350–363) sowie andere bekannte, auf die Antike zurückgehende frühromantische Konzepte Schlegels wie ›Ironie‹, ›Fragment‹ (vgl. S. 110, 325–328) oder ›Organ‹ bzw. ›Organisches‹ (vgl. S. 50, 383) erhalten relativ geringe Aufmerksamkeit. Tatsächlich ist die eigentlich frühromantische Phase Friedrich Schlegels weniger zentral für Messlins Studie als angekündigt. Positiv gewendet bedeutet dies, dass die Verf. eine Vielzahl von bisher wenig untersuchten Antikebezügen in Schlegels Werk im ideengeschichtlichen Kontext der Epoche darstellt.

[4] 

Messlins Darstellung von Friedrich Schlegels Antikerezeption wirkt insgesamt sehr allgemein und unmotiviert, wofür der große Umfang des Stoffes ein Grund sein mag, ein anderer, dass die Verf. die antiken Quellen nicht selbst zum Gegenstand ihrer Untersuchung macht. Eine Einbeziehung der Quellen hätte es ihr ermöglicht zu analysieren, wie genau Schlegel die Werke des Altertums versteht und verwendet und wie er sich darin von seinen Vorläufern und Zeitgenossen unterscheidet. Eine weitere Ursache für die Allgemeinheit von Messlins Bild der Antikerezeption Schlegels mag in dessen Schriften selbst liegen, die in großen Zügen argumentieren, damit allerdings dem Charakter der Altertumsstudien seiner Epoche entsprechen, wie Messlin zeigt. Tatsächlich erwähnt die Verf., dass Schlegel »in den seltensten Fällen [...] in Form detaillierter Textanalysen an die unterschiedlichen philosophischen Lehren des Altertums an[]knüpft« (S. 7). Dennoch besteht sie, sich auf Schlegels eigene Aussagen stützend, auf dem »wissenschaftlichen« (S. 9, vgl. 5) Charakter seiner Schriften, die sich von dem »dürren Rationalismus mit leerem Formelwesen« (S. 72) der meisten Antikestudien der Epoche positiv absetzten (vgl. S. 64–87).

[5] 

Messlins Dissertation gliedert sich in vier Teile: Die Einleitung (Teil I, S. 1–40) enthält generelle Aussagen zur Antikerezeption Friedrich Schlegels (und in geringerem Ausmaße August Wilhelm Schlegels); eine Darstellung des Inhalts, der Struktur und der Methode der Studie; eine Bestimmung des Begriffs der Frühromantik; und eine knappe Zusammenfassung des Forschungsstandes.

[6] 

Teil II (S. 41–169) präsentiert Friedrich Schlegels Antikerezeption vor allem an zwei Beispielen: an Platons und Aristoteles’ eidos-Begriffen und deren Rezeption und Verbreitung durch James Harris (1746–1820) (vgl. S. 44–63) sowie am Eudämonismus-Begriff von Aristoteles und dessen Adaption durch Jacobi (vgl. S. 94–144). Weiterhin erläutert Messlin Schlegels Auffassung der Philologie, Grammatik und Kritik (vgl. S. 64–93) im Kontext von Heyne und Wolf (vgl. S. 75) sowie Schlegels Antikestudien, insbesondere zur Geschichte der Weiblichkeit (vgl. S. 134–142) (im Kontext von Heinse) und zur attischen Komödie (vgl. S. 155–156) und Tragödie (vgl. S. 161–163) und deren politischen Implikationen.

[7] 

Der III. Teil (S. 170–285) konzentriert sich auf Friedrich Schlegels Orient-Studien, die anhand seiner zwischen 1803 und 1808 entstandenen Werke erläutert werden (vgl. S. 230, Anm. 12) und in den Kontext der Religionsphilosophien von Lessing, Bayle, Herder und Schelling gestellt werden. In diesem Teil formuliert Messlin die These, dass Schlegel in der indischen Religion die »Urreligion« gesucht, sich aber von ihr abgewendet habe, weil sie seiner Ansicht nach in einen monistischen und rationalistischen Pantheismus mündete (vgl. S. 203 f.; 250, 261, 267–273).

[8] 

Im IV. Teil (S. 286–391) beschreibt die Verf. die »Poetologische[n] Transformationen und Vermittlungen« (S. 286) von Schlegels Antikerezeption und konzentriert sich dabei auf die Poetik seiner frühromantischen Phase – genauer auf das dialogische Prinzip, die attische Komödie und Tragödie, Charakteristik und Kritik –, versucht aber, vor diese Periode reichende oder über sie hinaus weisende Zusammenhänge aufzuzeigen. Dabei nimmt Messlin einige zuvor dargestellte Aspekte von Schlegels Antikerezeption wieder auf: den eidos in Bezug auf die Kritik (vgl. S. 375–379), den Eudämonismus bzw. die Lebenskunst im Hinblick auf die Komödie (vgl. z.B. S. 315 f.) und die Orientalia im Kontext der Tragödie (vgl. S. 343).

[9] 

Methode: Eine widersprüchliche Darstellung von Widersprüchen

[10] 

Messlins Interesse an Schlegels Antikerezeption ist ein vorwiegend historisches, trotz einiger verstreuter Bemerkungen zur ethischen (vgl. S. 95–97, 297 f.), politischen (S. 124) und literaturwissenschaftlichen (S. 240) Aktualität seiner Werke. Die Verf. meint, dass die angeblich die Forschung dominierende Behauptung eines Gegensatzes zwischen Antike und Frühromantik zu einem »ungenauen Bild der Problemlagen frühromantischer Theoriebildung« in Literaturwissenschaft und Philosophiegeschichte geführt habe (S. 39). Die Philosophiegeschichte vernachlässige die Antikerezeption Schlegels, indem sie sich auf seine Auseinandersetzung mit Kants Transzendentalphilosophie und dem deutschen Idealismus konzentriere. Die Literaturwissenschaft betone zu oft das Irrationale von Schlegels Schriften und übersehe deren konzeptuelle Ursprünge in der Antike (vgl. S. 36–39).

[11] 

Messlin möchte Schlegels Gesamtwerk vor dem Urteil der Inkohärenz und Irrationalität in Schutz nehmen. Dafür spricht auch ihre Betonung der Wissenschaftlichkeit von Friedrich Schlegels Antikerezeption (vgl. S. 85 f.; 5) sowie der konsistenten Bedeutung der Antike für sein Werk (vgl. S. 3; 39 f.). Gleichzeitig hebt die Verf. den schöpferischen, poetischen Charakter (vgl. S. 15–17) und die »Heterogenität« von Friedrich Schlegels Antikebezügen hervor (vgl. S. 21) und erkennt eine »spezifische[] Widerspruchsstruktur in der frühromantischen Poetik« (ebd.) und im Schlegelschen Gesamtwerk (S. 29).

[12] 

Messlin findet das Ordnungsprinzip für ihre Untersuchung in eben dieser, im Folgenden sehr unspezifisch bleibenden und weit gefassten »Widerspruchsstruktur«, die »auf unterschiedlichen Ebenen und Themenfeldern dieses Diskurses [der frühromantischen Poetik, d.R.]« aufzuzeigen wäre und die »die Formen der Wahrnehmung, Aufnahme und Transformation der Antike [in Schlegels Werk, d.R.] bestimmt« habe (S. 21).

[13] 

Als Grund für die vielen Widersprüche bei Schlegel nennt Messlin das Schwanken der gesamten Epoche zwischen Vormoderne und Moderne und zwischen Moderne-Enthusiasmus und -Skepsis:

[14] 
Methodisch wird es darum gehen, eine Ambivalenz aufzuzeigen, die aus einer grundlegenden Antinomie erwächst, welche die Wahl zwischen unterschiedlichen Lebensformen erzwingt. Aufbau und Methode der Arbeit folgen dieser Aufgabenstellung. Sie beschreibt und untersucht die Antikerezeption Schlegels in der Struktur der konfligierenden Leitkonzepte von Freiheit und Lebenskunst (2. Teil) sowie Natur und Offenbarung (3. Teil), während im 4. Teil die in der Antike gespiegelten poetologischen Repräsentations- und Vermittlungsformen der analysierten Konfliktstruktur dargestellt werden. (S. 29)
[15] 

Widersprüche erkennt Messlin nicht nur in ihrem Gegenstand; auch ihre Methode werde davon geprägt: »das Strukturmuster des Widerspruchs« werde »zum methodischen Leitfaden wissenschaftlicher Heuristik« gemacht, »um die Rezeption und Transformation der Antike als Dynamik frühromantischer Theorieentwicklung zu untersuchen« (S. 29). Messlin meint damit offenbar nicht, dass ihre Methode selbst widersprüchlich ist, was jedoch zutrifft. Denn indem sie Verbindungen zwischen den Widerspruchsstrukturen verschiedener Werkkomplexe herzustellen versucht, übergeht die Verf. die Unterschiede und Widersprüche, die innerhalb und zwischen diesen Komplexen zu finden sind. Das Vorhaben, Schlegels Antikerezeption umfassend darzustellen, wird zudem vom Stil vieler seiner Schriften in Frage gestellt, die Messlin selbst als fragmentarisch, paradox und widersprüchlich charakterisiert (S. 25, 29, 183, 292).

[16] 

Weiterhin beruht die von Messlin behauptete Kontinuität in der Schlegelschen Auffassung und Adaption der Antike häufig auf Fehllektüren. Um die Konsistenz Friedrich Schlegels Platonrezeption zu beweisen und ihre Entscheidung zu begründen, Schlegels eigene »Philosophie des Dialogs« mit Hilfe von »heterogenen Texten«, also quasi dialogisch, zu rekonstruieren, führt Messlin eine Stelle aus dessen Philosophie des Lebens (1827/1828) an, in der sie die Behauptung entdeckt, Schlegel habe sich stets und sogar in der Hauptsache mit der »literarische[n] Form des philosophischen Dialogs« beschäftigt (S. 288).

[17] 

Beim Nachlesen in Messlins Quelle wird jedoch deutlich, dass Schlegel hier nicht von der dialogischen Form der Platonischen Philosophie spricht, sondern von deren Thesen und Argumenten (vgl. KA X, S. 179 f.). 1 Außerdem erklärt Schlegel, eher den Monolog anpreisend, er »glaube« nun »an denjenigen Punkt gelangt zu sein, wo ich diese in Gott gegründete Einheit des Wissens und des Glaubens, nachdem ich sie für mich gewonnen habe, nun auch andern mitzuteilen und öffentlich für die Welt hinzustellen und zu entwickeln wünschte« (KA X, S. 180). – Die Bedeutung des Tragischen für Schlegels Spätwerk belegt Messlin mit einem Zitat, das sich nicht, wie sie behauptet, auf die antike Tragödie, sondern auf die Sokratische Ironie bezieht, die im Übrigen ganz untragisch interpretiert wird (vgl. S. 341; vgl. KA X, S. 352).

[18] 

Durch die Betonung von – oft zweifelhaften – Zusammenhängen in Schlegels Werk vernachlässigt Messlin dessen Entwicklungen und Veränderungen. Dies spiegelt sich auch in ihrer Entscheidung wider, bei den meisten Zitaten aus der Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe nicht zu erwähnen, um welchen Text es sich handelt und wann er ungefähr entstanden ist. Quellenangaben beschränken sich in der Regel auf Bandnummern und Seitenzahlen. Zudem macht die Verf. ungenaue und sogar gegensätzliche Aussagen über die Phasen von Schlegels intellektueller Entwicklung (vgl. z.B. S. 23, Anm. 82 und S. 229; 170–172).

[19] 

Auf die Forderung an Literaturwissenschaftler, ihre Herangehensweisen theoretisch und wissenschaftlich zu begründen, reagiert Messlin mit der Erklärung, ihr Verfahren sei eine Kombination von Bourdieus Feldtheorie mit der (auf Dieter Henrich zurückgehenden) Konstellationsforschung, die möglich werde, da für beide Ansätze »die Idee eines progressiven Widerspruchs« leitend sei (S. 34).

[20] 

Die Feldtheorie erlaube es, die Spannungen zwischen der literarischen Produktion und Theoriebildung und ihrem sozialen Umfeld darzustellen. In Bezug auf Schlegel erkennt Messlin einen Widerspruch zwischen den »relativ autonomen Feldern künstlerischer und intellektueller Produktion« einerseits und den sozialen und ökonomischen Sachzwängen andererseits, die auf diese Produktion eingewirkt und sie beschränkt hätten (S. 31). Diesen zu erkennen könne helfen, Schlegels Wende von der ironischen »freien, liberalen Lebenskunst«, die ihn zunehmend in die »soziale[] Isolation und Ungeschütztheit« geführt habe, zur »Suche nach religiöser Einheit« in seinen Orientalia, sowie seine 1808 erfolgte Konversion zum Katholizismus zu erklären (S. 32 f.; vgl. 31). Denn die Strukturen des sozialen Feldes bildeten sich im Werk ab (ebd.); umgekehrt ließen sich aus diesem Schlüsse auf die »Position [des Autors, d.R.] im Feld« ziehen (S. 33 f.).

[21] 

Bourdieu zitierend und paraphrasierend, setzt Messlin dessen Feldtheorie kritisch von der Diskursanalyse und dem Strukturalismus ab, die »oftmals das literarische Werk der Theorie unterordnen und zu pauschalen Verallgemeinerungen neigen« und die »Akteure künstlerischer oder literarischer Diskurse zum Verschwinden bringe[n]« (S. 34 und ebd., Amm. 122). Leider nennt Messlin keine exemplarischen Studien über Friedrich Schlegel oder die Frühromantik, um diese Einschätzung der Diskursanalyse und des Strukturalismus zu untermauern.

[22] 

Während der Feldbegriff Messlin zur Analyse von Schlegels Antikerezeption in ihrem sozialen Kontext dient, verwendet sie das Konzept der Konstellation offenbar zur näheren Beschreibung der Struktur seines Werkes (vgl. S. 34). Der Konstellationsbegriff wird jedoch im Folgenden nicht mehr genannt, und es ist fraglich, ob er Messlins Herangehensweise angemessen charakterisiert. Denn im von Henrich entwickelten Sinne ist Konstellationsforschung eine Art von Philosophiegeschichte, die sich den »relationalen Gefügen von Personen, Theorien, Problemen und Dokumenten [widmet], aus denen heraus kreative Prozesse des Denkens erschließbar werden«. 2 Zugleich zielt Konstellationsforschung »auf die Sachfragen selbst«, was ihr den Charakter einer »Argumentanalyse« verleiht. Messlins Dissertation ist demzufolge eher der Literatur- und Ideengeschichte zuzuordnen; denn sie beschreibt »thematische Werkzusammenhänge« (S. 288) eines einzigen Autors (an den Zeitgenossen interessiert nur ihr Einfluss auf Schlegels Werk), und Argumentanalysen sind kaum zu finden.

[23] 

eidos als Ursprung »alle[r] Arten von Begriffen« (S. 377)

[24] 

Friedrich Schlegels Antikerezeption ist laut Messlin von einem »Wechselspiel aus Nähe und Distanz« geprägt und zielt damit auf die »Transformation« (S. 19) und »Wiederbelebung« der Antike im Kontrast zur Nachahmung, die dem französischen Klassizismus vorgeworfen wird (S. 14–15). Die Verf. konzentriert sich im Folgenden jedoch mehr auf die Nähe zwischen Schlegels Werk und der Antike als auf die Distanz, und damit eher auf die Nachahmung der Antike durch Schlegel als auf deren Wiederbelebung und Transformation.

[25] 

Im II. Teil ihrer Arbeit versucht die Verf. zu zeigen, dass James Harris’ Rezeption des antiken eidos-Begriffs und seine darauf aufbauende Universalgrammatik für Friedrich Schlegels »hermeneutische[] und kritische[] Methodik« (S. 49), ja sogar für seine gesamte Philosophie, Poetik und Ethik (vgl. S. 56–63) wesentlich waren. Die Bedeutung von Harris für Schlegel lasse sich insbesondere »an einer spezifischen Synthese von platonischer und aristotelischer Philosophie ablesen, die in dieser Form sonst nur bei Harris vorkommt« (S. 49). Genauer handle es sich »um eine Amalgamierung der platonischen und aristotelischen eidos-Problematik durch die synthetisierende Verbindung des transzendenten eidos bei Platon – der Idee – mit dem immanenten eidos der inneren Form bei Aristoteles« (ebd.).

[26] 

Eine solche »Amalgamierung« könne Harris vollziehen, weil den eidos-Begriffen von Platon und Aristoteles »die gleiche Problemstruktur zugrunde« liege, »die für das Denken der griechischen Philosophie insgesamt prägend« sei, nämlich die »logische Crux einer versuchten Vereinbarung von Sein und Werden, die ihrerseits aus der Grundunterscheidung zwischen Intellektual- und Sinnenwelt« folge (ebd.). Damit sei die »eidos-Problematik [...] charakterisiert durch eine theoretisch sehr explorative Grundspannung, die nach dem ›Prinzip gegensätzlicher Differenzierung‹ die Wirklichkeit in Gegensätzen nach grundlegenden Seinskategorien wie Identität und Verschiedenheit, Bewegung und Stillstand, Einheit und Vielheit strukturiert« (S. 50).

[27] 

Die Mehrzahl der Erwähnungen Harris’, die sich in Friedrich Schlegels Fragmenten zur Sprache und Literatur und zur Philosophie finden, sind kritisch; eines lobt ihn allerdings als »bedeutende[n] Philologen« (KA XVI, S. 55 [229]). Messlin nennt – soweit die Rezensentin dies überblickt – neben dieser positiven Wertung (vgl. S. 84, Anm. 99) nur noch zwei weitere (vgl. S. 61, Anm. 74; S. 73, Anm. 52) als direkten Beleg für Schlegels positive Rezeption von Harris’ Werk.

[28] 

Zwar erkennt auch die Verf. in der »Literaturtheorie der beiden Schlegel-Brüder« nur »Spuren« einer »Harris-Lektüre« (S. 47), betrachtet diese aber als Zeichen einer intensiven Auseinandersetzung mit dessen Antikerezeption. Zum Beweis verweist Messlin u.a. auf Friedrich Schlegels Erklärung: »Meine Philosophie ist vielleicht nichts andres als eine Vereinigung des Aristoteles mit dem Plato.« (KA XIX, S. 188 [286]; Messlin, S. 53) Sie liefert jedoch keine überzeugende Begründung dafür, dass Schlegel die Idee einer solchen Vereinigung Harris verdankt, noch dafür, dass dieser Gedanke »in dieser Form sonst nur bei Harris« vorkommt (S. 49).

[29] 

Messlin nennt vier »Anwendungskontexte« bei Schlegel, die sich auf Harris’ eidos-Verständnis zurückführen ließen: 1. Wissenschaftstheorie, 2. Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft, 3. Kunsttheorie und 4. Moralphilosophie (vgl. S. 56–63). Im ersten Kontext erkennt die Verf. den auf den eidos-Begriff zurückgehenden Grammatikbegriff Harris’ wieder (vgl. S. 53); in den anderen drei Kontexten sieht sie vor allem den Einfluss des »energetischen Wirkungsbegriffs des aristotelischen eidos« (S. 61), den Harris bekannt gemacht habe (vgl. S. 59–63).

[30] 

Die Konstruktion der Bezüge zwischen Harris’ und Schlegels Antikerezeption hat eine Reihe von Schwächen: Die sogenannte eidos-Problematik und ihre versuchte Lösung vermittels einer Synthese von Platon und Aristoteles wird 1. sehr allgemein dargestellt, hat 2. historisch weit zurückreichende Wurzeln (Messlin selbst erwähnt Parmenides und Heraklit [vgl. S. 51 f.]) und ihr werden 3. äußerst weite Verwendungskontexte in Schlegels Werk zugeordnet. Daher ist es schwer nachzuvollziehen, warum und wie genau Schlegels Philosophie und Poetik auf den eidos-Begriff bei Harris und auf davon abgeleitete Konzepte aufbauen.

[31] 

Tatsächlich zitiert Messlin im Abschnitt »Sprachphilosophie/Sprachwissenschaft« (S. 57–60) zum Beleg für Harris’ angeblich aristotelische Auffassung von Bildung als Selbsttätigkeit eine Analogie (»Wissenschaftliche Bildung [...] lasse sich nicht in den Verstand wie Wasser in ein Gefäß eingießen«; S. 58), die Sokrates in ähnlicher Form in Platons Symposion (175d) zieht, womit er auf seine eigene, dem ›Eingießen‹ entgegen gesetzte, maieutische und dialogische Methode der Philosophie verweist.

[32] 

Weiterhin führt Messlin die Gegensatzpaare, die den eidos strukturierten, wie Einheit/Vielheit, Intellektualwelt/Sinnenwelt, Identität/Verschiedenheit oder Bewegung/Stillstand, in den übrigen Teilen ihrer Studie auf andere Wurzeln zurück. So verdanken sich der »Dualismus« Intellektualwelt/Sinnenwelt und die gesamte »frühromantische Philosophie des Widerspruchs« laut Teil III einer Rezeption der gnostischen Lehre der zwei Prinzipien (S. 183; vgl. 181) – einer Lehre, die ihrerseits mit dem »Dualismus der klassischen Tragödie«, dem Konflikt zwischen Freiheit und Natur, in Verbindung stehe (S. 343; vgl. 251). In ihrer Darstellung von Schlegels Begriffen der Charakteristik und Kritik erklärt Messlin dann allerdings, für Schlegel gingen »[a]lle Arten von Begriffen [...] aus den beiden ›Urbegriffen‹ [der Einheit und der Fülle, d.R.] der eidos-Figur hervor« (S. 377), so dass sie auf diese Weise vielleicht implizit auch eine Verbindung zu Schlegels Gnosis- und Tragödienrezeption hergestellt sieht.

[33] 

Eudämonismus

[34] 

Mit ihrer Darstellung des Eudämonismus bzw. der Lebenskunst bei Friedrich Schlegel möchte Messlin der Vernachlässigung dieses Themas in der »wissenschaftlichen Erforschung des 18. Jahrhunderts« (S. 94 f.) und speziell der Frühromantik (S. 98) entgegenwirken. Allerdings erkennt sie »in den Ethik-Diskursen der Gegenwart« ein wachsendes Interesse an den »zahlreichen Glückseligkeitslehren und Lebenskunstphilosophien des 18. Jahrhunderts«, das sie durch ein verstärktes »Unbehagen an der Moderne« erklärt (S. 95 f.). Wie in Schlegels Epoche hätten die Menschen heute den Wunsch, eine Ethik zu leben, die auf individuelle Freiheit gegründet ist, zugleich aber dem »Verfall sozialer Bindungskräfte in einer sich partikularisierenden Gesellschaft« entgegenwirkt (S. 97).

[35] 

Vorbilder der Lebenskunst fände das 18. Jahrhundert bei Sokrates, Platon, Aristoteles und Plotin (vgl. S. 96 f.). Auch Friedrich Schlegel beziehe sich in seinem Frühwerk, auf das sich Messlin konzentriert, auf zahlreiche Philosophien der Antike, und zwar in einer »stark experimentellen« Weise, indem er in seinen Texten »die prinzipielle Untrennbarkeit künstlerischer und lebensphilosophischer Reflexion« inszeniere. (S. 100)

[36] 

Messlin beschreibt Schlegels Auffassung der Lebenskunst anhand von vier seiner Werke bzw. Werkkomplexe: 1. der Rezension von Jacobis Roman Woldemar (1796), 2. der Studien zur griechischen Weiblichkeit (1795 f.) und des Romans Lucinde (1800), sowie 3. des »Versuchs über den Begriff des Republikanismus« (1997) (vgl. S. 111–169). In allen vier Werkkomplexen, die die ethischen, »sinnlichen« (S. 131) und politischen Aspekte der Lebenskunst thematisierten, gehe es Schlegel – ähnlich wie in der »eidos-Problematik« (S. 45) – darum, zwischen Gegensätzen zu vermitteln.

[37] 

• 1. In Schlegels Kritik des Woldemar (1779) erkennt Messlin ein Lob der von Jacobis Helden propagierten, aber vom Erzähler verleugneten, aristotelischen energetischen Ethikkonzeption als eines Strebens nach Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit (vgl. S. 113–121), das zwischen Freiheit und Gemeinschaft bzw. Vielheit und Einheit vermittle (S. 123).

[38] 

• 2. Schlegels Studien zur griechischen Weiblichkeit und seinen Roman Lucinde liest die Verf. als Forderung nach einem Recht auf aristotelische Selbstverwirklichung für alle Menschen (vgl. S. 126, 129) und nach einer Vermittlung zwischen Vernunft und Gefühl, Liebe und Erotik (S. 143).

[39] 

• 3. Im Republikanismus-Essay entwickle Schlegel »[m]it Aristoteles« Begriffe von »Gemeinsinn im Sinne von sprachlich geteilten Bedeutungen« und von sozialer Gerechtigkeit und Demokratie (S. 164 f.). Auch der »frühromantische Kosmopolitismus gebildeter Urbanität« sei auf Aristoteles’ Rhetorik zurückzuführen (S. 165, vgl. 125).

[40] 

Die Quellen von Schlegels Eudämonismus sind so zahlreich und unterschiedlich, wie Messlin im obigen Zitat selbst erklärt (S. 100), und die von ihr beschriebene Lebenskunst erscheint so allgemein, dass oft schwer nachzuvollziehen ist, warum sich diese Lebenskunst insbesondere Aristoteles’ Schriften (und deren Rezeption) verdanken soll. So findet Schlegel z.B. in den Athenaeums-Fragmenten »die ewigen Urquellen der Urbanität« in Horaz’ Satiren (KA II, S. 188, [146]) und erwähnt als weitere Quellen Homer (vgl. ebd., S. 203 [231]), Platon (ebd., S. 253 [438]) und Cicero (ebd., S. 188 [152]), und er bringt sie in Verbindung mit einer an Sokrates erinnernden Form von Ironie (ebd., S. 251 [431]).

[41] 

Messlin unterlässt in der Eudämonismus-Diskussion wie auch sonst eine kritische Evaluation von Schlegels Werk. Die gut begründete literaturwissenschaftliche Kritik an seiner Vorstellung weiblicher Emanzipation nennt die Verf. schlicht »[in historischer Perspektive] ungerecht« (S. 142, Anm. 326). Außerdem übersieht Messlin in ihrem Bemühen, Schlegels Schriften einerseits in klar unterscheidbare Phasen einzuteilen und andererseits die Kontinuität seiner Antikerezeption nachzuweisen, die Grenzen seines Republikanismus aus der »Zeit vor 1800« (S. 125). So zeigt sich Schlegel im Republikanismus-Essay keineswegs »als Verfechter einer unmittelbaren Demokratie« (S. 158), sondern hält die »politische Repräsentation« für ein »unentbehrliches Organ des Republikanismus« (KA VII, S. 17) und erkennt sogar in einer transitorischen Diktatur noch eine »republikanische [...] Form« (ebd., S. 14). Zum anderen finden sich bereits in Schlegels frühromantischen Schriften Hinweise auf eine Kritik am Republikanismus, wie in den 1798 publizierten »Athenaeums-Fragmenten«, wo es heißt, die »vollkommne Republik müßte nicht bloß demokratisch, sondern zugleich auch aristokratisch und monarchisch sein« (KA II, S. 198, [214]).

[42] 

Fazit

[43] 

Messlin hat in ihrer Dissertation, die ohne Konklusion endet (vgl. S. 389), eine extensive, wenn auch selektive Darstellung der Antikerezeption Friedrich Schlegels vorgelegt, die den Umfang, die Konsistenz und die Komplexität dieser Rezeption zeigt und damit die bestehende Forschungsliteratur zum Thema ergänzt. Dabei kommen allerdings die Transformation der Antike durch Schlegel und die historische Entwicklung und Veränderung seiner Antikeauffassungen zu kurz.

[44] 

Die behaupteten Kontinuitäten in Schlegels Antikerezeption beruhen in mehreren Fällen auf Fehllektüren. Die Identifizierung seiner antiken Quellen ist in vielen Fällen schwach begründet, was in Anbetracht des Schlegelschen Eklektizismus und Essayismus vielleicht unvermeidlich ist. Schließlich verliert die Verf. den erklären Fokus ihrer Studie auf Schlegels Ethik und »Lebenslehre im praktischen Sinn« (vgl. S. 7, 20) des Öfteren aus dem Blick.

[45] 

Aus diesen unterschiedlichen Gründen sind Messlins Einsichten in Schlegels Werk begrenzt. Zudem ist die Originalität ihrer Einsichten insgesamt schwer zu erkennen; denn die Verf. macht nicht deutlich, was sie zur bestehenden Forschung im Einzelnen beiträgt und setzt sich kaum mit deren Erkenntnissen auseinander. Messlins Textanalyse und -interpretation sind schließlich so flüchtig, dass schwer eine differenzierte und kritische Darstellung von Schlegels Werk entstehen kann.

[46] 

Welchen Wert hat Messlins Dissertation dann für die Friedrich-Schlegel- und die Romantikforschung oder für das Studium der deutschen und europäischen Antikerezeption um 1800? 1. Sie stellt die Konzentration der Schlegelforschung auf den zeitgenössischen philosophischen Kontext (insbes. Kant, Fichte und Schelling) in Frage und fordert dazu auf, diesen Kontext um die Antike und ihre Erforschung im 18. Jahrhunderts zu erweitern. 2. Sie unternimmt eine solche erweiterte Schlegelforschung und gibt zahlreiche Hinweise für Folgeuntersuchungen. Solche Folgeuntersuchungen sollten allerdings noch genauer erklären, auf welche Weise eine Untersuchung von Schlegels Antikenrezeption die bestehenden Auffassungen seiner Werke modifiziert oder bereichert.

 
 

Anmerkungen

Mit der Sigle »KA« wird im Folgenden zitiert: Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe seiner Werke. Hg. von Ernst Behler u.a. Paderborn, München, Wien 1958 ff.    zurück
C. Möllman, Rezension zu: Mulsow, M.; Stamm, M. (Hrsg.): Konstellationsforschung. Frankfurt/Main 2005, in: H-Soz-Kult, 20.03.2006, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-7901>    zurück