IASLonline

Die Schule bei St. Thomas Leipzig - eine exemplarische Studie zum leistungsfähigsten Chor Deutschlands und der ihn tragenden Lateinschule.

  • Michael Maul: Dero berühmbter Chor. Die Leipziger Thomasschule und ihre Kantoren 1212-1804. Leipzig: Mark Lehmstedt 2012. 434 S. Gebunden. EUR (D) 29,90.
    ISBN: 978-3-942473-24-8.
[1] 

Michael Maul, als renommierter Bachforscher und Mitarbeiter am Leipziger Bacharchiv prädestiniert zu diesem Werk, legt eine grundlegende Darstellung vor, die aus ungemein reichen Quellen schöpft. Sie erscheint rechtzeitig zum 800jährigen Jubiläum der Schule bei St. Thomas und ihres Chores. Jedoch wird sie nicht nur Chorbegeisterte interessieren; keiner, der sich mit der Geschichte Leipzigs beschäftigt, wird auf dieses umfassende Buch verzichten können. Die Schule und ihre Kantoren sind so eng verwoben mit der Stadtgeschichte, dass man über diese sehr viel erfährt. Nur ein Autor, der in diesem Metier absolut zuhause ist, konnte solch eine Darstellung schreiben. Kommunale Haushaltsfragen, religiöse Einstellung der Stadtregierung, schöngeistige oder karitative Orientierung ihrer Mitglieder, Vetternwirtschaft, Patenschaften, Requirierung von »Drittmitteln« und ihre Verteilung, prozentualer Anteil der auswärtigen Singknaben, Bedürftigkeit bei Lehrern und Schülern und Versuche, diese zu beheben – Maul blättert das Buch der Vergangenheit auf, als ob er dabei gewesen wäre.

[2] 

Schule und Chor

[3] 

Trotz des streng historischen Themas, trotz einer Materie, die trocken zu sein scheint, gelingt es Maul, ein geradezu spannendes Buch zu schreiben. Indem er den Leser durch die Epochen führt, beginnend mit dem frühen 13. Jahrhundert, stellt er ihm lebhaft vor Augen, was die Thomana an Höhen und Tiefen erlebte. Schule und Chor waren die längste Zeit ihrer Geschichte nicht identisch: Die Schule besuchten auch die bedürftigen Kinder der Stadt, während der Chor, die Alumni im Internat, Knaben aus dem weiteren Umkreis anzog, die sich einer Überprüfung ihrer Musikalität unterziehen mussten. So jedenfalls wünschten es sich die Kantoren, doch hatten nicht immer sie das letzte Wort. Genussvoll breitet Maul die wiederkehrenden Rangeleien aus, die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Schule und städtischer Obrigkeit, zwischen Rektor und Kantor, zwischen den Lehrern der unteren und oberen Klassen. Auch (und vielleicht gerade) musikalische Genies hatten ihre Ecken und Kanten. Es war keineswegs vorgezeichnet und klar, dass die Thomaner sich über die Jahrhunderte zu dem entwickeln würden, was sie heute sind. Immer wieder gab es Versuche, sie zu einer normalen Schule zurückzustutzen, übrigens mit durchaus nachvollziehbaren Gründen. Ausgerechnet zur Zeit Johann Sebastian Bachs waren diese Bestrebungen besonders deutlich spürbar.

[4] 

Immer wieder in Frage gestellt: Überleben durch Stiftungen

[5] 

Auf die Frage, was den Thomanerchor alle Fährnisse überstehen ließ, seine Qualität bewahrten half und ihn zu seiner heutigen Berühmtheit führte, gibt Maul eine neue und unerwartete Antwort: die Spendenbereitschaft der Leipziger Bürger. Die frappierendste Aufstellung in den 434 Seiten dieses Buches ist wohl die über die Stiftungen (S. 38). Eine zum Teil anrührende Bereitwilligkeit der Leipziger, ihren Thomanerchor am Leben zu erhalten, ermöglichte es, die Schule gegen alle Widerstände als Musikschule zu führen. Das Stadtsäckel allein wäre nicht in der Lage gewesen, 54 Singknaben, die weitaus meisten von ihnen keine Leipziger Bürgerkinder, durchzufüttern und ihre Lehrer zu besolden. Freilich konnten diese Stiftungen mitunter auch gegen das musikalische Alumnat gerichtet sein: Die armen Schüler, die benachteiligt neben den Alumnen herliefen, erregten zu Recht das Mitleid der Bürger, so dass sich die Sympathie zeitweilig ihnen zu- und von den privilegierten Sängern abwandte.

[6] 

Die Berufungspraxis der Kantoren

[7] 

Die Berufungen der Kantoren stellen – im Ganzen gesehen – eine Erfolgsgeschichte dar. Gemäß der gewöhnlichen schulischen Rangordnung war der Kantor zwar als Lehrer dritter Klasse (Tertius) nur ein schwach besoldeter und mäßig angesehener Kollege. Dies führte dazu, dass andere Schulen lediglich kleinere Geister als Kantoren berufen konnten, die sich so rasch wie möglich auf besser bezahlte Schul- oder Pfarrämter bewarben und dass die Rektoren in musikalischen Belangen lieber mit den städtischen Organisten zusammenarbeiteten (Zittau, Stralsund u.a.). In Leipzig aber zogen die relativ guten Einnahmen und die Qualität des Chores über die Jahrhunderte Spitzenmusiker an. Selbst als der Stadtrat bewusst vermied, einen herausragenden Chorleiter zu holen, entwickelte sich dieser unter den Herausforderungen des Amtes zu einer bestimmenden Persönlichkeit.

[8] 

Die Geschichte der Vokationen und der damit verbundenen Intrigen hat Maul breit dargelegt. Für einen Bachforscher mag es selbstverständlich sein, dass der Kandidat auf das Kantorenamt eine Probe ablegen musste. Wohl deshalb erwähnt Maul erstmals für das Jahr 1755 anlässlich der Bestallung des neuen Kantors Johann Friedrich Doles, dass dieser »keine Probe seiner Kunst abzulegen brauchte« (S. 266). Leider ist weder von Probestücken noch von den Prüfungen seiner Vorgänger und Nachfolger die Rede. Nun hätte gerade ein »möglichst breites Publikum«, wie es das vorliegende Buch ansprechen will (S. 10), sich für den Umfang und die Beschaffenheit dieser Proben interessiert.

[9] 

Deutschlands leistungsfähigster Chor – und die Rolle der Universität

[10] 

Die Thomaner waren bis ins 20. Jahrhundert der stärkste Knabenchor im deutschsprachigen Gebiet, sowohl was die Leistungsfähigkeit als auch was die personelle Ausstattung anbetrifft. Mit 54 Mitgliedern, selbst wenn in manchen Zeiten (wegen Nachlässigkeit in der Vorauswahl) nicht alle dieser Schüler einsatzfähig waren, übertrafen sie sowohl die Wiener Sängerknaben (die ehemalige Hofkapelle) als auch den Knabenchor bei St. Stephan in Wien bei weitem. In keiner Weise konkurrieren konnte die Praebende in Regensburg, die sich erst im 19. Jahrhundert zu den berühmten Domspatzen entwickelte. Alle diese Chöre waren Knabenchöre und wurden durch professionelle, d.h. bezahlte Alt-, Tenor- und Baß-Stimmen ergänzt. Männerstimmen stellten in sämtlichen Schulchören ein Problem dar, da die Knaben damals erst sehr spät in den Stimmbruch kamen. Manche durchaus leistungsfähige Schulchöre beschränkten sich daher ganz auf Oberstimmen. Leider wird das durchaus interessante Problem, wie die Leipziger ihren Knabenchor zu einem gemischten Chor aufstockten, bei Maul nicht systematisch behandelt. Wenn die Knaben mit 12 bis 14 Jahren ins Alumnat eintraten und durchschnittlich sechs Jahre verblieben, so konnten sie erst ganz zu Ende ihrer Schulzeit als Männerstimmen herangezogen werden. Vermutlich gehört im Bacharchiv all dies zum selbstverständlichen Wissen. Doch der neugierige Leser erfährt erstmals auf S. 124 (und dann immer öfter), dass man externe Männerstimmen mit heranzog und sie besoldete. Dies wird wohl auch in früheren Jahrhunderten nicht anders gewesen sein. Für dieses Problem erwies sich die Universität mit ihrem Fundus an musikalischen Studenten als Lösung. So dürfte die Ausgewogenheit der Chorbesetzung, v.a. aber auch die Qualität des mit den Vokalisten spielenden Orchesters nicht zuletzt auch der Alma mater zu danken sein.

[11] 

Widersprüche in den Einschätzungen

[12] 

Die Klage über den schlechten Zustand des Chores scheint fast so alt zu sein wie der Chor selbst. Freilich hat es den Anschein, dass vornehmlich die Kantoren selbst diese Klage äußerten, während andere Stimmen sich nicht genug tun konnten, den Chor zu loben. Besonders eklatant sind die Widersprüche, was das Kantorat von Doles betrifft. Dieser beschreibt in einer Eingabe, im ersten, d.i. dem besten Chor gäbe es gerade noch acht leidliche Sänger und der Zustand würde sich »täglich noch verschlimmern« (S. 287). Johann Adam Hiller findet die Instrumentalmusik, die er von seinem Vorgänger Doles übernahm, deplorabel (S. 292), schon Doles hatte sich über sie beschwert (S. 287). Wie kommt es aber dann, dass Johann Friedrich Rochlitz (S. 271 f., 319), ja selbst W. A. Mozart (S. 270) von einem hervorragenden Chor schwärmten? Liegt hier Kalkül auf Seite der Chorleiter und verklärender Rückblick oder Höflichkeit auf Seite der ehemaligen Schüler (Rochlitz) oder auswärtigen Zuhörer vor? Nachdem sich die Dokumente widersprechen, hätte man gern eine Erläuterung gelesen.

[13] 

Überhaupt wünscht man sich für eine Neuauflage einen stärkeren Anteil der Kommentare. Maul ist ein großer Freund von ausführlichen Zitaten. Er genießt es offenbar, dem Leser die bilderreiche und originelle Sprache seiner Quellen vorzustellen. Das Anekdotische dieser Schulgeschichte kann manchmal sehr amüsant sein. Für ein »breites Publikum« aber wird die Lektüre von bis zu zweiseitigen Zitaten mit ihren langen, von schwer verständlichen Wörtern und ungewohnten Komplimenten aufgeschwemmten Sätzen auch bisweilen mühsam. Da man die Quellen in Kürze in einer Dokumentensammlung nachlesen kann, 1 hätte man sich hier mehr Ökonomie gewünscht.

[14] 

Fazit

[15] 

Diese kleinen Kritikpunkte können den Wert der vorliegenden Sammlung nicht schmälern. Erstmals wurde hier eine fundierte und umfassende Darstellung vorgelegt, nicht nur zur Thomana, sondern zur städtischen Musikgeschichte, über weite Strecken zur Stadtgeschichte Leipzigs überhaupt. Sie liest sich wie ein Gegenentwurf zu der großen alten, zwar gelehrten und materialreichen, aber oft belegarmen Musikgeschichte Leipzigs von Arnold Schering. 2 Der Stadt, ihrem berühmten Chor und ihren Kantoren macht sie alle Ehre. Eine große Zahl von Abbildungen trägt dazu bei, dass man dieses Buch gern in die Hand nimmt.

 
 

Anmerkungen

Dokumente zur Geschichte des Thomaskantorats. 1. Bd. Hg. v. Michael Maul. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. Erscheint 2014.   zurück
Arnold Schering/Rudolf Wustmann: Musikgeschichte Leipzigs. 3 Bde. Leipzig 1926–41, ND Leipzig: Zentralantiquariat der DDR 1974.   zurück