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Neue Perspektiven auf den »ethical turn«

  • Alexandra Böhm / Antje Kley / Mark Schönleben (Hg.): Ethik - Anerkennung - Gerechtigkeit. Philosophische, literarische und gesellschaftliche Perspektiven. München: Wilhelm Fink 2011. 422 S. Kartoniert. EUR (D) 49,90.
    ISBN: 978-3-7705-5053-1.
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Der hier besprochene Band belegt eindrucksvoll das in der gegenwärtigen geisteswissenschaftlichen Forschung immer noch zunehmende Interesse an ethischen Fragestellungen, wofür die Buchreihe »Ethik – Text – Kultur«, als deren sechste die vorliegende Einzelpublikation erschienen ist, insgesamt als repräsentativ gelten kann. 1 Hervorgegangen ist die in drei Teile gegliederte Sammlung von Aufsätzen aus der 8. Internationalen und Interdisziplinären Graduiertenkonferenz »Ethik und/ oder Gerechtigkeit nach der Postmoderne – Revisionen der Medien, Politik und Künste im 21. Jahrhundert«, die im Jahr 2007 an der Universität Erlangen stattfand. Das inhaltliche Profil des Bandes zeichnet sich insgesamt dadurch aus, dass hier in programmatischer Weise philosophische, literaturwissenschaftliche und filmwissenschaftliche Perspektiven zusammengeführt und somit ethische Reflexionen aus verschiedenen disziplinären Sichtweisen gegeneinander gestellt werden. Die hieraus resultierende Dichte muss zweifellos als Stärke des vorliegenden Bandes betrachtet werden.

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I. Der Begriff der Ethik als Grundlegung:

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In der Einleitung, in der die drei HerausgeberInnen die Fragestellungen des Bandes erläutern, wird der Begriff »Ethik« als gedankliches Feld und theoretischer Fokus bestimmt, der ein Problembewusstsein erzeugen und – gerade in dieser offenen Form – als Grundbegriff verstanden werden soll, auf den die Auseinandersetzung mit den Konzepten von Anerkennung und Gerechtigkeit zu beziehen ist. Innerhalb des durch den »ethical turn« nachhaltig eröffneten Feldes will der Band vor allem drei Fragen fokussieren: »wie wird das Subjekt der Ethik gegenwärtig konzipiert? Wie können gerechte Gemeinschaften beschrieben und vorgestellt werden? Wie kann die Anerkennung des Anderen gelingen, was verhindert sie und welche Konsequenzen ergeben sich daraus?« (S. 13)

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Im Zentrum aller drei Reflexionsbereiche steht dabei die Frage nach dem Subjekt; gerade auch für gegenwärtige Gerechtigkeitskonzeptionen spiele die Problematisierung des als autonom gedachten Subjekts insofern eine zentrale Rolle, als die Idee der Gerechtigkeit traditionellerweise auf einer Politik der Identität basiert, die gleiche Rechte nur für »gleiche« Subjekte vorsieht. Im Gegensatz dazu versammeln die HerausgeberInnen überzeugend eine Reihe von theoretischen Positionen, die, ausgehend von einem Bemühen um Anerkennung von Differenz, das Subjekt nur mehr als konstitutiv relational bestimmen und folglich seine Fragilität (Butler), seine Abhängigkeit von anderen (Honneth, Taylor) oder sein Eingebundensein in eine geteilte Welt (Irigaray) fokussieren.

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In Hinblick auf das durchaus vielschichtige Verhältnis von Gerechtigkeit und Anerkennung schlagen die HerausgeberInnen vor – aufgrund der divergenten Begründungslogiken verschiedener Gerechtigkeitsvorstellungen –, die Frage nach Gerechtigkeit mithilfe der »Philosophie der Anerkennung« neu zu perspektivieren. Insofern verstehen sie diese als Antwort auf die »Aporie der Inkommensurabilität unterschiedlicher Gerechtigkeitsmodelle« (S. 19). Die damit implizierte Verlagerung ethischer Überlegungen von der Gerechtigkeit zur Problematik von Anerkennung zeigt sich auch innerhalb der folgenden Aufsätze, von denen sich nur drei im engeren Sinne mit dem Thema Gerechtigkeit befassen. Diese Fokussierung auf »Ethik« und »Anerkennung« erklärt möglicherweise, wieso sich weder in dem Vorwort noch in einem der Aufsätze ein Bezug auf den von Susanne Kaul und Rüdiger Bittner herausgegebenen Band Fiktionen der Gerechtigkeit 2 findet, der eine vergleichbare Engführung von theoretischen und literarischen Positionen unternimmt.

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Abschließend heben die HerausgeberInnen darauf ab, dass in dem Band Kunst und Literatur als Möglichkeitsraum der Anerkennung figurieren, »der von pragmatischen und normativen Funktionen entlastet ist« (S. 23). Sie verweisen auf die doppelte Kompetenz von Literatur, sowohl ethische Problemstellungen narrativ erfassen als auch imaginäre Lösungsmöglichkeiten erproben zu können. Gleichzeitig wird in den die Einleitung abschließenden Passagen Rolle und Aufgabe der Literatur als gleichermaßen konstruktiv wie dekonstruktiv thematisiert, was bedeutet, dass »ethische Orientierungen in einem Spannungsfeld von Begründen, Ergründen und Entgründen von Subjekt-, Gerechtigkeits- und Anerkennungsvorstellungen verfasst sein müssen« (S. 25). Diese in Literatur verhandelten »Narrative der Anerkennung« kann die Literaturwissenschaft nun durch eine Fokussierung der ethischen Implikationen narrativer Verfahren und ästhetischer Konzepte, also durch eine Berücksichtigung der der Kunst inhärenten formal-ästhetischen Aspekte, analysieren. Die weitere Erhellung gerade dieses zuletzt genannten Fragehorizonts dürfte für den »ethical turn« innerhalb der Philologien und seine Perspektivierung zweifellos von entscheidender Bedeutung sein.

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Ethik und Anerkennung: Theorien des Subjekts und der Gesellschaft:

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Die Aufsätze der ersten Sektion beschäftigen sich aus philosophischer oder soziologischer Perspektive mit unterschiedlichen Konzepten und Fragen von Anerkennung und Gerechtigkeit; nicht nur eröffnen sich hier eine Fülle an neuen Bezügen und Fragestellungen, sondern sie belegen insbesondere die immer deutlicher zu Tage tretende zentrale Bedeutung, die Emmanuel Lévinas’ Werk im Bereich ethischer Fragestellungen nach aktueller Einschätzung zukommt.

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Joachim Renns Aufsatz (»Moralisierung der Anerkennung oder ethische Imperative zweiter Ordnung? Zu den Folgen multipler sozialer Differenzierung für das Projekt einer normativen Theorie der Gesellschaft«) setzt sich – aus der Sicht einer theoretisch orientierten Soziologie – kritisch mit neueren Diskussionen über Anerkennung auseinander, und zwar hier vorrangig mit dem Werk Axel Honneths, welches Renn allerdings angesichts der von ihm diagnostizierten Tendenz zu einer normativen Homogenisierung von Gesellschaft kritisch beleuchtet. Es gelingt Renn darzulegen, dass Honneths Begriff einer einheitlichen, wenn auch konzentrisch verfassten gesellschaftlichen Anerkennungsordnung der pluralen Gesellschaft mit ihren vielfältigen Deutungshorizonten und ihren verschiedenen Routinen von Normenanwendungen und Regelauslegungen nicht gerecht werden kann. Auch kranke Honneths Anerkennungskonzeption daran, dass sein Universalitätsanspruch auf der Basis identitätsspezifischer Erfahrungen erfolge, die jedoch notwendig partikular seien. Im Gegensatz zu Honneth, der an der »Idee der politischen Verhandelbarkeit und Aushandlung der Sozialstruktur und des normativen Horizontes einer Gesellschaft« festhält, konstatiert Renn daher, dass jede normative Gesellschaftstheorie auf den Universalitätsanspruch verzichten und darüber hinaus auf ein deutlich ausdifferenzierteres Modell von Gesellschaft zurückgreifen muss.

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Mittels einer erhellenden theoretischen Überblendung der Hegelschen Anerkennungskonzeption mit dem Paradigma der Autorität gelingt es Hannes Kuch in seinem Aufsatz, (»Abhängigkeit und Indifferenz. Paradoxien in der Bewegung der Anerkennung«) eine Verbindungslinie zwischen der Figur des Herrn und soziologischen Theorien zur Autorität herzustellen; in beiden sieht er einen Modus von Indifferenz verwirklicht, durch den es gelingt, die gegenseitige Abhängigkeit zu leugnen, die in jedem Anerkennungsverhältnis wirksam ist. Sowohl der Herr als auch die Autorität sind insofern von anderen abhängig, als sie nur durch deren Wertschätzung zu dem werden können, was sie sind, was aber beide konstitutiv leugnen müssen. Kuch zeigt auf, dass sich dies vornehmlich im Gestus der Indifferenz vollzieht, was wiederum zu einer noch stärkeren Bindung des Knechtes an den Herrn führt.

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Katharina Bahlmann und Henning Laux (»Gerechtigkeit und Dekonstruktion. Eine kontrastive Lektüre von Lévinas, Derrida und Rorty«) zeigen in ihrem interessanten Vergleich von Derridas und Lévinas’ Konzeptionen von Gerechtigkeit, an welch entscheidendem Punkt diese, entgegen der Aussage Derridas, differiert. Während Lévinas innerhalb der Gerechtigkeit die Unterscheidung einführe zwischen einer dem Nächsten geltenden Gerechtigkeit – als einer ethischen, grundsätzlich unendlichen Gerechtigkeit – und einer dem Dritten geltenden und damit politischen Gerechtigkeit, sei für Derrida das Recht – da immer berechnend – von der Unendlichkeit abgegrenzt, der die Gerechtigkeit angehört. Lévinas sondert somit politische von ethischer Gerechtigkeit, wogegen Derrida diese Trennung gerade aufhebt, um die Figur unendlicher Gerechtigkeit gerade innerhalb der konkreten Sphäre des geltenden Rechts anhand der von ihm identifizierten Aporien von Regelhaftigkeit, Unentscheidbarkeit und Dringlichkeit aufscheinen zu lassen. Entgegen der Einschätzung von Richard Rorty, der Derridas Äußerungen zur Identität von Gerechtigkeit und Dekonstruktion nur als eine ›private‹ Form der Ironie verstanden wissen will, verweisen die AutorInnen im letzten Teil ihres Beitrags auf die politische Wirksamkeit der Dekonstruktion, die sich sowohl dagegen wendet, den Gerechtigkeitsbegriff auf soziale Gerechtigkeit zu verengen als auch diese einseitig gegenüber den Geboten der Fürsorge, der Wohltätigkeit und der Hilfsbereitschaft zu privilegieren.

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Sanja Dejanovic stellt Lévinas in einen gänzlich anderen Kontext und vergleicht ihn mit dem in Deutschland weniger bekannten Alain Badiou (»Ethics as the unrealized actualization of infinity in Badiou and Lévinas«), wobei sie durchaus relevante Parallelen entdeckt. So kann sie zeigen, dass die Ethik beider Autoren insofern verwandt ist, als sie jeweils vom Bezug auf die Idee der Unendlichkeit geprägt ist und voraussetzt, dass die konkreten endlichen Figurationen subjektiv-sozialer Wirklichkeit immer schon an einer Version von Unendlichkeit Teil haben bzw. durch den Bezug auf diese strukturiert werden.

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In ihren umfassenden Überlegungen (»Ethics and Narrativity in the Work of Emmanuel Lévinas – The Openness of the Saying and the Recognition of the Other«) fragt Silvia Richter nach der Narrativierung philosophischer Reflexionen im Werk von Emmanuel Lévinas und damit nach seinem Bemühen um eine Sprache der Ethik. Unter Rückgriff auf Derridas frühe Lévinas-Deutung rekonstruiert Richter Lévinas’ Entwicklung, wobei sie eine Verbindung herstellt zwischen der Distanzierung des frühen Lévinas von der Sprache der Ontologie und seinen späteren Werken, in denen er sich um eine Form der Sprache bemüht, die das »Sagende« auf Kosten des »Gesagten« bevorzugt; damit wird die Stimme, die gerade nicht den Inhalt oder die Bedeutung des Gesagten übermittelt, sondern das Sagen selbst, zum Kern einer Subjektivität, die darauf abzielt, den Anderen anzuerkennen. Die ethische Sprache gründe somit nicht in einem moralischen Gefühl oder einer moralischen Erfahrung, sondern in der Hinwendung zum Anderen. Innerhalb des philosophischen Diskurses könne eine solche Sprache der Hinwendung und der Verantwortung nur als Offenheit realisiert werden, die die eigene Totalität zugunsten des Anderen aufbricht.

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Richter zeigt anschließend, dass sich nicht nur derart unterschiedliche Autoren der Moderne wie Sartre, Virginia Woolf und Marguerite Duras um eine solche Sprache der Ethik bemühen, die den Verzicht auf inhaltliche Schließung (closure) und das Schweigen als zentrale Merkmale enthält, sondern dass diese als leitende Vorstellung etwa auch in John Cages Ästhetik und seiner Idee eines nicht-intentionalen Kunstwerks zu finden ist. Wenngleich der darauf aufbauende Begriff einer »poethic«, also einer ästhetisch-ethischen Praxis sicherlich nicht für alle moderne Kunst Geltung beanspruchen kann, entwickelt Richter anschaulich die Konzeption einer Kunst, die in einer radikalen Offenheit für den Anderen, für ein Außen, entsteht und damit Anerkennung verwirklicht.

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II. Ethik und Narration:

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Diese auf die Literatur vorausweisenden Überlegungen werden im zweiten Teil des Bandes, die die Aufsätze zu literarischen Texten versammeln, nicht aufgenommen, wie überhaupt an dieser Stelle etwas verbindlichere Rückbezüge auf den theoretischen Teil wünschenswert gewesen wären, vor allem hinsichtlich der Frage, was jeweils konkret unter Ethik verstanden wird.

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In diesem zweiten Teil des Bandes geht es in stärkerem Maße um einen Anschluss an den »ethical turn« innerhalb der anglophonen Literaturwissenschaft. Wie die Textauswahl deutlich macht, steht die Frage nach der Anerkennung als Einzelner oder als Gruppe innerhalb der englischen und amerikanischen Literatur weitaus stärker im Zentrum, was, wie Antje Kley überzeugend darlegt, mit der amerikanischen Geschichte und ihrer Ablösung aus dem Status einer englischen Kolonie und dem damit zusammenhängenden Bemühen um Autonomie zu tun hat.

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Antje Kleys Aufsatz (»Narrative Anerkennung in der US-amerikanischen Erzählliteratur der Gegenwart: Edward P. Jones’ The Known World (2003) und Richard Powers’ The Echo Maker (2006) leitet den Teil über literarische Texte ein und definiert die Aufgabe von Literatur in Bezug auf ethische Fragestellungen als »offene und konfliktbehaftete Aushandlung impliziten Wissens sowie unbewusster oder politisch noch unartikulierter individueller Bedürfnisse und Forderungen, die in den Fissuren des Öffentlichen unter divergierenden sozialen Bedingungen und auseinander strebenden Wertehorizonten entstehen.« (S. 180) Im Unterschied zu postkolonialen Untersuchungen, die vornehmlich Prozesse des othering und der Missachtung in den Blick nehmen, will sie verstärkt die positiven, identitätsbildenden Formen von Anerkennung untersuchen und zeichnet daher am Beispiel zweier amerikanischer Gegenwartsromane nach, in welcher Weise in diesen Texten der Akt der Gewährleistung und des Entzugs von Anerkennung und damit die, wie Todorov schreibt, »Verortung der Gesellschaft im Menschen« (S. 197) vorgeführt werden.

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Eine ebenfalls für den Zusammenhang von Ethik und Literatur produktive Thematik zeigt Stefanie Schäfer auf, die die im Akt des Lesens stattfindenden Anerkennungsprozesse untersucht (»I was a loose End«: Narrative Self-Fashioning and Ethical Encounters in Contemporary American Fiction«). Schäfer diagnostiziert für die Gegenwartsliteratur – nach vielen Texten, die die postmoderne Auflösung des Subjekts zum Thema hatten – eine erneute Hinwendung zur Subjektivität; sie untersucht demzufolge die Anerkennungsprozesse, die zwischen dem fiktionalen Selbst der Texte und den Lesern stattfinden. Sie schließt sich damit an Theorien an, die den Leseprozess als einen Akt der Bindung auf Seiten des Lesers deuten. Dies impliziert aber nicht nur einen Vorgang der Bildung des Lesers durch das Andere der Literatur, sondern führt umgekehrt ebenso dazu, dass der Leser zum Richter über den Text wird. Für den Leser sei die Lektüre insofern sowohl eine ethische Verhandlung der Subjektivität des Erzählers als auch ein erzieherischer Prozess: »For the audience, reading therefore represents both an ethical negotiation of the teller’s subjectivity and an educational process.« (S. 209) Angesichts der hier vorgenommenen überzeugenden Lektüre eines Romans von Marisha Pessl bleibt allerdings die Frage bestehen, in welcher Weise der Leser als anerkennende Instanz im Text selbst konstruiert und adressiert wird.

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Eine weiterführende Perspektive eröffnet auch Sabine Nunius, die sich ausführlich damit beschäftigt, was unter dem »umbrella term ›ethical‹ criticism« eigentlich zu verstehen ist (»Difference and Ethics in Ian McEwan’s Saturday«). In ihrer Untersuchung von Ian McEwans Roman Saturday bestimmt sie diesen in zweifacher Weise: zum einen setzt sie sich mit den innerhalb des Textes verhandelten ethischen Problemen auseinander – insbesondere im Zusammenhang mit der moralischen Einschätzung des Irakkriegs sowie mit dem Postulat ärztlicher Verantwortung – zum andern weitet sie die Frage nach der innerhalb des Textes verhandelten Ethik auf die Struktur des Textes aus und analysiert, inwieweit binäre Strukturen dazu beitragen, ein ›bürgerliches Wertesystem‹ zu stabilisieren. Nunius kann zeigen, dass der Text Ian McEwans in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder binäre und hierarchische Oppositionen konstruiert, »in which the other [...] is inevitably inferiorised« (S. 281). Die ethische Weichenstellung wird dergestalt auch in den formalen Aspekten eines Textes aufgesucht, die damit als eine Art subkutane, aber umso wirksamere Form der literarischen Stellungnahme erscheinen.

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III. Repräsentation, Medialität und kulturelle Differenz

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Im dritten Teil des Bandes geht es im Besonderen um den Zusammenhang zwischen Anerkennungsgerechtigkeit und den Konzepten von Identität und Alterität. Alexandra Böhm und Mark Schönleben untersuchen in ihrem Beitrag das Verhältnis von Ethik und Ästhetik im Film und verdeutlichen, dass es keine Repräsentation gibt, die nicht von ethischen Belangen tangiert ist (»Ethik der Ästhetik – Mediale Gerechtigkeit in Bernd Eichingers Der Untergang und Quentin Tarantinos Inglorious Basterds«). Dabei binden sie die ethische Dimension von Filmen dezidiert an die Rezeption und gehen von der Vorgabe aus, dass »die in den Filmen dargestellten, retrospektiven Narrative der Vergangenheit prospektiv ethische Implikationen für das Handlungs-, Erinnerungs- und Kulturwissen der Rezipienten besitzen.« (S. 313)

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Erinnerungsarbeit leistet auch der Beitrag von Olaf Kistenmacher, der historische Erscheinungsformen des Antisemitismus verfolgt (»›Gerechtigkeit‹ für Palästina? Die mediale Agitation der KPD gegen den ›zionistischen Faschismus‹ während der Weimarer Republik«). Er zeigt, dass Elemente des antizionistischen Antisemitismus bereits in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts in der Tageszeitung Die rote Fahne auftauchen. Insofern belegt seine Studie, dass der Antisemitismus innerhalb der Linken dem Holocaust zeitlich vorausging und »bereits zu dieser Zeit die Vorstellungen vom Klassenkampf von ethnischen und nationalistischen Kategorien überdeckt werden« (S. 378). Linker Antisemitismus dient somit eben nur bedingt der Erinnerungsabwehr – wie besonders seit den 1970er Jahren oftmals unterstellt –, sondern weist eine bedrückend lange Tradition und Genese auf.

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Ebenfalls mit Antisemitismus beschäftigt sich Florian Öchsner, der die Ethik eines den Antisemitismus in der Groteske dekonstruierenden Schreibens im Werk Edgar Hilsenraths behandelt (»Antisemitismus im Zerrspiegel –›Ethik‹ grotesken Schreibens nach Auschwitz in Edgar Hilsenraths Roman Der Nazi und der Friseur«). Hier ist das Schreiben selbst insofern ein ethisches Unterfangen, als die grotesken erzählerischen Aspekte des Romans als Strategie lesbar werden, die das Ziel hat, »in der Form der Übersteigerung manichäische Denkstrukturen« (S. 389) aufzubrechen und feste Wertvorstellungen der Leser somit in produktiver Weise zu irritieren.

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Auch die Mitschrift der Schlussdiskussion dokumentiert die zentrale Bedeutung der Frage, ob angesichts der – nicht lediglich historisch relevanten – Tatsache des Antisemitismus »überhaupt ein gerechter Umgang mit dem Anderen in Form seiner Anerkennung möglich ist« (S. 400). Robert Schindel weist eindringlich darauf hin, dass aufgrund der zivilisatorischen Vorgeschichte Normalität im Umgang zwischen Juden und Nichtjuden nicht denkbar ist; somit schließt der Band mit dem Hinweis auf die Unhintergehbarkeit geschichtlicher Ereignisse und der nicht löschbaren Dimension von Erinnerung bzw. von deren – jeder Reduktion widersprechender – Komplexität, die bei allen Überlegungen nicht nur zum Theorem der Gerechtigkeit, sondern gerade zum dem der Anerkennung zu berücksichtigen ist.

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IV. Fazit

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Für alle an einem »ethical criticism« Interessierten bietet der Band eine Fülle von Einsichten und weiterführenden Überlegungen. Die weite Fächerung der einzelnen inhaltlichen Aspekte ermöglicht dabei immer wieder das Herstellen vielfältiger Bezüge und fruchtbarer gedanklicher Engführungen, wodurch insbesondere die Thematisierung des Subjektbegriffs einen entsprechenden Stellenwert erhält. Gerade im Zusammenhang mit der Subjekttheorie wäre allenfalls eine stärkere Einbeziehung dezidiert politischer Reflexionen vorstellbar gewesen; in diesem Zusammenhang verweist insbesondere das Fehlen der Konzepte von Louis Althusser auf eine gewisse theoretische Leerstelle, die für die deutsche Diskussion kennzeichnend ist.

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Etwas wenig reflektiert wird angesichts der anspruchsvollen Agenda des Bandes außerdem die Tatsache, dass die drei genannten thematischen Schwerpunkte auf je unterschiedliche und in sich heterogene philosophische Fragenkomplexe, Diskussionszusammenhänge sowie Denktraditionen und Autoren verweisen. Wenn auch »Ethik« als zentraler theoretischer Begriff vorausgesetzt wird, so eröffnen sich gleichwohl mit den Kontexten Anerkennung und Gerechtigkeit zwei zusätzliche komplexe, und, ihren theoretischen Status betreffend, teilweise divergierende inhaltliche Felder: Während etwa Anerkennung als eine, wenn auch in unterschiedlichen Graden von Relevanz, immer wieder erfahrene Grundtatsache gesellschaftlicher Prozesse erscheint, lässt sich Ähnliches für den Topos der Gerechtigkeit kaum sagen, verbleibt dessen Anspruch doch in einer beträchtlichen Distanz zur konkreten Erfahrungswelt, wodurch ihm letztlich die Rolle eines Ideals zukommt. Gerade die weiter gehende Thematisierung solcher vergleichsweise grundlegender Unterschiede bezüglich des Stellenwerts der zentralen begrifflichen Konzepte bleibt der Band bei aller sonstiger Ausführlichkeit und Detailliertheit der einzelnen Beiträge schuldig.

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Innerhalb der Aufsätze, die literarische Texte oder mediale Kontexte untersuchen, ist der Aufweis des Potentials von Literatur für die Darstellung komplexer und widersprüchlicher Anerkennungsverhältnisse ebenso wegweisend wie die Analyse desjenigen Modus von Anerkennung, der an der Nahtstelle zwischen Leser und Text angesiedelt ist und hier entsprechende Bezüge ermöglicht. Gleichermaßen produktiv ist auch der Hinweis auf die nötige Untersuchung dessen, wie die Umsetzung ethischer Vorstellungen die konkrete ästhetisch-formale Struktur der Texte (mit-)bestimmt. Dagegen gelingt es in diesem Zusammenhang nicht immer zu verhindern, dass der Gesichtspunkt der innerhalb von narrativen Texten verhandelten Ethik dazu einlädt, den Gehalt eher eindimensional zu verkürzen, zum Beispiel im Kontext einer Erörterung der moralischen Qualifikation der Figuren. Dennoch schmälern solche kleineren Schwächen keineswegs die Verdienste der ansonsten fruchtbaren Reflexionen und Lektüren des Bandes.

 
 

Anmerkungen

Seit Erscheinen des Bandes sind eine ganze Reihe von weiteren Veröffentlichungen erschienen, die jene andauernde Tendenz zum »ethical turn« belegen, wie Thomas Bedorfs Untersuchung Verkennende Anerkennung oder das Heft des Internationalen Archiv für die Sozialgeschichte der Literatur mit dem Schwerpunktthema Anerkennung (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) 2012, Band 37, Heft 2).   zurück
Rüdiger Bittner, Susanne Kaul, (Hrsg.): Fiktionen der Gerechtigkeit: Literatur – Film – Philosophie – Recht. Baden-Baden 2005.   zurück