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Über die Schwierigkeit, sich kein (falsches) Bild zu machen.

Eine Wiederbegegnung mit Novalis

  • Gerhard Schulz: Novalis. Leben und Werk Friedrich von Hardenbergs. München: C. H. Beck 2011. 304 S. Gebunden. EUR (D) 24,95.
    ISBN: 978-3-406-62781-1.
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Dass es sich bei Novalis um den Autor der Frühromantik handelt, bei dem die Grenzen zwischen Person und Werk, zwischen zentralen Motiven seines literarischen Schaffens und der Wahrnehmung seiner Person am stärksten verschwimmen, darf wohl ebenso als Gemeinplatz gelten 1 , wie die Tatsache, dass schon die Romantik selbst ein solches Bild des Dichters entworfen hat, welches die Persönlichkeit Friedrich von Hardenbergs immer schon mit den poetischen und theoretischen Aussagen von Novalis identifizierte. Sein früher Tod, die Mystifizierung und Stilisierung zum romantischen Geist par excellence durch die Freunde Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel, welche Teile seines Werks posthum veröffentlichten, darüber hinaus der Umstand, dass er den Verlust seiner sehr jungen Verlobten Sophie von Kühn literarisch und theoretisch verarbeitete und nicht zuletzt sein selbstgewähltes Pseudonym – all das mag dazu beigetragen haben, dass Friedrich von Hardenberg der Nimbus des (überspitzt formuliert) ätherischen Gärtners anhaftet, der im Blütenreich der Phantasie die Idee eines Goldenen Zeitalters kultivierte: ein Bild zudem, welches sich – folgt man den Bedenken von Gerhard Schulz – noch immer allzu hartnäckig hält und welches es endgültig zu korrigieren gilt. Letzteres ist eines der zentralen Anliegen seiner 2011 vorgelegten Biographie Novalis. Leben und Werk Friedrich von Hardenbergs, die einem breiten Publikum einen Querschnitt dessen zugänglich macht, was der renommierte Novalis-Experte Schulz in einem akademischen Leben verdienstvoll und umfassend erarbeitet hat.

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Zum Verfasser

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Gerhard Schulz ist in der Literatur um 1800 zu Hause wie wohl nur wenige andere. Maßgeblich hat er die Kultur- und Sozialgeschichte der Goethezeit, ihre Akteure und Werke erforscht; seine beiden in den 1980er Jahren erstmals erschienenen und im Jahr 2000 überarbeiteten Bände über Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration zählen noch immer zu den Standardwerken für die Literaturgeschichte zwischen 1789 und 1830.

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Was die Romantikforschung und vor allem das Gesamtwerk Friedrich von Hardenbergs betrifft, an dessen Erschließung und Herausgabe Schulz seit dem Beginn der Bemühungen um eine historisch-kritische Ausgabe in den frühen 1960er Jahren beteiligt ist, sind seine Verdienste kaum zu überschätzen. 2 Der Verlauf seiner akademischen Vita ist entsprechend eng verknüpft mit dem Autor Novalis und den Unternehmungen um die Edition seiner Schriften: Letztere hatte Richard Samuel begonnen und Schulz, der 1969 Samuels Nachfolge in Melbourne antrat, zur Mitarbeit nach Australien gerufen.

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Mit den 2006 von Schulz mitherausgegebenen Jugend- und Salinenschriften (Bände 6.2 und 6.3) konnte nicht nur die historisch-kritische Novalis-Ausgabe (HKA) weitgehend abgeschlossen, sondern auch ein bis dahin wenig beachteter Werkteil zugänglich gemacht werden. Der Blick auf das Œuvre wurde damit um wesentliche Facetten erweitert. Besonders ein Aspekt sticht heraus, den Schulz in seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Dichter, Philosophen, Juristen, Geologen, Bergassessor und Verwaltungsbeamten Friedrich von Hardenberg immer wieder hervorgehoben hat und der auch den Grundtenor dieser Biographie bildet: Dass der Autor Novalis und sein dichterisches Schaffen nicht zu trennen sind von seiner außerliterarischen Existenz, von seinen philosophischen und theoretischen Gedanken, seinen beruflichen Ämtern und einer recht erdschweren Verhaftung im »praktischen Leben«. 3

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Wie eng diese Verhaftung war, wie stark die Sphären von Arbeitswelt und literarischem Schaffen ineinander griffen und wie wenig sich die eine hinter die jeweils andere zurückstellen lässt, hat Schulz – angefangen bei seiner 1958 in Leipzig vorgelegten Dissertation Die Berufstätigkeit Friedrich von Hardenbergs (Novalis) und ihre Bedeutung für seine Dichtung und seine Gedankenwelt – über die Jahre und Jahrzehnte in zahlreichen Publikationen und anhand markanter Werkanalysen gezeigt.

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Dass der literaturwissenschaftliche Blick auf Friedrich von Hardenberg also ein durchaus »integrativer« ist, der sich vor allem auch für die Bezüge zwischen philosophischen, naturwissenschaftlichen und politisch-religiösen Dimensionen der Gedankenwelt und den literarischen Texten von Novalis interessiert, daran hat Gerhard Schulz selbst mitgewirkt. Schon in der Einleitung des von ihm 1970 herausgegebenen und 1986 neu aufgelegten Bandes Novalis. Beiträge zu Werk und Persönlichkeit Friedrich von Hardenbergs heißt es:

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Aber theoretisches und dichterisches Werk stehen bei Novalis in so enger Wechselbeziehung, daß eins ohne das andere nicht voll verständlich ist und daß Fehlurteile auf der einen Seite die rechte Würdigung der anderen verhindern. Die innige Vermischung von Poesie, Philosophie und den »Wissenschaften« entsprach auch den Intentionen von Novalis selbst. 4
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Die Dringlichkeit, auf eben diese »Fehlurteile« und ihre möglichen Ursachen zu deuten, scheint für Schulz auch vierzig Jahre nach dem Erscheinen seiner ersten biographischen Darstellung Novalis: Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten 5 so wenig nachgelassen zu haben wie seine Begeisterung für das Werk Friedrich von Hardenbergs. Bisweilen hymnisch besingt er die Geistesgröße, die präzisen Beobachtungen und das rege Denken des Novalis, belächelt jene »Interpreten und Hinzudenker« (Kap. I.3), die dem »peinlichen Novalis-Kitsch« (S. 30) aufgesessen sind und ihn befördert haben und macht die genaue Lektüre des an vielen Stellen unvollendet gebliebenen Werks stark.

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Aufbau und Konzeption der Biographie

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In zwölf Kapiteln zeichnet Schulz informativ, materialreich und eingängig die Lebensstationen und Schaffensphasen Friedrich von Hardenbergs nach. Weitgehend chronologisch ordnet er dabei die einzelnen Abschnitte, die er um das familiäre, ökonomische, geistige, soziale und berufliche Umfeld des jungen Dichters und Salinenassessors gruppiert und die er zitatenreich überschreibt.

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Darüber hinaus lässt sich eine thematische Dreiteilung ausmachen, wobei sich der erste Abschnitt (vgl. S. 13‑34) dem Problemgeflecht von anspielungsreichem Pseudonym, Autorenbild und Bildnis zuwendet. Den zweiten und umfassendsten Abschnitt (vgl. S. 35‑175) bildet die eigentlich biographische Nachzeichnung der Entstehung von Novalis’ vielseitiger Lebens- und Gedankenwelt, während sich der letzte Teil (vgl. S. 179‑277) stärker auf das dichterische Schaffen konzentriert und vor dem Hintergrund der in zahlreichen Variationen beschriebenen »Wechselbeziehungen« (S. 208) einen genaueren Blick auf zentrale Texte der letzten Lebensphase wirft.

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»Welt und Universum zählten zu seinen [Novalis’ – J.P.] Lieblingswörtern« (S. 7), lautet einer der ersten Sätze der Biographie. Und in eben jenen Kategorien von ›Welt‹ und ›Universum‹ misst der Autor denn auch die spezifisch universale Denk- und Erkenntnisweise des 1772 geborenen Hardenberg aus. Diese charakteristische Universalität bildet nicht nur die von Schulz – dabei nicht gänzlich ohne Redundanzen auskommend – betonte Einheit hinter literarischer, philosophischer, theoretischer und beruflicher Betätigung des Dichters und Verwaltungsbeamten, sondern auch den quasi leitmotivisch geführten Kontrast zu dessen geographisch begrenzter Lebenswelt in der »deutschen Mitte« (S. 45).

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Begleitet wird die knapp 280 Seiten umfassende Biographie von einem Anhang, bestehend aus einem Anmerkungsapparat sowie jeweils einem Abbildungs- und Literaturverzeichnis. Letzteres ist, das fällt auf, ungewöhnlich unterschieden in einen bibliographischen Teil und eine Auflistung der »Forschungsliteratur zu Novalis«: Dabei setzt sich die Bibliographie aus einem Verweis auf die Gesamtausgabe der Schriften und Werke Friedrich von Hardenbergs und einem etwa vier Seiten umfassenden Verzeichnis der Schriften des Verfassers zu Novalis zusammen, in welchem Schulz seine eigenen von 1955 bis 2007 entstandenen Arbeiten auflistet. Ergänzend hierzu soll der – ebenfalls vierseitige – angeschlossene Überblick über die Forschungsliteratur verstanden werden. Der Autor nennt hier zunächst den von Herbert Uerlings umfassend erarbeiteten Werk- und Forschungsüberblick Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis 6 von 1991 und erweitert die dort angegebene Literatur um »später erschienene« und »relevante« (S. 293) Titel bis ins Jahr 2003. Zwar macht es sich die Biographie an keiner Stelle zur Aufgabe, einen aktualisierten Überblick über die Novalis-Forschung zu geben oder diese erweitern zu wollen. Jedoch dürften jüngste Arbeiten der letzten Dekade 7 durchaus einen zumindest nennenswerten Beitrag zur Novalis-Forschung geleistet und insbesondere gezeigt haben, was auch Schulz der »literaturinteressierten Nachwelt« (S. 14) in immer neuen Wendungen verdeutlichen will: Dass es gerade die Originalität des Denkens und die vielfältigen Verknüpfungen zwischen Poesie, Arbeitswelt, Philosophie, Religiosität und Wissenschaft sind, die die Spezifik des dichterischen Werks und seine Lesarten bestimmen.

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»… als sei der junge Mann gerade vom Ondulieren aus dem Friseursalon getreten«: Die Problematik von Name, Bild und Bildnis

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Dass Gerhard Schulz ein breites Publikum als Leserschaft anvisiert, wird besonders im Eingangskapitel deutlich. In fünf Unterkapiteln versucht er, den Knoten aus dem von Hardenberg 1798 gewählten Dichter-Pseudonym, dem einzig existierenden Bildnis des jungen Adligen und dem durch Verklärung entstandenen und tradierten Bild des schwärmerisch-romantischen Jünglings aufzulösen und so der Vorstellung eines »Dualismus von Dichter und praktisch tätigem Staatsbürger« (S. 14) den Boden zu entziehen.

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Akribisch und minutiös geht Schulz vor, wenn er den »magisch-poetischen« Klang des Decknamens Novalis in seiner Bedeutung, seiner suggestiven Wirkung und seiner Betonung bis hin zur Abfolge »voller und leichter Vokale« (ebd.) analysiert, um zu verdeutlichen, dass schon hierin die Ursachen für die zweifelhafte Mythologisierung und die fälschlicherweise vorgenommene Trennung des Dichters von seinem »bürgerlichen Namen« liegen.

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Nicht weniger gründlich erörtert Schulz die »Schwierigkeit«, sich ein objektives Bild von »Menschen einer vergangenen Zeit« zu machen (S. 16). Im Falle Friedrich von Hardenbergs baut die bildliche Quellenlage auf den spekulativen Pfeilern eines einzigen Gemäldes auf, dessen Entstehungskontext ebenso ungeklärt ist wie die Frage nach dem Künstler und dessen Objektivität. Die hier prägnant dargestellten Attribute, die einige »Interpreten und Hinzudenker« im Laufe der Zeit zur Stilisierung und Überzeichnung einluden – der großäugige Blick oder die schulterlangen Locken etwa – bindet Schulz skeptisch gegenüber allen bildlichen Reproduktionen des einen Bildnisses an Moden und Zeitkontext zurück: Nicht ohne einen gewissen Unterhaltungswert geschieht dies, wenn er treffend beschreibt, Novalis finde sich auf einzelnen Bildern »mit einer derartigen Lockenpracht« wieder, »als sei der junge Mann gerade vom Ondulieren aus dem Friseursalon getreten« (S. 27).

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Wenngleich der Leser durchgehend von Schulz’ bestechender Kenntnis des kulturhistorischen Rahmens wie auch seiner Fähigkeit profitiert, illustrative Bögen vom Kleinen ins Große zu spannen und Details erhellend an den Kontext zurückzubinden, sind einzelne dieser Überleitungen doch nicht frei von unfreiwilliger Komik. Die »Schiller-Locken« etwa, die als »Zeugnis für solche Zeitmode [gemeint ist das Tragen von langem Haar – J.P.] sogar bleibenden Eingang in die Sprache der Lebensmittelindustrie, speziell der Fischkonservierung« gefunden haben, sollen hier als Beispiel genügen (S. 21).

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»Siedepfannen und Sonette«

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Innerhalb seiner biographischen Darstellung konzentriert sich Schulz, wie bereits erwähnt, vor allem auf die Entwicklung der reichen Gedankenwelt und die fortschreitende Ausbildung der spezifisch enzyklopädischen Erkenntnisweise Friedrich von Hardenbergs, deren Essenz sich am deutlichsten im Allgemeinen Brouillon auffinden lasse. Dieser in den Jahren 1798–99 entstandenen Sammlung von Fragmenten, die die Grenzen zwischen Wissenschaften und Kunst im Sinne der programmatisch romantischen Universalität bewusst aufhebt, attestiert der Autor denn auch das Potential »zu einem der bedeutendsten Werke europäischer Philosophie« – wohlgemerkt mit dem Zusatz »wäre es [das Brouillon – J.P.] vollendet worden« (S. 127).

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Anschaulich, abbildungsreich und mit zahlreichen Einblicken in Novalis’ Reflexionen und seine literarischen Arbeiten beleuchtet Schulz zunächst jedoch den pietistischen Hintergrund des Elternhauses und das »ins Bürgerliche tendierende Leben« (S. 49) der adligen Familie von Hardenberg, die Auseinandersetzung mit literarischen Vorbildern und die begeisterte Produktion erster poetischer Arbeiten während der Schul- und frühen Studienjahre. Darüber hinaus zeichnet er die bedeutenden intellektuellen Einflüsse – insbesondere durch Jakob Böhme, Immanuel Kant und Johann Gottlob Fichte – nach und rekonstruiert neben den Erfahrungen der ersten beruflichen Tätigkeiten in der Salinenverwaltung vor allem die persönlichen und folgenreichen Beziehungen zu Friedrich Schiller, Friedrich Schlegel, Ludwig Tieck und Abraham Gottlob Werner an den Universitäten Jena und Leipzig sowie an der Bergakademie Freiberg. Dies geschieht vor allem dann mit Gewinn, wenn der Autor die Wirkungen all dieser geistigen Tendenzen und Wegzeichen nicht nur anhand von Novalis’ Selbstzeugnissen und Texten aus den jeweiligen Lebensphasen illustriert, sondern sie – in wachsenden Kreisen – im späteren philosophisch-theoretischen und dichterischen Schaffen reflektiert, kontextualisiert oder poetisch überformt wiederfindet.

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Hervorzuheben sind die Ausführungen zu den Jugendschriften Friedrich von Hardenbergs, der bis 1790 »über dreihundert Gedichte sowie Prosatexte, Märchen und den Anfang eines Romans« (S. 52) verfasst hat. Gerhard Schulz macht hier die Quellen dieser poetischen Versuche transparent und bindet sie zurück an die »breite Palette literarischer Traditionen […] von der Aufklärung bis zu Rokoko und Anakreontik, von den Versen Klopstocks und Höltys bis zu denen Schillers« (S. 54). Dabei gelingt es ihm zu zeigen, dass die »formenreichen und verspielten«, bisweilen von »frivoler erotischer Metaphorik« (S. 53) geprägten Arbeiten weniger aus einer genialischen Dichternatur heraus als vornehmlich in nüchterner und beflissener Aneignung klassisch-antiker Muster entstanden sind, die der spätere Autor Novalis mit »zeitgenössischer Erfahrung und eigener Kreativität« (S. 54) verband.

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In diesem Sinne beschreibt Schulz auch in dem Kapitel über Hardenbergs Beziehung zu Sophie von Kühn, wie die Grenzerfahrungen von Liebe, Krankheit und Tod der jungen Verlobten mit religiösen und philosophischen Fragen und Gedanken assoziiert und dann produktiv gemacht werden. So entsteht aus dem eigenen Leiden am Verlust eben nicht nur der vielzitierte Wunsch des Dichters, der zur messianischen Figur erhobenen Geliebten nachsterben zu wollen, sondern auch die Denkfigur der Liebe als »Unum des Universums«, als »Endzweck der Weltgeschichte« 8 , deren Potential Friedrich von Hardenberg in der Erweiterung seiner Selbstbeobachtungen und »Gedankenexperimente« diskursübergreifend ausleuchtet, sie auf der philosophischen Höhe der Zeit ins Politische, Religiöse, Anthropologische und Naturwissenschaftliche wendet, mit rhetorischen Figuren verknüpft und literarisch und erkenntnistheoretisch umsetzt.

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Gleichermaßen wird auch im Unterkapitel zum »Aufsatz über Katholicismus« deutlich, wie Novalis in seiner Schrift Die Christenheit oder Europa (1799) geschichtsphilosophische Reflexionen, zu denen er am Rande des lebendigen Jenaer Geisteslebens der Jahre um 1800 angeregt wurde, mit seiner »pietistischen Erziehung« (S. 141) und dem politischen Krisenbewusstsein der Jahrhundertwende vor dem Hintergrund der Französischen Revolution verknüpft. Prägnant und erhellend erläutert Gerhard Schulz den zeitgenössischen Erfahrungshorizont in politischer, wirtschaftlicher und philosophischer Hinsicht und versucht, Friedrich von Hardenbergs – in Auseinandersetzung mit Kant, Lessing, Fichte und Schleiermacher entstandene – religiöse und politische »Vision« (S. 137 ff.) in das »Netz von Theorien« (S. 146) der epochalen Umbrüche einzuordnen. Besonderes Augenmerk legt er dabei auf den provokativen Akt des »gewagten Versuchs, mit den Mitteln der Rhetorik und der literarischen Phantasie Geschichte in den Griff zu bekommen […]«(S. 150).

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Auf der Grundlage der erst 2006 herausgegebenen so genannten Salinenschriften – Manuskripten, Aufzeichnungen und Protokollen aus der beruflichen Tätigkeit Friedrich von Hardenbergs – greift der Autor im Unterkapitel »Siedepfannen und Sonette« die Frage nach »Hardenberg oder Novalis?« (S. 163) nochmals auf und verdeutlicht anhand von mehreren Notizblättern das Nebeneinander der Arbeit als Verwaltungsbeamter im Bergwesen und der Entstehung des Heinrich von Ofterdingen. So finden sich direkt neben Plänen für die Saline im thüringischen Artern auch Aufzeichnungen zu den späteren Widmungsgedichten des Romanfragments. Mit großem philologischem Eifer geht Gerhard Schulz vor, wenn er die Dokumente als sprachliche Zeugnisse einer nicht mehr unmittelbar zugänglichen Ding-Welt heranzieht und ihn das Vokabular aus der Arbeitswelt Friedrich von Hardenbergs – etwa »Nachtgradiermeister«, »Häckerlingsschneider« und »Kolbenzwecke« (S. 165 f.) – im positiven Sinne »begriffsstutzig« werden lässt.

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Im abschließenden Teil der Biographie wirft Schulz dann einen eingehenderen Blick auf Novalis’ literarisches Werk. Hervorzuheben sind hier die Ausführungen zu den Hymnen an die Nacht, zu Heinrich von Ofterdingen und den lyrischen Arbeiten aus der letzten Lebensphase. Einiges entstammt älteren Veröffentlichungen des Autors, was allerdings den Wert der profunden Werkkenntnis für den Leser an keiner Stelle mindert. Unaufdringlich und stets den Gesamtüberblick wahrend, bietet Schulz hier Deutungsansätze und Interpretationsmöglichkeiten an, die keine vertiefte Vertrautheit mit den Texten – die in Auszügen abgedruckt sind – oder der romantischen Poetologie erfordern, sondern vornehmlich Orientierungen geben sollen und auch für den Novalis-Novizen nachvollziehbar sind.

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Vor dem Hintergrund biographisch relevanter Ereignisse, Novalis’ sich verschlechterndem Gesundheitszustand etwa, werden die literarischen Arbeiten durchgehend auch an ihren vielfältigen Ideenkontext zurückgebunden. Detaillierte Analysen und versgenaue Untersuchungen will der Autor dabei nicht liefern. In den Vordergrund rückt er hingegen erneut die Beschreibung der sich in immer weitere Dimensionen vortastenden, enzyklopädischen Denkweise Friedrich von Hardenbergs, die gleichermaßen auch die Grundlage seines literarischen Schaffens bildete. Auf einer allgemeinverständlichen Darstellungsebene und in einer präzisen Sprache erläutert Schulz wesentliche Aspekte der poetologischen Theoriebildung des Novalis auf der philosophischen Höhe der Zeit. Fast nebenbei gelingt es ihm so – insbesondere im Kapitel »Morgenröte in Siebenmeilenstiefeln« wie auch im Abschnitt zu den Hymnen an die Nacht – dem Leser einige Schlüsselmomente der frühromantischen Poetologie und ihrer Entstehung zu vermitteln, die er anhand zahlreicher Textbeispiele illustriert und sie in den Zusammenhang des literarischen Feldes der Jahre um 1800 einordnet.

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Fazit

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Gänzlich Neues und bisher Unbekanntes tut sich im Leben Friedrich von Hardenbergs in der Darstellung von Gerhard Schulz nicht auf. Jedoch gelingt es dem Autor, in seiner »Wiederbegegnung« an vielen Stellen und in mehrerlei Hinsicht – so banal das klingen mag – Interesse an dem schon 1801, im Alter von nicht ganz 29 Jahren verstorbenen Novalis zu wecken: Die stringente Betonung der Originalität seines regen Denkens und seiner erkenntnisorientierten Intellektualität jenseits disziplinärer Grenzziehungen, die ja gerade auch konstitutive Momente für das ästhetische Programm der Frühromantik bilden, geben zahlreiche Anregungen zu einer (Re‑)Lektüre, die weit über die vielbesprochenen Motive der blauen Blume oder des Liebestods hinausgeht.

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Die tiefgreifenden und umfassenden Kenntnisse, die Schulz nicht nur von Leben und Werk von Hardenberg-Novalis, sondern auch von der gesamten literaturgeschichtlichen Epoche besitzt, eröffnen dem Leser darüber hinaus Einblicke in zentrale sozial- und mentalitätsgeschichtliche Veränderungen, die in die Jahre um 1800 fielen. Unter Einbezug all dessen stellt der Autor an vielen Stellen Fragen, verweist auf Lücken und Ungeklärtes und zeigt Richtungen des Weiterdenkens auf. Wenngleich Gerhard Schulz’ Auseinandersetzung mit Novalis also keineswegs erschöpft ist, darf die Biographie dennoch auch als Bilanz gelesen werden, die der Autor nach einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Dichter und dem weitgehenden Abschluss der historisch-kritischen Novalis-Ausgabe zieht.

 
 

Anmerkungen

Vgl. hierzu etwa Stadler, Ulrich: Novalis: Heinrich von Ofterdingen (1802). In: Romane und Erzählungen der deutschen Romantik. Neue Interpretationen. Hrsg. v. Paul Michael Lützeler. Stuttgart: Reclam 1981, S. 141–162, hier S. 141.   zurück
Der Kommentarband zu den Salinenschriften, mit dem die historisch-kritische Novalis-Ausgabe ihren Abschluss finden soll, ist angekündigt (vgl. Novalis. Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Begründet von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Hrsg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl, Heinz Ritter und Gerhard Schulz. Historisch-kritische Ausgabe in 6 Bänden. Stuttgart: Kohlhammer 1960–2006).   zurück
HKA Bd. 4, S. 266. Mehrfach zitiert Gerhard Schulz aus dem Brief Friedrich von Hardenbergs an Rahel Just, Witwe des Amtmanns August Cölestin Just, von 1798. Dort heißt es: »Die Schriftstellerei ist eine Nebensache – Sie beurteilen mich wohl billig nach der Hauptsache – dem praktischen Leben.«   zurück
Gerhard Schulz: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Novalis. Beiträge zu Werk und Persönlichkeit Friedrich von Hardenbergs. 2. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1986, S. VII-XXII, hier S. VIIIf.   zurück
Gerhard Schulz: Novalis: Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. (Rowohlts Monographien 154) Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1969.   zurück
Uerlings, Herbert: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung. Stuttgart: Metzler 1991.   zurück
In Auswahl sind hier nur zu nennen: Benjamin Specht: Physik als Kunst. Die Poetisierung der Elektrizität um 1800. Berlin: de Gruyter 2010; Michael Weitz: Allegorien des Lebens: literarisierte Anthropologie bei F. Schlegel, Novalis, Tieck und E.T.A. Hoffmann. Paderborn: Schöningh 2008; Jürgen Daiber: Experimentalphysik des Geistes. Novalis und das romantische Experiment. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001.   zurück
HKA Bd. 3, S. 248-250.   zurück