Julia Weitbrecht

Brandans Bücher

Die Neuedition der »Reise«-Fassung




  • Reinhard Hahn / Christoph Fasbender (Hg.): Brandan. Die mitteldeutsche 'Reise'-Fassung. (Jenaer Germanistische Forschungen N. F. 14) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2002. XXXVII, 231 S. Gebunden. EUR 42,00.
    ISBN: 3-8253-1294-1.


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Die Editionslage

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Die ›Brandan-Renaissance‹ der letzten Jahre 1 hat nicht nur zu einer vermehrten literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Seefahrt des heiligen Brandan geführt, sondern auch eine Editionstätigkeit mit sich gebracht, die nunmehr einen guten Überblick über die komplizierte und breit gefächerte Überlieferung dieses Textes bietet. Dies gilt sowohl für den lateinischen Überlieferungsstrang der Navigatio und dessen volkssprachliche Übertragungen 2 wie für die mittelniederländische und mittelhochdeutsche sogenannte ›Reise‹-Fassung, die sich durch strukturelle und konzeptionelle Unterschiede von ersterem abhebt und in der Literatur meist separat geführt wird. Die Navigatio liegt bereits seit 1959 mit der kritischen Ausgabe von Carl Selmer in edierter Form vor 3 und auch die frühneuhochdeutschen Übertragungen des 15. und 16. Jahrhunderts hat Karl A. Zaenker in einer synoptischen Ausgabe zugänglich gemacht. 4

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Anders bei der ›Reise‹: Wohl bedingt durch die nicht nur mehrsprachige, sondern auch in unterschiedlichen Formen (Vers / Prosa) zu findende Überlieferung gibt es seit der von Carl Schröder besorgten Ausgabe von 1871 5 keine, in der die unterschiedlichen Zeugen versammelt sind und die eine textkritische Auseinandersetzung ermöglicht. Die Schrödersche Ausgabe bietet den bisher nicht übertroffenen Vorteil, nicht nur die mitteldeutsche Redaktion M, sondern auch die niederdeutsche N, sowie eine kritische Edition der oberdeutschen Prosaredaktion P (allerdings in Unkenntnis der handschriftlichen Überlieferung auf Grundlage der Drucke) und die Navigatio abzudrucken.

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Dennoch, so schon Torsten Dahlberg, vermag der »auf unzulängliches Material bauende kritische Text Schröders [...] uns nur ein getrübtes Bild der Überlieferung zu vermitteln.« 6 Dem abzuhelfen, brachten die letzten Jahre auch Arbeiten und Ausgaben, die den Einzelüberlieferungen der ›Reise‹-Fassung gewidmet sind: Die mittelniederländische Redaktion C/H, überliefert in zwei Handschriften, wurde mehrfach ediert 7 , die niederdeutsche Versfassung N hat Torsten Dahlberg in seiner textkritischen Untersuchung von 1954 neu herausgegeben, da er den von Schröder hergestellten Text als besonders entstellend bemängelt. 8 Nachdem Schröder für die Texterstellung der Prosaauflösung P lediglich Drucke berücksichtigt hat, sind mittlerweile auch die wichtigsten handschriftlichen Zeugen zugänglich. 9

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Die neue Ausgabe

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Nun liegt auch der früheste Zeuge der mittelhochdeutschen Überlieferung der ›Reise‹-Fassung, die gekürzte und bearbeitete Redaktion M, repräsentiert durch die Handschrift Berlin MS germ. oct. 56 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz), in der hier zu besprechenden Neuedition vor. Zur Begründung für ihr Editionsprojekt verweisen die Herausgeber darauf, daß die Schrödersche Ausgabe veraltet und überdies nicht überall zugänglich ist. Darüber hinaus wird als Zweck der vorliegenden Textform »die Schaffung eines gut les- und zitierbaren Textes, der nicht in erster Linie Material für sprachliche Untersuchungen bieten will, aber Zuverlässigkeit und wissenschaftliche Brauchbarkeit beanspruchen kann« (S. XXXIV) genannt. Beide Ansprüche, den der Lesbarkeit wie den der wissenschaftlichen Redlichkeit, erfüllt die Ausgabe.

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Zum Status der Redaktion M

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Es gibt verschiedene Gründe dafür, lediglich eine Handschrift bei der Edition eines Textes zu berücksichtigen, sei es, daß es sich um einen zentralen Überlieferungsträger handelt, dessen textkritischer Wert besonders hoch ist, sei es, daß ihm aus anderen, etwa sprach- oder rezeptionshistorischen Gründen ein besonderes Interesse zukommt. Welchen Status hat nun die Handschrift M innerhalb der Überlieferung der ›Reise‹-Fassung und rechtfertigt er es, nur sie zu berücksichtigen? Schon Dahlberg stellt mit Hinblick auf den hochdeutschen Archetypus fest, daß »M bei einer künftigen systematischen Diskussion der Originalreime vielfach von ausschlaggebender Bedeutung sein [dürfte].« 10 Es handelt sich um den einzigen Überlieferungszeugen der mitteldeutschen Redaktion der ›Reise‹. Die Herausgeber weisen allerdings selbst immer wieder darauf hin, daß es sich bei M um eine kürzende Redaktion handelt, die mehrfach als die in Bezug auf den Archetypus »schlechtere« Überlieferung bezeichnet wird. Das Interesse an M scheint hier primär von rekonstruktiver Natur zu sein.

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Es stellen sich somit im Zusammenhang mit der Brandan-Überlieferung dieselben Fragen, mit denen sich die jüngere Editionswissenschaft ›zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion‹ ohnehin trägt: wie soll eine Edition aussehen? Welche Handschrift ist repräsentativ? Soll die Ausgabe die Überlieferungsvarianz abbilden, soll sie handschriftengetreu sein oder soll sie einen Text rekonstruieren, der dem angenommenen Archetypus am ehesten entspricht? Die Brandan-Überlieferung stellt in diesem Zusammenhang einen Sonderfall dar, da angesichts der umfassenden Veränderungen im Laufe der Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte von einem ›festen‹ Text hier wohl noch weniger gesprochen werden kann als im Zusammenhang mit anderen mittelalterlichen Werken. Es erscheint also gerade hier sinnvoll, der varianten Überlieferung Rechnung zu tragen und einzelne handschriftliche Zeugen zu edieren.

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Normalisierungsprobleme

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Für ihre Konzentration auf die Berliner Handschrift nennen die Herausgeber selbst kaum Gründe, lediglich, daß es ihnen dabei darum geht, »den handschriftlichen Befund weitgehend transparent zu halten und damit kontrollierbar zu machen« (S. XXXIV). Wenn diese Transparenz im Vordergrund stehen soll, so erscheint es jedoch merkwürdig, daß Eingriffe vorgenommen wurden, die den Text doch stark an editorische Konventionen anpassen, obgleich nach Aussage der Herausgeber ein »normalisierter Text [...] nicht in Frage [kam]« (S. XXXIV). Dies betrifft Groß- und Kleinschreibung, Interpunktion und die Normalisierung verschiedener Schreibweisen.

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Darüber hinaus verweist Veronika Crass in ihrer Rezension der Ausgabe darauf, daß diese Eingriffe, namentlich die Auflösung der Abbreviaturen, von den Herausgebern nicht nachvollziehbar hervorgehoben werden. 11 Auch in einer »Nachlese zur Neuausgabe« wird von Christoph Fasbender auf diese Fragen nicht näher eingegangen: Konzentration auf eine Handschrift, Eingriffe, Interpunktion, Konzeption von Apparat und Kommentar – »alle diese Entscheidungen haben wir an gegebener Stelle zu rechtfertigen versucht. Im Gebrauch wird sich zeigen, welche als verantwortbar gelten dürfen.« 12

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Kommentierungsprobleme

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In diesem Gebrauchszusammenhang ist weiterhin zu fragen, warum die Parallelüberlieferung und die Abweichungen nur teilweise im Apparat verzeichnet sind, teilweise im Kommentar mühsam aufgefunden werden müssen – zumal der Kommentar ohnehin vieles und unterschiedlich Wissenswertes versammelt, ohne daß es Findehilfen gäbe.

[15] 

Er bietet damit ein fundiertes, vielseitiges Instrument für die Arbeit mit dem Text, ist dabei aber in mancher Hinsicht über das Ziel, »nicht mehr ohne weiteres verständliche Realien zu erläutern und die z.T. erheblich divergierenden Wege der einzelnen Fassungen der Bandanlegende zu verdeutlichen«, hinausgeschossen. Dazu wurde er »[g]elegentlich [...] auch für eine nähere Rechtfertigung des hergestellten Textes genutzt« (S. 89). Das führt zu einer Vermischung verschiedener Ebenen der Textarbeit, die von Übersetzungshilfen (»985 enpor ›Sehr gut‹. Vgl. 1917«, S. 130) über editorische und textkritische Bemerkungen (»992–995 N hat hier nur den Vers: ›Jodoch mot ek bliuen vortan‹«, S. 131) zu Sachkommentaren und Verortungen im historischen oder intertextuellen Kontext reichen (»1014 der sin gebet ... las ›Lesen‹ ist ein liturgischer Terminus. Stroppel, S. 195: ›Es wird nicht ›Brevier gebetet‹, sondern ›das Gebet gelesen‹ (oder gesprochen). Vgl. auch 453, 1036, sowie: wan er einen salmen sprach (782).«, ebd.).

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Somit ist der Kommentar – aus der Logik eines Stellenkommentars heraus – weder zur zusammenhängenden Lektüre geeignet, noch kann der Leser sicher sein, was ihn erwartet, wenn er ihn zu Rate zieht.

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Die Beigaben

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Ferner bietet die Ausgabe ein Glossar, ein Namenverzeichnis, eine Episodenübersicht, sowie ein ausführliches Literaturverzeichnis und stellt somit vielerlei Angebote bereit, mit dem Text zu arbeiten. Die Reihenfolge und typographische Anordnung macht das Werk allerdings nicht immer benutzerfreundlich: das Auffinden der gewünschten Informationen gestaltet sich – auch über den Kommentar hinaus – oft aufwendig.

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Das Nachwort

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Das Nachwort von Reinhard Hahn bietet einen guten Überblick über die Überlieferungssituation und die drei Stränge Vita, Navigatio und ›Reise‹-Fassung, eine Unterscheidung, die in dieser Differenziertheit in der Forschungsliteratur nicht überall vorzufinden ist. Es ist gegliedert in »Die historische Persönlichkeit« (S. 189–192), »›Vita S. Brendani‹« (S. 192–195), »›Navigatio S. Brendani‹« (S. 196–206) und »Die ›Reise‹-Fassung« (S. 206–220). Unter der Überschrift »Eine weitere Brandan-Version?« (S. 221–225) wird auf eine Reihe von Wartburgkriegsstrophen eingegangen, die Brandans Reise thematisieren, ohne daß sie von der Forschung bislang zur eigentlichen Brandan-Überlieferung gerechnet wurden. 13 Hierin geht das Nachwort auch über die bisherigen Überblicksartikel, etwa denjeinigen Walter Haugs im Verfasserlexikon, hinaus. 14

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Der kurze Abriß zu »Gattungsprobleme[n]« (S. 226–231) beläßt es dabei, Verbindungen und mögliche Gattungskriterien aufzuzeigen, um zu versuchen, den Brandan zwischen Legende, Roman, Reisebericht und Jenseitsvision zu verorten – eine Diskussion, die sich im Zusammenhang mit diesem ungefügen Text bisher als wenig fruchtbar erwiesen hat. Das Kapitel kann jedoch ohnehin, so der Verfasser, »nicht mehr als eine Umrißskizze bieten, die im besten Fall zu weiterer Beschäftigung mit den Texten anzuregen vermöchte. Daß an klärungsbedürftigen Fragen kein Mangel herrscht, dürfte deutlich geworden sein.« (S. 231).

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Zur Klärung dieser Fragen wird die Ausgabe sicherlich wichtige Hilfestellung leisten. Sie ermöglicht es insbesondere, dem gesteigerten Interesse der Forschung am Brandan nun auch in der Lehre Rechnung zu tragen. Es handelt sich um eine gute Studienausgabe, die man sich gerade deshalb jedoch an einigen Stellen etwas besser strukturiert gewünscht hätte.


Julia Weitbrecht
Boppstr. 3
DE - 10967 Berlin

Ins Netz gestellt am 09.11.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Ernst Hellgardt. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Julia Weitbrecht: Brandans Bücher. Die Neuedition der »Reise«-Fassung. (Rezension über: Reinhard Hahn / Christoph Fasbender (Hg.): Brandan. Die mitteldeutsche 'Reise'-Fassung. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2002.)
In: IASLonline [09.11.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=370>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Vgl. Glyn S. Burgess / Clara Strijbosch: The Legend of St Brendan. A Critical Bibliography. Dublin 2000.   zurück
Vgl. W. R. J. Barron / Glyn S. Burgess (Hg.): The Voyage of Saint Brandan. Representative Versions of the Legend in English Translations. Exeter 2002.   zurück
Carl Selmer (Hg.): Navigatio Sancti Brendani Abbatis from Early Latin Manuscripts. Notre Dame, Indiana 1959.   zurück
Karl A. Zaenker (Hg.): St. Brandans Meerfahrt. Ein lateinischer Text und seine drei deutschen Übertragungen aus dem 15. Jahrhundert (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 191) Stuttgart 1987. S. a. Rolf D. Fay (Hg.): Sankt Brandan. Zwei frühneuhochdeutsche Prosafassungen. Der erste Augsburger Druck von Anton Sorg (um 1476) und Die Brandan-Legende aus Gabriel Rollenhagens ›Vier Büchern Indianischer Reisen‹ (Helfant Texte T 4) Stuttgart 1985.   zurück
Carl Schröder (Hg.): Sanct Brandan. Ein lateinischer und drei deutsche Texte. Erlangen 1871.   zurück
Thorsten Dahlberg: Brandaniana. Kritische Bemerkungen zu den Untersuchungen über die deutschen und niederländischen Brandan-Versionen der sogenannten Reiseklasse. Mit komplettierendem Material und einer Neuausgabe des ostfälischen Gedichts (Göteborger Germanistische Forschungen 4) Göteborg 1958, hier S. 104.   zurück
Zuletzt in: Marie-Louise Rotsaert (Hg.): San Brandano. Un antitipo Germanico (Università degli Studi di Cagliari; Dipartimento di Filologie e Letterature Moderne 12) Rom 1996, S. 116–233.    zurück
Thorsten Dahlberg (Anm. 6), S. 8.   zurück
l: London, Brit. Museum 3851 e e 16, ed. Carl Bayerschmidt / Carl Selmer: An Unpublished Low German Version of the Navigatio Sancti Brendani. In: Germanic Review 30 (1955), S. 83–91. h: Heidelberg Universitätsbibliothek, Cpg. 60, ed. Ulrike Bodemann / Karl A. Zaenker: Historienbibel / Sankt Brandans Meerfahrt. Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. pal. germ. 60. Farbmikrofiche-Edition (Codices illuminati medii aevi 25) München 1993. b: Berlin, Deutsche Staatsbibliothek, mgq 1113, ed. Reinhard Hahn: Ein neuer Zeuge der oberdeutschen Redaktion von Brandans Reise (P). In: Daphnis 27 (1998), S. 231–261. g: Gotha, Forschungs- u. Landesbibliothek, Chart. A 13, ed. Marie Louise Rotsaert (Anm. 7), S. 75–112. Die Münchner Handschrift m (München Universitätsbibliothek, 2 Co. ms. 688, 3) ist bislang nicht ediert.   zurück
10 
Torsten Dahlberg (Anm. 6), S. 72.   zurück
11 
Veronika Crass: [Rezension]: Reinhard Hahn / Christoph Fasbender (Hg.): Brandan. Die mitteldeutsche ›Reise‹-Fassung (Jenaer Germanistische Forschungen N. F. 14) In: Arbitrium 20 (2002), S. 165–167, hier S. 166.   zurück
12 
Christoph Fasbender: Brandan-Probleme. Eine Nachlese zur Neuausgabe. In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 56 (2002), S. 103–122, hier S. 104.   zurück
13 
Vgl. allerdings L. Peeters: Brandanprobleme. In: Leuvense Bijdragen 59 (1970), S. 3–27.   zurück
14 
Walter Haug: ›Brandans Meerfahrt‹. In: Kurt Ruh u.a. (Hg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl. Berlin / New York 1978 ff. Bd. 1. Berlin / New York 1978, Sp. 985–991.   zurück