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Freund, Kunde, Feind?

Spielarten von Gastlichkeit als »Rahmenthema der Kulinaristik«

  • Alois Wierlacher (Hg.): Gastlichkeit. Rahmenthema der Kulinaristik. (Wissenschaftsforum Kulinaristik 3) Münster: LIT 2011. 543 S. Kartoniert. EUR (D) 39,90.
    ISBN: 978-3-643-11442-6.
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Gastfreundschaft gilt als einer der ältesten Werte der Menschheit. Seit vorbiblischen Zeiten wurde Dankbarkeit gegenüber Gott zu einem Leitmotiv der Gastfreundschaft: Im Angedenken an das Sklavenleben in Ägypten sollten die Israeliten jeden Fremden zuvorkommend behandeln. 1 Und bereits im antiken Griechenland galt die Gastfreundschaft neben Frömmigkeit, Besonnenheit und Mäßigung als wichtige Tugend. Wer fehlte, wurde von Zeus persönlich hart bestraft – konnte es doch immer vorkommen, dass es einem der Göttinnen und Götter einfiel, auf Erden zu wandeln und bei den Menschen einzukehren. Jeder Wanderer könnte somit ein Gott sein. In der nordischen Mythologie war es der Odin, der die Gestalt eines Fremden annehmen konnte. Verbunden mit der Angst, ihn möglicherweise zu verkennen, soll vorsichtshalber auch von den alten Germanen jeder unbekannte Reisende freundlich empfangen worden sein.

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Auch heute noch erscheint es uns selbstverständlich, sich um das Wohlergehen von Gästen zu sorgen, ihnen – selbst wenn diese nur kurz zu Besuch sind – etwas zu essen und zu trinken anzubieten. Durch die Kommunikationsmöglichkeiten im Internet, billige Reisemöglichkeiten und die gesteigerte Lust auf Ortsveränderungen können Fremde leichter als früher zueinander finden, werden mehr oder weniger spontan von immer mehr – vor allem jungen – Leuten Tisch, Betten und Sofas auch mit zunächst unbekannten Reisenden geteilt. 2

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Der Gast zu Gast in den Wissenschaften

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Ein Gast ist nur auf Zeit in eine Gemeinschaft integriert. Welche Regeln gelten für Zugehörigkeit und Ausschluss, für gelingende oder misslingende Kommunikation? Welche Modelle bieten literarische und historische Quellen, um das häufig komplizierte Verhältnis von Gastgebern und Gästen zu verstehen? Welchen Wandlungen unterliegen und unterlagen Konzepte von Gastfreundschaft? Es sind Fragen wie diese, durch die der Gast mittlerweile auch in den Wissenschaften präsent ist und große Bedeutung etwa für die interkulturell orientierte Literaturwissenschaft, die Soziologie, Philosophie und die Religionswissenschaften erlangt hat.

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Dies zeigt ein mehr als 500 Seiten langer Sammelband mit dem Titel Gastlichkeit Darin bieten Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Disziplinen ihre Sicht auf das Thema. Darunter sind Germanisten und Kulturwissenschaftlerinnen, Dozenten von Hotelfachschulen, Tourismusmanager und Fachleute für Gastronomie, Theologen, Ernährungs- und Religionswissenschaftler, Sinologinnen, Soziologen, Linguisten und Politikwissenschaftler, Restaurantkritiker und Medienwissenschaftler. Herausgeber ist Alois Wierlacher, der sowohl die Forschung im Bereich der Interkulturellen Germanistik als auch im Bereich der Kulinaristik in den vergangenen Jahrzehnten entscheidend prägte.

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Anthropologische, politische und kulturelle Formen
von Gastlichkeit

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Wierlacher unterscheidet in seiner instruktiven Einleitung drei Formen von Gastlichkeit: eine anthropologische, derzufolge der Mensch nur Gast ist auf Erden; eine politische, die neben institutionalisierten Formen wie Asyl und Aufenthaltsrecht ganz generell auch Schutz und Unterhalt für Menschen in Not impliziert; und eine kulturelle Gastlichkeit. Der letzte Begriff ist der weiteste, denn damit ist generell »die kulturspezifische Praxis« gemeint, »Menschen zu einem gemeinsamen Essen einzuladen und gegebenenfalls auch zu beherbergen.« 3 Die kulturelle Form der Gastlichkeit bildet den Schwerpunkt des vorliegenden Bandes. Wierlacher definiert: »Ich verstehe sie als ein Beziehungskonzept, ein Kulturmuster, eine Rechtsfigur, ein Geschäftsmodell und eine übergreifende Schutzkategorie.« 4 Als Konsequenz dieser facettenreichen Begriffsbestimmung kann es nicht das Ziel des Bandes sein, eine geschlossene Theorie zu liefern. Vielmehr möchte der Herausgeber – wie auch schon bei dem Forschungskolloquium, auf das der Sammelband zurückgeht und das 2009 in Ludwigshafen stattfand – wissenschaftliche und berufsorientierte Perspektiven zusammenführen und dadurch Möglichkeiten der Kooperation und Diskussion eröffnen.

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Interdisziplinäre Perspektiven

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Die interdisziplinäre Vielfalt wird durch den zweiten zentralen Begriff im Band – den der »Kulinaristik« – beschränkt. Gastlichkeit und Nahrung sind eng miteinander verbunden und doch ist diese Kombination in bislang vorliegenden Studien zur Gastlichkeit noch nicht explizit berücksichtigt worden. 5 Gleiches gilt für die Verbindung wissenschaftlicher und berufsbezogener Aspekte von Gastlichkeit, die Profis erläutern. Gegliedert ist der umfangreiche Sammelband in die Rubriken »Grundlagen«, »Kommunikationswelten der Gastlichkeit«, »Diskurse der Gastlichkeit«, »Kulturspezifika der Gastlichkeit«, »Ansichten professioneller und berufsbezogener Gastlichkeit«. Es finden sich Beiträge zu Ritualen und Orten der Gastlichkeit, zum Status des Dauergastes, zu historischen Aspekten von Gastlichkeit und deren interkulturellen Dimensionen. So werden Formen von Gastlichkeit in der islamischen Welt, in Italien, Japan und vor allem in China untersucht. Auch die symbolische und ästhetische Gestaltung von Gastlichkeit in Oper, Operette, Film und in der Literatur – namentlich bei Thomas Mann – wird berücksichtigt. Eine praktische, umfangreiche Auswahlbibliographie steht am Schluss des Bandes.

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Die Beiträge zu Hotelwesen und Gastronomie informieren über die schwierige Balance zwischen »Gastgeber sein« und »Geldverdienen müssen«. Als was ist der Mensch, der in einem Hotel logiert, zu betrachten? Als Kunde? Als Freund? Als Gast? Oder schlimmstenfalls als Feind, etwa wenn er die Zeche prellt? Was sollten angehende Hotelfachleute lernen, um als herzlicher Gastgeber wie als Leiter oder Mitarbeiter eines personalintensiven und kostenorientierten Betriebes gleichermaßen zu bestehen? Was sind Trends – etwa in Sachen Einrichtung – denen Hotelbetreiber folgen sollten, um Kunden anzusprechen?

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Zwischen Holzbett und Luxuslager

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Antworten auf Fragen wie diese gibt beispielsweise ein Beitrag des Kulturwissenschaftlers Bernhard Tschofen, der sich mit »Atmosphären der Gastlichkeit« beschäftigt. Tschofen betont darin, dass Einrichtungsgegenstände, Raumdekorationen und Möbel etwa in Gaststätten und Pensionen Erinnerungen von Reisenden maßgeblich prägten und Atmosphäre schafften: Ob wir etwas als authentisch, exotisch und erinnerungswürdig einstuften, hinge wesentlich von den sinnlich-materiellen Eindrücken ab, die ein Tourist während einer Reise mache, so Tschofen. Mit Blick auf die material culture studies regt der Verfasser deswegen dazu an, nicht nur nach dem symbolischen Gehalt etwa von Einrichtungsaccessoires zu fragen, sondern auch deren konkrete Beschaffenheit – Haptik, Form, Geruch und andere Qualitäten – zu untersuchen.

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Als wichtig für ein positives Urlaubserlebnis beispielsweise identifiziert Tschofen Begrüßungsgeschenke. Diese seien zwar im Preis mit einkalkuliert, würden aber gleichwohl als Geschenk empfunden und demonstrierten Gastfreundschaft. Als besonders geeignet erscheinen laut Tschofens Darstellung kulinarische Offerten, etwa »das kleine Fläschchen mit heimischem Schnaps im alpinen Hotel, das Säckchen mit Cantuccini in der Ferienwohnung in der Toskana« 6 . »Die physische Involvierung – hier über das elementare Erleben des Schmeckens und Riechens – ist dabei Teil der vorstellungsmäßigen Teilhabe am Echten und Anderen.« 7

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Physisches Erleben ist laut Tschofen auch dann wichtig, wenn es darum geht, Räume zu gestalten. Dies skizziert der Autor kurz anhand der unterschiedlichen Wege hin zum modernen Alpen-Tourismus: Während sich in den französischen und italienischen Alpen ein »bürgerlich-urbaner Stil« etablieren konnte, sei auf deutschem Gebiet bis weit ins 20. Jahrhundert die »Hütte« geschmacksprägend gewesen. Mit ihr seien Handwerk und überschaubare Strukturen, regionale Kultur identifiziert worden. »Das ist mit ein Grund, warum sich in den Ostalpen eine klassisch-moderne Tourismusarchitektur nur schwer durchsetzen konnte und sogar noch mit dem Wachstum der Hotellerie das Ideal der Hütte gesucht wurde – Satteldach, Stube, Ofen und Holz. Solche Verweissysteme reichen bis zur Materialwahl und zur Präferenz bestimmter Symbole in der Stimmungsdekoration.« 8

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Anregen – nicht ausforschen

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Die meisten Beiträge sind zwischen zehn und 15 Seiten lang. Ihre Verfasser verstehen diese nicht als ›letzte Worte‹ zu den behandelten Themen, sondern als Anregungen, Skizzen, Schlaglichter. Dies macht die Lektüre des Bandes überaus anregend, stellenweise aber auch unbefriedigend. So reißt der Literaturwissenschaftler und Restaurantkritiker Peter Peter das spannende Thema »Service im Kulturvergleich« auf fünf Seiten an und öffnet damit einen weiten Horizont: Im Fokus steht die Frage, warum einige Länder als gastfreundlich gelten, Deutschland aber heutzutage oftmals als »Service-Wüste« bezeichnet wird. Mit Blick auf Madame de Staëls Voyage en Allemagne, die noch 1810 Deutschlands Gastfreundschaft rühmte, verdeutlicht Peter historische Wandlungen von Länderimages. Er stellt die interessante Frage, ob und wenn ja inwiefern etwa der Protestantismus mit seiner Leistungsethik im Verlauf der Jahrhunderte das Verhalten in und die Wahrnehmung von Deutschland in Bezug auf Gastfreundschaft verändert hat. Auch hinsichtlich der Kulinaristik werden interessante Querverbindungen zwischen Religion und beispielsweise länderspezifischen Frühstückskulturen gezogen. Leider bleibt der Beitrag – wie auch einige andere – sehr thesenhaft.

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Auffällig ist, dass literarische Texte zwar nur in einem Aufsatz explizit im Fokus stehen 9 , in vielen anderen – wie auch in dem eben erwähnten von Peter – aber als quasi historische Quellen, als Erinnerungsspeicher berücksichtigt werden. Diese geben Auskunft über kulturelle Selbstwahrnehmung sowie über Herkunft und Entwicklung von Phänomenen der Gastlichkeit.

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Zu Hause ist anderswo? Der Dauergast

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Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch der Beitrag von Regina Bendix zum »Dauergast«, den sie als »Sonderfall der Gastlichkeitskulturen« behandelt und nicht nur in populären Fernsehformaten wie im Tatort oder in der US-amerikanischen Krankenhausserie Grey’s Anatomy ausmacht, sondern bereits viel früher – in Balzacs Père Goriot, in Hotel-Romanen Elizabeth Bowens und Vicki Baums sowie in Jean Paul Sartres La Nausée. Im Kontext einer literaturwissenschaftlichen Forschung, die sich der Erforschung von Räumen und Kulturen verschrieben hat, werden auch zum Thema Dauergast interessante Fragen gestellt: Wie ist etwa »zu Hause« in Bezug auf Dauergäste zu definieren? Wie ist das Verhältnis von Mobilität und Immobilität, von Anonymität und Bekanntheit, von Bohème und Bürgerlichkeit literarisch-ästhetisch gestaltet? In welchem Verhältnis steht das Dasein als Dauergast zu anderen Wohn- und Existenzformen? Welche Wertvorstellungen werden damit verknüpft? Welche Vorteile hat es? Die Erforschung literarischer Texte könne bei der Klärung solcher Fragen aufschlussreich sein, so Bendix:

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Ob mittelstädtisches Hotel wie bei Sartre oder große bis stattliche Einrichtungen, die in der nordamerikanischen Nomenklatur von ›residential Hotel‹ alles zwischen dürftigem Wohnheim, staatlicher Institution und großbürgerlicher Grandezza beinhalten: In der narrativen Einbettung und den Eindrücken der Etablissements vermitteln literarische Werke, Verfilmungen ebenso wie Fernsehserien der Gegenwart, wie die Option des permanenten Gastseins gesellschaftlich gewertet, und wie – im Umkehrschluss – menschliche Verortung, Verantwortung, Beziehungsarbeit betrachtet wurden und werden. 10
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Gastlichkeit – ein allgegenwärtiges Thema

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Wie nicht nur der Beitrag von Regina Bendix zeigt, sind die Verbindungen zur – im Untertitel des Bandes erwähnten –»Kulinaristik« mal mehr, mal weniger eng. Dies und die längenmäßig stark variierenden Beiträge, von denen einige bereits an anderer Stelle erschienen sind, stören den Eindruck von Geschlossenheit und Fokussierung, den der Titel in Verbindung mit dem Untertitel suggeriert und den die höchst informative Einleitung Wierlachers verstärkt. Gleichwohl zeigt der Band in beeindruckender Weise die Vielschichtigkeit des Themas »Gastlichkeit«, das in der Alltagskultur omnipräsent zu sein scheint und auch in der Literatur viele Spuren hinterlassen hat. Nicht zuletzt mit Blick etwa auf die deutschsprachige interkulturelle Gegenwartsliteratur wäre zum Thema »Gastlichkeit. Rahmenthema der Kulinaristik« viel zu sagen. Die vorliegende Veröffentlichung bietet viele Anregungen zu einer weiteren Beschäftigung damit und liefert grundlegende Einsichten und Informationen.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Lev 19,33 und Ex 23,9. Vgl. auch Gen 18.

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Vgl. etwa die Plattform http://www.couchsurfing.org/, auf der kostenlose Übernachtungsmöglichkeiten bei Privatleuten angeboten werden.

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Alois Wierlacher: »Gastlichkeit und Kulinaristik. Zur Begründung einer kulinaristischen Gastlichkeitsforschung«. In: Ders. (Hg.): Gastlichkeit. Rahmenthema Kulinaristik. Münster: Lit Verlag 2011, S. 5–28, hier S. 5.

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Ebd., S. 6.

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Vgl. außer der grundlegenden Studie Hans-Dieter Bahrs: Die Sprache des Gastes. Eine Metaethik. Leipzig: Reclam 1994 auch etwa Renate Bürner-Kotzam (Hg.): Vertraute Gäste – befremdende Begegnungen in Texten des bürgerlichen Realismus. 2001; Peter, Friedrich und Parr, Rolf (Hg.): Gastlichkeit: Erkundungen einer Schwellensituation. Heidelberg: Synchron, Wiss.-Verl. der Autoren 2009; Lillge, Claudia und Meyer, Anne-Rose (Hg.): Interkulturelle Mahlzeiten. Repräsentation und Inkorporierung. Bielefeld: transcript 2008; Kanichiro Omiya unter Mitarb. von Shizue Hayashi (Hg.): Figuren des Transgressiven: Das Ende und der Gast. München: Iudicium 2009; Evi Fountoulakis u. Boris Previsic (Hg.): Der Gast als Fremder: Narrative Alterität in der Literatur. Bielefeld: transcript 2011; Fuchs, Guido: Gastlichkeit: ihre Theologie, Spiritualität und Praxis im Gottesdienst. Regensburg: Pustet 2012.

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Bernhard Tschofen: »Atmosphären der Gastlichkeit. Konstruktion und Erfahrung kultureller Ordnungen im Tourismus«. In: Gastlichkeit. Rahmenthema Kulinaristik (Anm. 3), S. 428–437, hier S. 432.

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Ebd., S. 434.

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In Dieter W. Adolphs bereits erwähntem Beitrag zur »Gastlichkeit bei Thomas Mann«. In: Gastlichkeit. Rahmenthema Kulinaristik (Anm. 3), S. 231–237.

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Regina Bendix: »Der Dauergast. Zu einem Sonderfall der Gastlichkeitskulturen«. In: Gastlichkeit. Rahmenthema der Kulinaristik (Anm. 3), S. 206–218, hier S. 207.

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