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Wie Worte vor Augen geführt werden

  • Klaus Peter Dencker: Optische Poesie. Von den prähistorischen Schriftzeichen bis zu den digitalen Experimenten der Gegenwart. Berlin: Walter de Gruyter 2010. 969 S. 303 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 159,95.
    ISBN: 978-3-11-021503-8.
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Mit Optische Poesie – von den prähistorischen Schriftzeichen zu den digitalen Experimenten der Gegenwart hat Klaus Peter Dencker eine historische Typologie intermedial verfasster poetischer Gattungen, mit einem besonderem Fokus auf die Vielfalt der Visualisierungsformen von Poesie, zusammengetragen. Er legt damit ein Werk vor, welches in seiner Dichte und Reichhaltigkeit die Summe seiner langjährigen Erfahrungen als visueller Poet, Filmemacher und Hochschullehrer widerspiegelt und mit Fug und Recht als enzyklopädisch in seinem Ausmaß und seiner Reichweite bezeichnet werden kann. Optische Poesie wird sich ohne Zweifel künftig nicht nur als ein Referenzwerk auf dem Gebiet der Erforschung von Wort-Bild Verhältnissen ausweisen, sondern kann wohl auch künftig Künstlern als ein Fundus experimenteller Formate dienen.

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Typologien dienen definitionsgemäß der Neuordnung von Themenfeldern und der Präzisierung von darin vertretenen Begriffen. Im Zuge solcher Neuordnungen werden zwangsläufig auch neue Termini eingeführt, an denen sich die Gesamtordnung ausrichtet. Dencker führt in seiner Typologie die neuen Termini Optische Textformen und Optische Poesie als die zwei zentralen Oberbegriffe ein. Der erstere Begriff fasst ganz allgemein Textformen zusammen, die durch Visualisierung gekennzeichnet sind, auch diejenigen, welche nicht der Poesie zugeordnet werden. Optische Poesie wird hingegen als der zentrale Oberbegriff eingeführt, unter dem die mannigfaltigsten Formen der Visualisierung von Literatur subsumiert werden. Darunter werden als Subklassen folgende poetische Gattungen gruppiert: Visuelle Poesie, Konkrete Poesie, Kinetische Poesie und Musikalische Grafik. Weiterhin zählt Dencker noch folgende zugehörige Formen auf:

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»Figuren-, Gitter- und Labyrinthgedichte oder Formen der Ars Combinatoria, Enigmatik, Allegorik, Hieroglyphik, Emblematik und diverse Formen von Bild-Texten, Text-Bildern sowie Produktionen nicht nur im Print-, sondern auch im technischen und elektronischen Medienbereich (eingeschlossen Poesie im öffentlichen Raum) des 20. und 21. Jahrhunderts.« (S. 1, Anm. 1)
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Trotz der vorhandenen und in diesem Zitat wie auch im Titel des Buches erwähnten vormodernen Traditionen Optischer Poesie zielt Dencker darauf den Blick zu öffnen für Prozesse die sich spezifisch im 20. Jahrhundert manifestiert haben:

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»[…] für die durch die Geschichte der Medien und Medienkommunikation verursachten Paradigmenwechsel, für das gewandelte Selbstverständnis von Künstler und Kunstwerk, Poet und Poesie, für die Verlagerung vom Bild in der Poesie über das Bild der Poesie zur Poesie über die Poesie, vom poetischen Bild über die Visualisierung der Poesie bis zur Metapoesie, für die zunehmende Lingualisierung des Bildes und Ikonisierung des Textes.« (S. 2)
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Besonders der letzte Aspekt nimmt eine zentrale Stellung im Buch ein und könnte in den Kontext der nach wie vor aktuellen Diskurse über Intermedialität und Transmedialität sowie des jüngst von Sybille Krämer begründeten Forschungsfeldes der Schriftbildlichkeit 1 gestellt werden.

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Die Kapitelgliederung des Buches folgt weitestgehend der oben beschriebenen Ordnung und soll im folgenden nachvollzogen werden. In der Einleitung fasst Dencker seinen persönlichen Zugang zur Optischen Poesie zusammen und beleuchtet den Gegenstand anhand rezipierter Werke wie auch anhand der mit der Zeit entstandenen künstlerischen Kommunikationsnetzwerke (Kontakte zu Dick Higgins, der den Begriff intermedia geprägt hat, sowie gelesene Zeitschriften und Bücher). Solch ein persönlicher Zugang hebt den Aspekt einer gelebten Wissenschaft hervor, die offensichtlich von der Dynamik und der Kontingenz persönlicher Kontakte, der Lektüren sowie der Begegnungen mit Menschen und Kunstwerken gekennzeichnet ist und die ihre Ergebnisse nicht als eine für sich stehende creatio ex nihilo behauptet.

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Im ersten Kapitel »Bezeichnung, Systematik, Typologie« zeichnet Dencker den historischen Verlauf des Diskurses über Wort-Bild Verhältnisse nach, der stark mit den Debatten über das Verhältnis der Künste untereinander, über ihre Spezifizität, Trennung, Vermischung und Autonomie verwickelt ist. Er setzt bei diesem historischen Überblick bei deutschen Diskussionen dieses Themas an, die in den 1920ern stattfanden und ältere Debatten wie die um Lessings Laokoon sowie Goethes Schriften zur Kunst reflektierten. Diese historische Darstellung wird begleitet von vorangegangenen Kategorisierungsversuchen, die themengerecht ebenfalls als kleine grafische Kunstobjekte auftreten, in denen Bild und Text sich in komplexen Wechselverhältnissen verschränken 2 .

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Das zweite Kapitel bietet eine knappe historische Zusammenfassung über die Formen der Akustischen Poesie und ihrer Notationstechniken. Da der optische Aspekt der Akustischen Poesie eher als marginal eingestuft werden kann, bleibt dieses Kapitel kurz, und wird von einer breiteren Darstellung zur Musikalischen Grafik gefolgt. Dieses dritte Kapitel setzt sich mit der Problematik musikalischer Notationen und der Visualisierung von Musik auseinander und kann seinem Ausmaß entsprechend, ähnlich wie das zweite Kapitel, als Beschreibung eines Randgebietes der Optischen Poesie gewertet werden.

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Kapitel IV. ist der Kinetischen Poesie gewidmet, in deren Zentrum der Text als bewegtes Bild steht. Dieses Feld wird in drei Unterabschnitten mit den Themen »Filmische Realisationen«, »Computergesteuerte Produktionen« und »Reale und scheinbare poetische Bewegungsmodelle« behandelt. Der erste Unterabschnitt skizziert die historische Entwicklung von medialen Analogien und intermedialen Metaphern zwischen Film und Literatur, wie zum Beispiel die Entwicklung der filmischen Narration oder des sogenannten filmischen Schreibens, aber auch den Einfluss des Bewegungselements des Films auf die Literatur. Dieser Abschnitt beschränkt sich jedoch nicht nur auf den Kinofilm, sondern behandelt ebenfalls solche Formen wie experimentelle Textfilme, Videoclips, Installationskunst und Hologramme. Der folgende zweite Unterabschnitt setzt sich mit computerbasierten kinetischen Formen der Poesie auseinander, die mit Faktoren der Bewegung, der Raumerweiterung und des Netzwerks operieren. Dabei ist es besonders aufschlussreich, dass Dencker zahlreiche Beispiele für die historischen analogen Vorläufer der digitalen Formen vorstellt, die bis in das alte Ägypten zurückreichen. Es handelt sich dabei um Textformen und Textkombinationsmaschinen, die mit Elementen der Permutation, der Kombinatorik und des Zufalls spielen. Der letzte Unterabschnitt des Kapitels stellt poetische Formen, Buch- und Kunstobjekte vor, die mit den praktischen Rezeptionsprozessen spielen, zu denen Lesevorgänge, Blickrichtungen und die räumliche Handhabung der Kunstobjekte gehören.

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Die abschließenden Kapitel V. »Konkrete Poesie« und VI. »Visuelle Poesie« bilden den thematischen Kern des Buches. Schon in der Einleitung insistiert Dencker auf die Notwendigkeit, die oft als synonym wahrgenommenen Begriffe, Konkrete Poesie und Visuelle Poesie, definitorisch abzutrennen. Dies sei aus dem Grund notwendig, als zwar beide Ausdrucksformen sich mit leichter Zeitversetzung parallel entwickelten, jedoch unterschiedliche ästhetische Prämissen verfolgten, auch wenn die Visuelle Poesie von den Vertretern der Konkreten Poesie als eine Variation der letzteren betrachtet wurde. Dencker sieht den Hauptunterschied zwischen beiden poetischen Ausdrucksformen in einer längeren historischen Kontinuität der Visuellen Poesie und in ihren Bemühungen um eine Symbiose von Bild und Text, die in der Konkreten Poesie mit ihrer Fokussierung auf die Materialität und den Zeichencharakter der Sprache keine große Rolle spielt. Als Grund für diese unterschiedlichen ästhetischen Ausrichtungen identifiziert Dencker Faktoren kunst- und medienhistorischer Entwicklungen des 20. und 21. Jahrhunderts. Dabei betrachtet er die Entstehung der Visuellen Poesie als eine Reaktion auf die durch das Auftauchen der Formvielfalt der elektronischen und der digitalen Medien ausgelöste mimetische Krise der bildlichen Anschauung zur Wende des 21. Jahrhunderts. Diese Reaktion stellt er in Analogie zu den durch Photographie und Film verursachten Umwälzungen mimetischer Ordnungen und die damit einhergehende Sprachkrise am Anfang des 20. Jahrhunderts, deren Echo er als das Movens für die Entstehung der konkreten Poesie betrachtet.

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Das fünfte Kapitel, welches der Konkreten Poesie gewidmet ist, wird durch eine genealogische Bestimmung dieser poetischen Bewegung aus den Traditionen der bildenden Kunst und ihren Diskursen über das Abstrakte und das Konkrete eingeleitet. Des weiteren benennt Dencker Montage und Collageverfahren sowie die befreite Wortkunst der italienischen Futuristen und der russischen Formalisten als zusätzliche historische Vorläufer der Konkreten Poesie. Als spezifische Experimentiergebiete der Konkreten Poesie erörtert Dencker die folgenden: Textfläche, Wort, Buchstabe, Zeichen, Satzspiegel, Typografie, und Bildmaterial. Das Kapitel schließt ab mit einer detaillierten Darstellung der von den konkreten Poeten formulierten Programmatiken. Das Verdienst Denckers dabei ist nicht nur die Herstellung eines historischen Zusammenhanges dieser Proklamationen, sondern auch, die Übersicht und Ordnung hinein gebracht zu haben in das von den Künstlern selbst geschaffene Sammelsurium an Systematisierungsversuchen, idiosynkratischen Terminologien und programmatischen Postulaten. Da der Autor selbst als Visueller Poet einen persönlichen Blick auf die künstlerische Praxis mitbringt, bleibt seine Typologie niemals ein reines Schreibtischkonstrukt, sondern orientiert sich an den praktischen und materiellen Gegebenheiten seines thematischen Gegenstandes.

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Das sechste und letzte Kapitel ist der Visuellen Poesie gewidmet und leitet das Thema mit einer Betrachtung zu Schriftsystemen ein mit einer Einführung in das Spannungsverhältnis zwischen Bild- und Lautschriften. In einem zweiten Abschnitt formuliert Dencker, ausgehend von einem Versuch Ulrich Weissteins 3 , einen umfassenden Formenkatalog von Text-Bild Kombinationen, der in sechs Hauptkategorien unterteilt ist: 1. Buchstabe, 2. Text, 3. Schrift, 4. Medium, 5. Raum, 6. Kommunikation. Dieser Katalog wird gefolgt von einer großangelegten Darstellung des Themas »Text als Figur – Text im/als Bild«, welches in seinen verschiedensten Manifestationen von Hieroglyphen über sprechende Bilder, Schrift- und Buchkunst, lingualisierte Bilder, bis hin zu Graffiti und Text im öffentlichen Raum ausgeleuchtet wird. Bei all den formalästhetischen Betrachtungen wird die soziale Komponente der Kommunikation nicht ausgelassen, die im vierten Unterabschnitt dieses Kapitels zur »Text-Bild-Kommunikation« ihren Raum findet. Dencker fasst darunter solche Kunstformen wie: Correspondence-Art, Mail-Art, Stamp-/Stencil-Art, Telefon/Telegrafie/Telefax/E-Mail- und Copy-Art. Das Kapitel schließt mit einer Gesamtbetrachtung zur Visuellen Poesie, in der Dencker die folgende Definition formuliert:

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»Visuelle Poesie ist eine Form der Optischen Poesie, ausgeprägt entstanden Mitte des 20. Jahrhunderts aus einer wechselseitigen Beziehung von bildender Kunst und Literatur, von Bild und Text, von figurativen und semantischen Elementen, die Verbindung mehrerer Kunstformen in einem intermedialen Raum, die sensible Reaktion auf Medien und Mitteilungen der Umwelt jedweder Form.« (S. 862)
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Fazit

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Wie bereits einführend erwähnt ist das Buch eine enzyklopädische Referenz, die nicht nur eine umfassende Typologie der vielfältigen Formen Optischer Poesie bietet, sondern auch historische Zusammenhänge beleuchtet, die einen guten Einstieg in die weitverzweigten Diskurse des Themas erlauben. Es kann in diesem Sinne ebenso Studierenden als Einführung wie auch Experten auf dem Gebiet als Diskussionsgrundlage dienen. Natürlich sind Typologien immer auf ihre Art willkürliche Setzungen, aber sie schaffen eine allgemeine Terminologie, die wenn auch debattierbar, der Kommunikation sehr dienlich sind.

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Eines der wenigen, aber doch die Lektüre trübenden Mankos dieses Buches ist die fehlende Bibliografie. Optische Poesie ist zwar mit einem extensiven Fußnotenapparat ausgestattet (2930 Anmerkungen), der auch sehr viele Querverweise und zusätzliche Anmerkungen liefert, jedoch oft störend für den Lesefluss des Haupttextes in seiner weiten Raumnahme ist. Zudem ist es bedauerlich, dass in dem Buch keine Gesamtbibliographie der zitierten Werke integriert wurde, so dass man bestimmte bibliographische Angaben in dem Meer von Fussnoten suchen muss. Als besonders umständlich erweist sich dieses Manko, wenn man selektiv in dem Buch nachschlägt und auf bibliografische Angaben stößt, die in vorangegangenen Passagen bereits zitiert wurden und somit nur verkürzt wiedergegeben werden. Eine Bibliografie wäre in diesem Fall nicht nur ein wissenschaftliches Hilfsmittel, sondern würde das Buch insgesamt grafisch übersichtlicher gestalten. Dieser Umstand ist umso misslicher, als dass dieser Mangel ausgerechnet in einem Buch auftaucht, dass sich thematisch mit Lese- und Blickvorgängen auseinandersetzt. Natürlich ist es nicht gerade einfach, in einem so umfangreichen Band von 969 Seiten noch eine kritische Bibliografie zu integrieren. Es wäre wünschenswert, dieses Desiderat zum Beispiel mit einem Supplementband oder in Form eines Downloads zu beheben. Dencker weist selbst am Schluss seiner Einleitung auf dieses Desiderat hin:

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»Darüber hinaus bleibt allerdings noch als Desiderat die Publikation einer selbständigen Bibliografie zur Optischen Poesie, die neben den Primär- und Sekundärliteratur auch den Bereich der Kataloge und Ausstellungen umfassen müßte, was aufgrund der Materialfülle und des damit verbundenen Zeitaufwands wohl nur als größeres Forschungsprojekt denkbar ist. Die mehr als 4000 bibliografischen Angaben in den Anmerkungen könnten dies vielleicht unterstützen.« (S. 16)
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Diese erweiterte Bibliografie ist bestimmt ein eigenes Projekt wert, zunächst wäre es jedoch wünschenswert eine Bibliografie, der in dem Buch angeführten Werke bereitzustellen und dies liegt in den Händen des Verlages.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Krämer, Sybille, Eva Christiane Cancik-Kirschbaum, Rainer Totzke und Aleida Assmann. Schriftbildlichkeit: Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operarativität von Notationen. Berlin: Akademie-Verlag, 2012.   zurück
Neben zahlreichen Abbildungen umfasst das Buch auch zwei Anhänge zur Chronologie und Typologie der Formen Optischer Poesie.   zurück
Vgl. Weisstein, Ulrich (Hrsg.). Literatur und Bildende Kunst; ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines Komparatistischen Grenzgebietes. Berlin: Schmidt, 1992. S. 20   zurück