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Der Literaturbetrieb der DDR

  • Dietrich Löffler: Buch und Lesen in der DDR. Ein literatursoziologischer Rückblick. Berlin: Christoph Links 2010. 440 S. EUR (D) 49,90.
    ISBN: 978-3-86153-636-9.
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Wäre Dietrich Löffler ein Arzt, hätte er sich der Ganzheitsmedizin verschrieben, also jener Richtung, die den menschlichen Organismus als ein System versteht, dessen Teile zueinander in Beziehung stehen oder gar voneinander abhängig sind. Löffler ist aber Literaturwissenschaftler – in diesem Fall ein Ganzheitsliteraturwissenschaftler, denn in seiner Untersuchung Buch und Lesen in der DDR bringt er all jene Aspekte, die den Literaturbetrieb in der DDR bestimmt haben, in Verbindung miteinander. »Die Literaturverhältnisse in der DDR werden hier erstmals in ihrer Gesamtheit vorgestellt«, steht auf dem Cover zu lesen. Stimmt das? Als Annexmaterie sind die Literaturverhältnisse in einer Reihe von Arbeiten über die Literatur mehr oder weniger ausführlich mit enthalten, ohne aber den Schwerpunkt der jeweiligen Ausführungen zu bilden. 1 Ein Rekurs auf die besonderen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen der DDR ist vor allem deshalb fast immer notwendig, weil sie sich von jenen Westdeutschlands mehr oder minder wesentlich unterscheiden und weil deren Darstellung und Verständnis auch das Verständnis der DDR-Literatur als solcher förderlich sein kann. Umso erfreulicher ist es daher, wenn sich eine Untersuchung ausschließlich dieser Rahmenbedingungen und Folgeerscheinungen widmet und die Literaturgeschichte der DDR zunächst außen vor lässt. In sieben Kapiteln analysiert Dietrich Löffler die Literaturplanung, die ideologische Steuerung, die Infrastruktur des DDR-Literaturbetriebs (Verlagswesen, Buchhandel, Bibliotheken), Buchproduktion, Buchkauf und Buchbesitz, Literaturnutzung, Lektüre sowie Literatur und Öffentlichkeit.

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Norm und Wirklichkeit

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Die literarhistorische Entwicklung der DDR lässt sich auch als eine Beziehung zwischen einem außerliterarischen normativen Diskurs und einem innerliterarischen ästhetischen Diskurs verstehen. Ziel der Kulturpolitik war es, diese beiden Diskurse zur Deckung zu bringen. Die historische Wirklichkeit hingegen machte oft genug die Brüchigkeit des normativen Diskurses offensichtlich, die sich nicht zuletzt durch die Unsicherheit der Kulturpolitik im Umgang und in der Umsetzung ihrer Vorgaben äußerte. Der ästhetische Diskurs wiederum suchte sich so gut es ging vom normativen zu emanzipieren, und der Grad dieser Eigenständigkeit bemisst sich an der Geschicktheit der Akteure im literarischen Feld, die Normen kreativ zu unterlaufen. Beide Diskurse sind also voneinander abhängig, im Extremfall geraten sie in Widerspruch zueinander. Dass die Kultur über die wenigen Jahrzehnte der Existenz des ostdeutschen Staates nicht im gleichen Maß im Mittelpunkt des normativen Diskurses stand, mag ein Zeichen dafür sein, dass die hohen Parteiinstitutionen einsahen, dass das stets wendige Feld der Kunst dem phrasengetränkten Pochen auf die Entwicklung des sozialistischen Menschen etwas voraus hatte. Die Tatsache, dass die 6. Tagung des ZK der SED von 1972 die letzte war, die sich mit Fragen der Kultur auseinandersetzte (S. 24), diagnostiziert Löffler als charakteristisch für den Zustand der Kulturpolitik der DDR. Das tat aber offenbar der Überzeugung einiger Schriftsteller keinen Abbruch, die gesellschaftliche Wirkung der Literatur in Frage zu stellen, ganz im Gegenteil: Was in der Literaturgeschichtsschreibung der DDR bislang als zivilisationskritische Literatur charakterisiert wurde, 2 relativiert Löffler so:

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Als unumstößlich wurde, dass es keine Gemeinsamkeit hinsichtlich der Gestaltung der Gesellschaft mehr gab, formulierten sie [die Schriftsteller, E.G.] ihre Konzepte neu, indem sie die Literatur nicht mehr als Faktor im Aufbau einer neuen Gesellschaft begriffen, sondern als Beistand bei der Selbstverwirklichung der Leser. Dabei gebraucht zu werden, war ein starkes Motiv für die Schriftsteller, in der DDR zu bleiben, vor allem in der Zeit, als unter bestimmten Voraussetzungen die Entscheidung möglich wurde, in die Bundesrepublik zu gehen oder in der DDR zu bleiben. (S. 28)
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Zunächst standen aber Verlage, Buchhandlungen und Bibliotheken als wesentliche Literaturvermittler im Zentrum der Überlegungen, wie die literarische Produktion und Distribution zu lenken wären. Die Buchproduktion war noch vor der Gründung der DDR, also in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), bewilligungspflichtig. Damit ein Verlag seine Tätigkeit aufnehmen konnte, bedurfte er somit einer Lizenz, 3 die in Extremfällen – und das zeigt die Bandbreite der Möglichkeiten im Genehmigungssystem – noch mündlich gegeben wurden. Wie schwierig ein geregeltes (also den ideologischen Voraussetzungen Genüge tuendes) Kontrollsystem durchzusetzen und vor allem durchzuhalten war, zeigen schon die Anfänge: Dem Leiter des Aufbau-Verlags Walter Janka etwa widerstrebte eine zentrale Steuerung der Literatur und somit der Gedanke, dass aus Verlegern einfache Verwalter werden könnten, wenn sie ihre Unternehmen lediglich als Produktionsbetriebe nach festgelegten Plänen zu führen hätten, wie er auf der zweiten Verlegerkonferenz des Amtes für Literatur und Verlagswesen der DDR im Oktober 1952 darlegte (S. 44 f.). Er bevorzugte hingegen ein »dezentral ausgerichtetes System der Planung innerhalb eines gegliederten Verlagssystems« (S. 45). Allerdings konnten sich Janka und andere Verleger, die diese Linie verfolgten, nicht durchsetzen: Janka, den offenbar eine Abneigung gegen die sozialistische Bürokratie plagte und der sich sogar öffentlich gegen eine Abschaffung der Druckgenehmigungsverfahren ausgesprochen hatte, wurde am 6. Dezember 1956 verhaftet. 4 Das änderte freilich wenig an der Tatsache, dass man Verlage nur bedingt dazu brachte, sich den gewünschten Lenkungsmaßnahmen zu fügen: Als der Kulturelle Beirat 1950 von den Verlagen erstmals einen Themenplan für deren Publikationen 1951 verlangte, reagierten viele »ausweichend« (S. 48). Trotzdem musste es den Verlagen immer schwerer fallen, ihre Programme durchzusetzen und zu planen, denn die »Begutachtungsverfahren durch das Amt waren langwierig und zäh – sie dauerten bisweilen bis zu zwei Jahren. Das störte die Titelproduktion erheblich [...]«(S. 49; der Zensur und dem Druckgenehmigungsverfahren widmet sich Löffler in einem eigenen Kapitel, S. 127–154). Dazu kam, dass die Kulturkonferenz der SED vom 23. und 24. Oktober 1957 ideologische Mängel in der Verlagsproduktion, an den Hochschulen und in den Beständen der öffentlichen Bibliotheken feststellte. Und schließlich:

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Von einer systematischen Entwicklung zu einem zentral organisierten Buchwesen kann nach der Gründung des Amtes für Literatur und Verlagswesen keine Rede sein. Alle Maßnahmen und Veränderungen waren als Reaktionen auf die aktuelle politische Situation entstanden. Im Tauwetter nach dem XX. Parteitag der KPdSU war die Selbständigkeit der Verlage durch die Autonomiebestrebungen der Akteure gestärkt worden und hatte eine Konkurrenz zwischen den Verlagen begünstigt. Die zweite Hälfte der fünfziger Jahre war durch den »Kampf gegen den Klassenfeind« geprägt. Dazu zählten die Zurückdrängung des privaten Sortimentsbuchhandels und die Zentralisierung des sozialistischen. Die ideologische Offensive hatte aber nicht dazu geführt, eine effektive einheitliche Leitung des Verlagswesens zu installieren. (S. 55)
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Und noch auf dem 14. Plenum des ZK der SED am 23. November 1961 musste Walter Ulbricht enttäuscht feststellen, dass das System des Buchvertriebs unzulänglich sei und überprüft werden müsse (S. 55). Diese Unzulänglichkeit hatte ihre Ursache auch in der teils verwirrenden Kompetenzaufteilung der steuernden Institutionen, was die Parteiführung offenbar erkannt hatte. Die am 1. Jänner 1963 gegründete Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur sollte diesem Zustand Abhilfe verschaffen.

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Im Kapitel »Ideologische Steuerung« widmet sich Löffler den Bemühungen der staatlichen Führung, »die Inhalte der Literatur für die neue, sozialistische Gesellschaft aufzubereiten« (S. 72), etwa durch die Integration von Arbeits- und künstlerischem Leben, wie es der so genannte Bitterfelder Weg vorsah. Schriftsteller sollten sich mit der Realität der Arbeitswelt konfrontieren, andererseits sollten Arbeiter dazu angehalten werden, ihren Berufsalltag schreibend zu reflektieren. Dieses Ansinnen brachte über einige Jahre zwar ein bestimmtes Korpus an Texten hervor (und mit dem ›Brigadetagebuch‹ sogar eine durch den Bitterfelder Weg inspirierte neue Gattung), verlief aber letztlich wieder im Sand.

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Während die Organisation des produzierenden und distribuierenden Buchmarkts bei Löffler natürlich nicht zum ersten Mal abgehandelt werden, können sich seine Ausführungen über Buchproduktion, Buchkauf, Buchbesitz und Literaturnutzung auf weniger Forschung stützen, umso nützlicher ist daher die Darstellung dieses Aspekts des Literatursystems in der DDR. In diesem Zusammenhang mag es vielleicht überraschen, dass man auch in der DDR Marktforschung betrieben hat, nämlich etwa der Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel (LKG), der seit Mitte der 1970er Jahre unregelmäßig Buchhandlungsbesucher befragte (S. 277). Auf diese Weise kamen zumindest ansatzweise die Bedürfnisse und Wünsche der Leser ans Tageslicht. Darüber hinaus lieferte auch das Leipziger Institut für Marktforschung einiges Zahlenmaterial, das hilft, den Lesermarkt statistisch zu erfassen.

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Der Nutzen dieser Untersuchung

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Buch und Lesen in der DDR besticht durch seinen Materialreichtum und durch die oben erwähnte ganzheitliche Sicht auf Planung, Steuerung, Produktion und Rezeption von Literatur in der DDR. Zudem gelingt es Löffler, die Rolle normgebender Institutionen zu relativieren. Um ein Beispiel zu geben: Die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur spielt in der Diskussion um die Literatur der DDR als vermeintlich letztentscheidende Instanz oft eine tonangebende, wenn nicht absolute Rolle. Vielmehr seien aber »die Konsequenzen zu bedenken, die daraus resultieren, dass in der Leitungshierarchie der DDR die der staatlichen Ebene entsprechende und höhere Parteiebene immer vorgeordnet war und in ihre Entscheidungsbefugnisse eingreifen konnte« (S. 56). Zu bedenken seien darüber hinaus die Bedeutung und der Einfluss des Politbüros selbst, zumal die Hauptverwaltung aufgrund eines Beschlusses des Politbüros gegründet worden war und auch sonst wesentliche Entscheidungsbefugnisse hatte: »Es bestimmte die essenziellen Bedingungen der Buchproduktion wie die Eigentumsverhältnisse der Verlage und des Buchhandels, die Lizenzierungsbedingungen für die Verlage, die die Programmstruktur der Verlage festlegten, und die Struktur der staatlichen Leitung und Aufsicht« (S. 57). Schließlich hätten Politbüromitglieder »auch in einzelne literarische Vorgänge und Entscheidungen eingegriffen« (S. 58), etwa Kulturminister Kurt Hager, der persönlich über die Publikation von Volker Braun entschied bis hin zu Zensurfällen, deren Erledigung ebenfalls Politbüromitgliedern vorenthalten blieben, denn die »fehlende formaljuristische Regelung der Zuständigkeit der höchsten Ebene für staatliche Belange ließ derartige willkürliche Eingriffe in die literaturpolitische Routine zu« (S. 58). In der Hierarchie stand die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel nach den Abteilungen des ZK der SED, dem Sekretariat der SED und dem Politbüro der SED also an vierter Stelle, was nicht zuletzt bedeutet, dass »die Planungsbefugnisse der HV stark eingeschränkt waren« (S. 62), vor allem was die Planvorgaben für Papier anbelangt, die weitgehend von der Papierkommission vorgegeben waren. Auch die Entscheidung über die Themenpläne der Verlage, so Löffler, sei den Abteilungen im ZK überlassen gewesen.

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Ein vergleichsweise anderes Bild liefert auch der Blick auf die Rolle der Frau als Leserin in der DDR. Seit dem 19. Jahrhundert lesen Frauen im Durchschnitt mehr als Männer, was man vor allem mit höherer Verfügbarkeit von Freizeit erklärt hat. Nicht so in der DDR: »Eine erste für das Lesepublikum der DDR charakteristische Besonderheit besteht darin, dass Frauen weniger Bücher als Männer lasen« (S. 309). Und das erklärt sich so:

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Die im sozialistischen Bildungswesen praktizierte gleichberechtigte Teilnahme von Frauen an der polytechnischen Bildung auf eine Berufsausübung hin und die nahezu vollständige Teilnahme an der Arbeit in der Produktion lösten Frauen aus ihrer traditionellen Kultur des Hauses und gliederten sie in eine von Männern dominierte Arbeitswelt ein. Ihre Emanzipation war in der sozialistischen Gesellschaft nur auf diese Weise vollziehbar. Das war ebenso eine Befreiung und der Beginn einer Gleichberechtigung in der Gesellschaft wie ein Defizit durch die fortdauernde traditionelle Rollenverteilung im Haus. Dieser Widerspruch schlug sich im Leseverhalten nieder: Die Lesezeit und der Leseumfang waren bei Frauen insgesamt niedriger als bei Männern, andererseits blieben diese über die Jahre konstant. [...] Diese intensivere Bindung von Frauen an das Lesen ist weder in der Leseforschung noch in der Öffentlichkeit diskutiert worden. (S. 311)
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In diesem Zusammenhang liefert Löffler weitere statistische und demographische Informationen im Anhang, etwa über die durchschnittliche Anzahl der im Verlauf eines Jahres gelesenen Bücher, über Buchleser und Lesevolumen nach Bildungsgruppen, über Beschäftigung mit schöngeistiger Literatur am Feierabend in der Woche oder über die Entwicklung der Buchlektüre im Ost-West-Vergleich. Im Anhang seiner Untersuchung finden sich Aufstellungen über Schwerpunkttitel des Aufbau-Verlags und des Verlags Rütten & Loening von 1971 bis 1975, eine Liste der Betriebsbuchhandlungen der DDR 1980, ferner eine Liste der abgelehnten Bücher der Jahre 1976 bis 1978, eine Übersicht über die Anzahl der durch den LKG ausgelieferten Buchproduktion, die Entwicklung des Sortimentsbuchhandels von 1970 bis 1979, die in den Planjahren 1971 bis 1985 bewilligten Papierzuweisungen an belletristische Verlage und schließlich eine Aufstellung der empirischen Erhebungen zu Lesen und Freizeit.

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Löfflers »literatursoziologischer Rückblick« ist somit eine hervorragende, mitunter notwendige Ergänzung zu den vorhandenen Literaturgeschichten der DDR, weil sie einmal mehr die Interdependenz von versuchter Lenkung und künstlerischem Interesse offenkundig macht.

 
 

Anmerkungen

Siehe etwa Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Berlin: Aufbau Taschenbuchverlag 2000; Hans-Jürgen Schmitt (Hg.): Die Literatur der DDR. (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 11) München: Hanser 1983.   zurück
Siehe Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, Kapitel 6.   zurück
Siehe dazu vor allem Bettina Jütte: Verlagslizenzierungen in der Sowjetischen Besatzungszone (1945–1949). (Archiv für Geschichte des Buchwesens 8) Berlin: De Gruyter 2010.   zurück
Janka wurde der konterrevolutionären Verschwörung beschuldigt und zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Siehe dazu u. a. Walter Janka: Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Reinbek: Rowohlt 1989.   zurück