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Höfische Oper, bürgerlicher Salon und Arbeiterlied

Die Grand opéra als gesamtgesellschaftliches Phänomen in Frankreich und Deutschland

  • Ulla Karen Enßlin: »Wenn die Tyrannen fallen, sind wir frei«. Studien zur Rezeptionsgeschichte von Aubers »La Muette de Portici«. (Musikwissenschaftliche Publikationen 37) Hildesheim: Georg Olms 2012. XII, 464 S. Paperback. EUR (D) 78,00.
    ISBN: 978-3-487-14841-0.
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Ulla Karen Enßlin widmet sich in ihrer Doktorarbeit einer der im 19. Jahrhundert beliebtesten »Grand opéras«, die nicht nur weit über die Grenzen Frankreichs hinaus, sondern auch in verschiedenste Gesellschaftsschichten hinein gewirkt hat – der Muette de Portici von 1828. Enßlin zeichnet ein detailgenaues Bild der französisch- und deutschsprachigen Rezeption von der Uraufführung im Jahr 1828 bis zur Zwischenkriegszeit und legt dabei besonderen Wert auf Fragen des französisch-deutschen Kulturtransfers. Die Arbeit basiert auf umfassenden Quellenstudien, die es erlauben, die Wirkung des Werks in einen größeren soziohistorischen Zusammenhang zu stellen und neue Antworten auf grundlegende Fragen der Opernrezeption zu geben. Die dem Buch beigelegte CD-Rom mit umfangreichem Quellenverzeichnis und zahlreichen Textanhängen bietet wertvolle Grundlagen für weitere Forschungsarbeiten.

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Der Untersuchungszeitraum ist sowohl in soziohistorischer als auch in gattungstheoretischer Hinsicht von großem Interesse. Die seit ihren Anfängen eng mit der Inszenierung von Herrschaft verbundene französische Oper orientiert sich im Zuge der soziopolitischen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts immer wieder neu. Die Entstehung der Gattung »Grand opéra« zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist nicht zuletzt als Ergebnis der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Veränderungen zu verstehen. Die interdisziplinäre Studie Ulla Karen Enßlins betrachtet die Rezeption einer der ersten Grands opéras als gesamtgesellschaftliches Phänomen und gibt Antworten auf musik-, literatur- und theaterwissenschaftliche Fragen, die auch für sozialhistorische Untersuchungen von großem Interesse sind.

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Der Komponist Daniel-François-Esprit Auber und die Librettisten Eugène Scribe und Germain Delavigne sind im 19. Jahrhundert an der Produktion von einigen sehr erfolgreichen Grands opéras beteiligt. Ihre Muette de Portici gilt als eine der ersten Opern mit einem neuen dramaturgischen Konzept, das unter anderem durch relativ kurze Szenen und Akte mit markanten Steigerungen und scharfen Kontrasten, den Einbezug von alltagsnäheren Orten, Kostümen und Sprachformen, durch Massenszenen und die Konfrontation von Figuren in tableauartigen Konstellationen geprägt ist.

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Offenheit für unterschiedliche Interpretationen

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Der der Oper zugrunde liegende Stoff des neapolitanischen Fischeraufstands von 1647 wird in Frankreich seit 1789 mehrmals literarisch verarbeitet. Historische Stoffe geraten im Zuge der Rezeption von Walter Scotts historischen Romanen allgemein in den Fokus der Opernlibrettisten, die bis dahin vor allem Stoffe aus der griechischen Mythologie und der Ritterliteratur aufgegriffen haben. Sowohl die adeligen Figuren als auch die Helden ›aus dem Volk‹ der Muette de Portici lassen Raum für verschiedene politische Lesarten und Vereinnahmungen. So werden erstere als Unterdrücker und bemitleidenswerte Verfolgte gezeigt, zweitere als mit Recht Aufbegehrende mit großem Gewaltpotential. Der Grund für die große Beliebtheit dieser Oper – so eine der zentralen Thesen der Arbeit – ist also nicht nur in ihrer politischen Sprengkraft zu suchen, sondern vor allem in ihrer Offenheit für unterschiedliche Interpretationen und Identifikationsangebote. La Muette wird am Hof und unter Revolutionsanhänger/innen, in bürgerlichen Salons und Männergesangsvereinen rezipiert, erfüllt dabei sehr unterschiedliche Funktionen und wird für verschiedenste politische Zwecke eingesetzt. Gründe für das Nachlassen ihrer Popularität sind dann nicht so sehr in sich ändernden soziopolitischen Verhältnissen zu sehen als in einem sich wandelnden musikästhetischen Ideal und einer veränderten Inszenierungspraxis.

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Spielpläne und Regietheater

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Die interdisziplinär angelegte Arbeit bedient sich verschiedener methodischer Ansätze, die am Beginn der vier Teile des Bandes vorgestellt werden. So basiert der erste Teil auf einer quantitativen Spielplananalyse, die grundlegende Informationen für die weiteren Überlegungen bereitstellt. Die fundierte Auswertung verschiedener Quellenarten wird in mehreren Grafiken anschaulich dargestellt. Dabei treten erste Unterschiede zwischen der Opernrezeption im französischen und deutschen Sprachraum zu Tage: Während das Werk in Frankreich in der ersten Zeit sehr häufig aufgeführt wird, kann sie sich im deutschsprachigen Raum länger auf den Spielplänen halten.

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Der am Ende des Kapitels angefügte Exkurs zu Inszenierungen der Muette in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzt sich thematisch vom Rest des Kapitels ab, indem er exemplarisch auf Verfahren einzelner Inszenierungen eingeht. Man würde sich an dieser Stelle klarere Beurteilungskriterien wünschen, die auf deutlich umrissenen Begriffen basieren. So ist beispielsweise in Bezug auf die Inszenierung von Wilhelm Neef aus dem Jahr 1953 von einer »Instrumentalisierung der Handlung für [...] Propagandaziele« und »massiven Eingriffen in die Werksubstanz« (S. 36) die Rede, ohne dass deutlich wird, was für ein Verständnis von ›Werk‹ oder ›Propaganda‹ dieser Kritik zugrunde liegt. Die Offenheit der Muette für verschiedenartige (politische) Lesarten, die eine der zentralen Thesen der Arbeit ist, könnte als integraler Bestandteil der Oper begriffen werden, was eine differenziertere Bewertung von Veränderungen der Gewichtung politischer Inhalte nahelegen würde.

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La Muette als Revolutions- und Hofoper

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Der zweite Teil der Arbeit widmet sich der Aufführungsgeschichte und Bühnenrezeption der Muette im französischen und deutschen Sprachraum. Dem Kapitel vorangestellt sind Erläuterungen zur Werkgenese und zum Stoff der Oper. Die auf der ergänzenden Gegenüberstellung einer Vielzahl von Quellen wie Aufführungsmaterialien und Presseberichten beruhende Untersuchung legt großen Wert auf den interkulturellen Vergleich der Opernrezeption. Dabei werden sowohl Aufführungskonventionen als auch Reaktionen der Fach- und Unterhaltungspresse sowie Wirkungen der Oper auf politischer Ebene im französischen und deutschen Sprachraum miteinander verglichen.

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Während in Frankreich die Revolutionsthematik in der Presse zunächst als sekundär beurteilt wird und ein Diskurs über neue ästhetisch-dramaturgische Konzepte wie die Orientierung an Idealen der ›verité‹ und der ›nature‹ im Vordergrund der Rezeption steht, gerät der Opernstoff während der revolutionären Ereignisse der Jahre 1830 und 1848 ins Zentrum des Interesses. La Muette ist nicht nur das letzte Stück, das an der Pariser Opéra vor und das erste, das nach der 1830er-Revolution aufgeführt wird, es wird auch von revolutionären Gesängen in der Oper und von auf den Pariser Barrikaden gesungenen Nummern der Muette berichtet. Im Zuge der Revolution von 1848 finden kostenlose Aufführungen der Oper für die Pariser Unterschicht statt, die eine eindeutige politische Botschaft transportieren.

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Mit dem Aufstieg von Napoléon III. verschwindet La Muette zwar anfangs vom Spielplan – die Pariser Opéra wird wieder zum Treffpunkt einer Elite –, sie wird aber in den folgenden Jahren wieder aufgeführt. Ein strenges Pressezensurgesetz verhindert nun die Auseinandersetzung mit ihren politischen Inhalten. Im Zuge des deutsch-französischen Krieges findet eine Umgewichtung der ideologischen Inhalte der Oper im Sinne einer Patriotisierung statt, so genannte ›chants patriotiques‹ werden zwischen den Nummern eingeschoben. Nach 1879 wird die Oper in Frankreich nur noch sporadisch aufgeführt.

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Im deutschsprachigen Raum nehmen fast alle größeren Bühnen La Muette schnell in ihren Spielplan auf. Die Aufführungen ziehen zahlreiches Publikum aus verschiedenen Gesellschaftsschichten an. Dabei bietet die Oper »disparate[...] gesellschaftliche[...] Interpretations- und Identifikationsangebote« (S. 145), sie wird sowohl als Stärkung des monarchischen Prinzips wie auch als revolutionäres Gedankengut propagierend wahrgenommen. Auch im deutschsprachigen Raum werden mitunter Zusammenhänge zwischen Opernaufführungen und den revolutionären Ereignissen der Jahre 1830 und 1848 beschrieben, so wird über Tumulte in Opernhäusern und Aufführungsverbote im Zusammenhang mit den revolutionären Ereignissen des Jahres 1848 berichtet.

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Nach 1870 wird La Muette auch im deutschsprachigen Raum seltener aufgeführt, in der Zwischenkriegszeit wird sie vereinzelt wieder in die Spielpläne aufgenommen. Ulla Karen Enßlin führt die nachlassende Beliebtheit der Oper im 20. Jahrhundert auf die veränderte (nachwagnerianische) Opernästhetik, ein neues Gesangsideal und eine Inszenierungspraxis zurück, die der Dramaturgie der Grand opéra fremd gegenübersteht.

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Während die Oper in Frankreich grundsätzlich positiv aufgenommen wird, steht im deutschsprachigen Raum dem großen Publikumserfolg eine kritische Fachpresse gegenüber. In beiden Sprachgebieten werden vor allem die Fürstenrollen kritisiert, was bei späteren Aufführungen zu Kürzungen führt. Die in Frankreich häufig eingeschobenen und viel bejubelten Tanznummern finden im deutschsprachigen Raum keine Entsprechung. Sogar die weibliche Hauptfigur, für die ursprünglich eine Tänzerin eingesetzt wird, ist in Deutschland mitunter mit einer Schauspielerin besetzt. In beiden Sprachräumen sind Inszenierungen bis ins 20. Jahrhundert stark an den ersten Pariser Aufführungen orientiert, deren Regiebücher an vielen Bühnen Vorbildfunktion haben.

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Die hochinteressanten Darstellungen hätten durch eine Diskussion des verwendeten Werk- und Rezeptionsbegriffes gewonnen. So fragt man sich zuweilen, ob der Erstdruck der Partitur und des Librettos oder aber die Uraufführung mitsamt ihrer szenischen Realisierung, die sich in Regiebüchern niederschlägt, als ›Werk‹ begriffen wird und inwiefern eine Grenze zwischen Werkgenese und Rezeptionsphänomenen zu ziehen ist. Gerade in interdisziplinären Arbeiten können Abgrenzungen dieser Art, die in einer Disziplin mitunter als selbstverständlich gelten, Verwirrungen vermeiden. Die Gegenüberstellung verschiedener Konzepte würde dabei Aufschluss über Abgrenzung und Überlagerung der Phänomene bieten. Man würde sich zuweilen auch einen kritischeren Blick auf den ›nature‹ -Diskurs des beginnenden 19. Jahrhunderts wünschen, um ihn nicht unhinterfragt mit dem Realismus der zweiten Jahrhunderthälfte gleichzusetzen.

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Von Übersetzungen, Adaptionen und Eindeutschungen

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Der dritte Teil der Arbeit widmet sich dem bis heute stark vernachlässigten Untersuchungsgegenstand der Librettoübersetzungen. Den auf einem breiten Quellenmaterial (etwa siebzig deutschsprachigen Libretti der Muette) basierenden Analysen ist eine Auseinandersetzung mit übersetzungstheoretischen Konzepten vorangestellt. Die Arbeit verwendet einen transferorientierten Ansatz, der den grenzüberschreitenden Verkehr von Texten zwischen Sprachsystemen, Literaturen und Kulturen untersucht, der Produktion von Differenzen besondere Beachtung schenkt und die spezifische Medialität der Oper berücksichtigt. Dabei versucht die Arbeit einen Brückenschlag zwischen einem historisch deskriptiven Ansatz und einer normativen Analyse nach historischen Kriterien. Die Platzierung des Kapitels im Anschluss an die Untersuchung der deutschsprachigen Rezeption der Oper erscheint nicht völlig nachvollziehbar, da die deutschsprachigen Texte auf der einen Seite überaus interessante Rezeptionsphänome, auf der anderen Seite aber auch die Grundlage für eine Analyse der deutschsprachigen Rezeption der Oper darstellen.

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Bei der Gegenüberstellung französisch- und deutschsprachiger Libretti orientiert sich die Autorin an so genannten Äquivalenztypen, die Bernd Spillner für Phänomene des Kulturtransfers entwickelt hat. 1 Der Äquivalenzbegriff ist in der Übersetzungsforschung umstritten, da er die Gefahr birgt, den normativen Wert einer möglichst großen Ähnlichkeit zwischen ausgangs- und zielsprachlichem Text zu transportieren. Äquivalenz wird in der vorliegenden Analyse nicht als Gleichheit, sondern als Gleichwertigkeit verstanden. Die Äquivalenztypen erlauben es, einzelne Textebenen miteinander zu vergleichen, um festzustellen, auf welchen Ebenen in den untersuchten Übersetzungen Veränderungen stattfinden und welche Elemente des ausgangssprachlichen Textes beibehalten werden.

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Enßlin wendet die Äquivalenztypen in leicht modifizierter Weise an; so unterscheidet sie zwischen textnormativer, inhaltlicher, formal-ästhetischer und medialer Äquivalenz, die in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander stehen (S. 225). In diesem modifizierten Äquivalenzbegriff scheint zuweilen das Ideal einer möglichst gleichartigen Übersetzung durch, beispielsweise wenn davon die Rede ist, dass der Übersetzer »nicht sämtliche Werte des Originals erhalten kann« und so »eine Hierarchie der in der Übersetzung zu erhaltenden Werte« erstellt werden müsse (S. 224). Die Möglichkeit der freien Entscheidung zur Differenz scheint nicht mitgedacht zu werden. Man wird mitunter den Eindruck nicht los, die Gleichheitsforderung werde auf Einzelaspekte der Texte verlagert.

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Während die deutschsprachigen Libretti der Muette häufig für bestimmte Aufführungen hergestellt werden und Rückschlüsse auf die Aufführungsgeschichte der Oper erlauben, scheinen die französischen Libretti relativ unabhängig vom jeweiligen Aufführungszusammenhang eine frühe Textfassung beizubehalten. Der Wandel der deutschsprachigen Libretti wird exemplarisch an einem zeitlich begrenzten Berliner Korpus untersucht. Dabei zeigt sich, dass die Mehrheit der Libretti auf einigen frühen Übersetzungen beruht, die in späteren Fassungen miteinander vermischt werden. Das scheint unter anderem bühnenpraktische Gründe zu haben: Sänger/innen bringen die einmal gelernten Textfassungen an neue Bühnen mit und orientieren sich bei deren Auswahl an einem Ideal der Sangbarkeit.

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Basis für die meisten Textfassungen stellen vier frühe deutsche Übersetzungen dar, die einer umfassenden Analyse unterzogen werden. Dabei kommt die Autorin zum Schluss, dass in den meisten Fällen der Erstdruck der Partitur (nicht der des Librettos) als Vorlage für Übersetzungen gedient hat. Die Analyse wird nach den oben erwähnten Äquivalenzkriterien aufgeschlüsselt. Die textnormative Äquivalenz beschreibt dabei die strukturelle Ebene des Textes – im Falle der deutschen Übersetzungen der Muette ändert sich die Szeneneinteilung häufig, Nebentexte werden stark verkürzt. Bei der formalästhetischen Äquivalenz geht es um den Einsatz rhetorischer Mittel: Reime und Verskadenzen bleiben in den untersuchten Übersetzungen meist erhalten, nicht aber Wort- und Satzfiguren.

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Im Rahmen der medialen Äquivalenz werden Text-Musik-Bezüge untersucht – Übersetzer/innen stehen hier vor dem Problem der als unsanglich geltenden deutschen Prosodie. Durch Konsonantenhäufungen entstehen schwer zu singende Lautkombinationen, durch den deutschen Wortakzent sind die Möglichkeiten zur Silbenverteilung auf Taktzeiten beschränkt. Das Ideal der Sanglichkeit spielt in den meisten Übersetzungsentscheidungen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Durch Musik hervorgehobene Schlüsselworte werden dagegen in den meisten Fällen nicht übernommen.

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In Bezug auf die inhaltliche Äquivalenz der Textfassungen stellt die Autorin fest, dass politische Aussagen des französischen Librettos häufig entschärft werden. Diese sehr interessante Beobachtung wird im Zusammenhang mit Zensurgesetzen im deutschsprachigen Raum untersucht. Das wenig erforschte Thema der Theaterzensur wird anhand eines Wiener Zensurberichtes eingeführt. Der Bericht macht deutlich, dass auf deutschsprachigen Bühnen sowohl das monarchische System, Herrscherfiguren, den Adel oder das Ständesystem kritisierende Darstellungen als auch die Thematisierung von Revolten problematisch sind – La Muette bietet in dieser Hinsicht großes Konfliktpotential. Die Vorgaben der Theaterzensur können viele inhaltliche Veränderungen erklären, die in deutschsprachigen Librettoübersetzungen der Muette auftauchen. Die negative Darstellung des adeligen Personals wird hier beispielsweise häufig entschärft, die thematisierten Konflikte werden personalisiert und die Helden aus dem Volk entidealisiert.

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Übersetzung oder Adaption?

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Die von der Autorin zum Zweck der Bewertung zielsprachlicher Texte vorgenommene Unterscheidung zwischen »Übersetzungen« und »Adaptionen« bleibt dabei vage. Eine Adaption liege dann vor, »wenn bei der zielsprachigen Wiedergabe keine Übersetzung im strengeren Sinne geleistet, sondern eine Adaption an die zielsprachige Kultur intendiert« sei (S. 226). Diese Bestimmung wirft mehrere Fragen auf: Findet nicht bei jeder Übersetzung eine Auseinandersetzung mit einer zielsprachlichen Kultur statt? Ist nicht gerade diese Auseinandersetzung Thema der Studie? Wieso bleibt eine zu rekonstruierende Intention des Übersetzers/der Übersetzerin bestimmendes Kriterium für die Gattungsunterscheidung? Wird die Adaption als Unterart der Übersetzung mit veränderter inhaltlicher Äquivalenzrelation verstanden? Wieso wird die Adaption insgesamt als »freiere« Textfassung begriffen (S. 283), wenn auf anderen Äquivalenzebenen (wie etwa der formalästhetischen) sehr strenge Ähnlichkeitsforderungen gelten können?

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Im Falle einer Adaption sollen nun andere Ansprüche in Bezug auf Äquivalenzforderungen gestellt werden, die »Bewertung der Texte« (S. 226) könne nicht in gleicher Weise vorgenommen werden. Der Anspruch einer normativen Analyse nach historischen Kriterien wird dabei nicht in jedem Fall eingelöst. In den untersuchten Übersetzungen scheint zum Beispiel das Kriterium der Sangbarkeit häufig wesentlicher zu sein als eine inhaltlich-semantische Ähnlichkeit der Texte. Derartige Übersetzungsentscheidungen werden aber als »Verstöße« gegen eine nicht näher definierte »Texttreue« bezeichnet (S. 280) und nicht deutlich in einen historischen Zusammenhang gestellt. Die Gegenüberstellung der verschiedenen Textfassungen, die viele überaus interessante Zusammenhänge erhellt, würde ohne Bewertungen nach nicht immer klaren Kriterien gewinnen. Rückschlüsse auf historische Übersetzungspraktiken und -normen sind eher möglich, wenn nicht im Vorhinein eine Bewertung der Texte vorgenommen wird.

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La Muette in Konzert- und Ballsaal, Schule und Salon

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Von großem Interesse ist auch der vierte Teil der Arbeit, der sich mit der Rezeption der Muette als breitem gesellschaftlichen Phänomen abseits der Opernbühne beschäftigt. Die Autorin berücksichtigt hier eine Vielzahl von Opernbearbeitungen, die in der Forschung noch immer zu Unrecht vernachlässigt werden. Dabei werden die Bearbeitungsformen und unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexte der Quellen analysiert. So lässt sich zeigen, dass die Oper in praktisch allen Bereichen des zeitgenössischen Musiklebens präsent ist.

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Im öffentlichen Konzertleben der beiden Sprachräume spielt La Muette de Portici eine herausragende Rolle, vor allem im Zusammenhang mit dem im 19. Jahrhundert allgegenwärtigen Virtuosentum. So findet ein europaweiter Vertrieb von technisch anspruchsvollen instrumentalen Bearbeitungen bekannter Opernnummern statt, die häufig in Form von Variationen gehalten sind. Auch in Freiluftkonzerten, die breiteren Gesellschaftsschichten zugänglich sind, werden Bearbeitungen der beliebtesten Opernnummern gespielt.

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Nicht zu unterschätzen ist die Rolle, die Opernbearbeitungen für den Tanz als Massenvergnügen des 19. Jahrhunderts spielen. Tanzmusik-Kompositionen gehören zu den einträglichsten Quellen des Musikalienhandels, die in Reihen, Periodika und Sammlungen publiziert werden. Sie begleiten nicht nur öffentliche und private Tanzveranstaltungen, sondern sind beispielsweise auch als Vortragsstücke in bürgerlichen Salons beliebt. Opernmelodien werden häufig als Modetänze des 19. Jahrhunderts bearbeitet, die Taktarten werden dabei den Tänzen angepasst.

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Auch im Repertoire für das bürgerliche Musizieren ist La Muette omnipräsent. Begünstigt durch den industrialisierten Instrumentenbau und Notendruck entwickelt sich im 19. Jahrhundert ein eigenes Repertoire für das häusliche Musizieren. Es entstehen zahlreiche Bearbeitungen der Muette für Klavier, Melodie- und Begleitinstrument und für Instrumentalensembles verschiedenster Art. Die häufig in Reihen publizierten Stücke sind auf eine bestimmte Zielgruppe zugeschnitten. Die Bearbeitungen spielen eine entscheidende Rolle für die Verbreitung der Oper abseits einer kulturellen Elite in den französisch- und deutschsprachigen Metropolen. Sie dienen sowohl der Unterhaltung in bürgerlichen Salons als auch dem Instrumentalstudium und der Erweiterung der Repertoirekenntnis. So existieren sowohl Bearbeitungen der Oper als Werkeinführung mit Kommentaren als auch als an die Virtuosenliteratur angelehnte effektvolle Stücke mit moderaten technischen Anforderungen. Dabei nehmen Klavierauszüge, die nicht nur in der Hausmusik, sondern auch an Bühnen (als Rollen- oder Soufflierbücher) verwendet werden, eine Sonderstellung ein.

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Außerdem werden unter anderem Bearbeitungen der Muette in Liedsammlungen für Männergesangsvereine und Mädchenschulen untersucht, in denen es häufig zu Umtextierungen kommt. Einzelne Nummern der Oper werden auch als Märsche der Bürgergarden, als Kampflieder revolutionärer Studenten und als Arbeiterlieder aufgenommen. Thematisches Material aus der Oper wird so in verschiedenen historischen Zusammenhängen für unterschiedlichste politische Anliegen eingesetzt.

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Die untersuchten Quellen offenbaren ein großes Spektrum an Bearbeitungsformen – von der lockeren Themenbearbeitung einzelner Nummern bis zur Uminstrumentierung der vollständigen Oper. In der Mehrheit der Quellen sind allerdings ähnliche Bearbeitungstechniken zu erkennen: Es kommt häufig zu einer Auswahl der beliebtesten Nummern, die in veränderter Reihenfolge zusammengestellt, verkürzt und formal vereinfacht werden. Der musikalische Satz ist dabei mitunter stark reduziert, die Melodiestruktur häufig simplifiziert. Diese Art der Bearbeitung lässt eine große Breitenwirkung der Oper mit einer stark selektiven Werkkenntnis vermuten. Die Blütezeit der Bearbeitungen ist um das Jahr 1830 zu beobachten, als La Muette auch auf den Bühnen der beiden Sprachgebiete ihre größte Popularität erfährt. In Frankreich können sich die Opernbearbeitungen länger halten, was die Autorin damit erklärt, dass La Muette hier stärker als nationales Kulturgut begriffen worden sei.

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Fazit

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Die Autorin versteht es, in ihrer Studie über die Rezeption der Muette von 1828 Querverbindungen zwischen verschiedenen soziohistorischen, ökonomischen und kulturellen Phänomenen herzustellen. Beispielsweise wird die Opernrezeption während der 1830er-Revolution gekonnt gezeichnet und soziohistorische Ursachen für den Textwandel werden dem Leser/der Leserin deutlich vor Augen geführt. So werden etwa die Auswirkungen der Theaterzensur und der ökonomischen Bedingungen des Notenmarkts auf Rezeptionsformen der Oper überzeugend dargestellt.

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Die Arbeit basiert auf einem bemerkenswert reichen Fundus an Quellen und einer sehr breiten Literaturkenntnis. Die Breite der Untersuchung, die auch bisher wenig untersuchte Quellenarten einbezieht, erlaubt einen Blick auf das Gesamtphänomen der Opernrezeption, der nicht auf höfische Bühnen verengt ist, sondern die Wirkung der Oper unter anderem an Höfen, in bürgerlichen Salons und revolutionären Zirkeln verfolgt.

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Eine intensivere Auseinandersetzung mit grundsätzlichen Konzepten, auf denen die Fragestellungen der Arbeit basieren, würden viele der äußerst spannenden Ergebnisse leichter verständlich machen. So bleiben etwa der verwendete Werk- und Rezeptionsbegriff oder die vorgenommene Unterscheidung zwischen Übersetzung und Adaption unklar. Die normativen Textanalysen stehen den historischen Verortungen der Librettotexte zum Teil eher im Weg und verstellen den Blick auf historische Textpraktiken. Diese Kritikpunkte sollten den Wert einer so umfassenden Untersuchung – auch für weitere Studien zur Grand opéra – aber nicht vergessen lassen.

 
 

Anmerkungen

Bernd Spillner: Methoden des interkulturellen Sprachvergleichs: Konstrastive Linguistik, Paralleltextanalyse, Übersetzungsvergleich. In: Hans-Jürgen Lüsebrink / Rolf Reichhardt (Hg.): Kulturtransfer im Epochenumbruch Frankreich-Deutschland 1770 bis 1815. (Deutsch-Französische Kulturbibliothek 9) Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 1997, S. 103 – 130.

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