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Warum gibt es (noch) keinen postkolonialen deutschsprachigen Literaturkanon?

Aktuelle Studien auf der Suche nach Antworten

  • Herbert Uerlings / Iulia-Karin Patrut (Hg.): Postkolonialismus und Kanon. (Postkolonialle Studien in der Germanistik 2) Bielefeld: Aisthesis 2012. 361 S. Paperback. EUR (D) 34,80.
    ISBN: 978-3-89528-872-2.
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Der Konnex von Postkolonialismus und literarischem Kanon ist spätestens seit den anglo-amerikanischen Debatten der 1980er und 1990er Jahre ein wichtiges Fundament rezenter Kanontheorien. 1 Allerdings gilt dies sicher nicht für die Germanistik, in der der Postkolonialismus-Diskurs bisher eher wenig Aufmerksamkeit erfahren hat. Daher ist es sehr zu begrüßen, dass der von Uerlings und Patrut herausgegebene Tagungsband in dreizehn Beiträgen das Thema »Postkolonialismus und Kanon« in seinen verschiedenen Facetten untersucht. So ergiebig jedoch die Studien im Hinblick auf die Erschließung des kolonialistischen Segments der deutschsprachigen Literaturgeschichte sind und so forschungsinnovativ sich eine ›Postkolonialistische Germanistik‹ darstellt: zu einer »postkolonialen Revision des etablierten Kanons deutschsprachiger Literatur« (S. 34) trägt das Buch wenig bei, zumal viele Beiträge mit je eigenen, grob gefassten und wenig reflektierten Kanon-Theoremen arbeiten.

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Postkoloniale Germanistik: Erkenntnisinteressen und Grundlagen

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In ihrem Einleitungsessay »Postkolonialismus als Provokation für die Literaturwissenschaft« (S. 7–35) gehen Uerlings und Patrut von der richtigen Annahme aus, dass die »Germanistik […] den Postkolonialismus an den Orten ihrer Kanonbildungen […] bisher kaum aufgenommen« (S. 8 f.) hat. Den Grund dafür kann man nicht einfach abtun mit dem Hinweis auf die nur wenige Jahrzehnte währende Kolonialzeit des deutschen Kaiserreichs und den entsprechend geringen Einwanderungszahlen aus ehemaligen deutschen Kolonien. Der allen Studien gemeinsame Begriff des Postkolonialismus ist mit Recht weit gefasst: »Postkolonial[e] Studien« bilden »ein sinnvolles Paradigma zur Erforschung nicht nur der kolonialen und imperialen Vergangenheit Europas, sondern auch des Fortwirkens und der Transformation des Kolonialismus in der jüngeren Geschichte und Gegenwart« (S. 11), bis hin zu aktuellen politischen, sozialen und kulturellen Diskursen über Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Anti-Islamismus und Arbeitsmigranten in Deutschland. Historisch greift der postkoloniale Ansatz damit bis zu Herder und zu Goethe (u. a. zum Stichwort »Weltliteratur«) zurück. Er motiviert zugleich einen postkolonialen Blick auf hochkanonisierte Autoren wie Fontane, Raabe, Thomas Mann und Kafka, erschließt postkoloniale Konstellationen in der späten DDR-Literatur (u. a. bei Heiner Müller, Christa Wolf und Volker Braun) und bezieht zuletzt in einem der materialreichsten Beiträge, in Dirk Göttsches Überlegungen zur »Deutsche[n] Literatur afrikanischer Diaspora« (S. 327–360), inter- und transkulturelle Literaturparadigmen von Autorinnen und Autoren mit afrikanischen Wurzeln ein, die zum Teil in Deutschland leben, auf Deutsch veröffentlichen und deren Werke die »Frage postkolonialer Kanonrevision« (S. 327) unter aktuellen Bedingungen erneut aufwerfen.

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Vier Beiträge liefern unter der Überschrift »Theoretische Perspektiven« (S. 37–153) einige Ausgangsthesen zu Gegenstand und Methode postkolonialer Studien. Darunter sticht Uerlings‘ Studie »Postkolonialismus und Kanon. Beobachtungen und Thesen« (S. 39–66) besonders hervor, weil sie ausführlich und kenntnisreich Stationen literaturwissenschaftlicher Kanondebatten referiert und das eklatante Fehlen des postkolonialen Blicks in germanistischen Standardwerken (Handbüchern, Lexika, rezenten Literaturgeschichten wie David Wellberys »Neuer Geschichte der deutschen Literatur« 2 ) belegt. Der Essay spürt die Eigenarten und Widersprüche auf, mit denen beispielsweise »literarische Texte von Emine Sevgi Özdamar, Hafid Bouazza, Feridun Zaimoglu und Abdelkader Benali« (S. 48) wahrgenommen und öffentlichen Diskursen über Inter- und Multikulturalität und nationale Identität zugeordnet werden. Als »Indizien für die ›Kanonwürdigkeit‹« postkolonialer Literatur will Uerlings »vier Gruppen« voneinander unterscheiden: (1) »Dekonstruktion des kolonialen Imaginären«, (2) »Konstruktion postkolonialer Alteritäten«, (3) »Postkoloniale Schreibweisen« und (4) »Weltliterarische Perspektiven« (S. 53). Diese Zuordnungsmatrix beruht auf einem Verständnis von Literatur als einem einzigartigen, unverwechselbaren Medium, dessen »ästhetische Inszenierung kultureller Codes« die einzigartige, unverwechselbare Bedeutung von »Literatur als Kunst« (S. 52) ausmacht. Damit rekurriert Uerlings auf einen tradierten, in der Kanonforschung umstrittenen literarischen Wertbegriff, der »›Kanonwürdigkeit‹« 3 als genuin innerliterarischen, an poetischer Qualität orientierten Wert definiert:

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»Literarischer Wert lässt sich jenen Texten zuerkennen, deren postkoloniales Potential sich als poetisches Potential entfaltet, d. h. als differentielles Spiel mit dem kolonialen Imaginären und seinen Dichotomien, und die vice versa ihr postkoloniales Potential zur Erweiterung der poetischen Möglichkeiten nutzen.« (S. 53)
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Die Definition ermöglicht Uelings, »postkoloniales Potential« als »poetisches Potential« und damit als kanonbildendes Kriterium zu identifizieren. Ein literarischer Kanon lässt sich aber keineswegs auf die Konstruktion werkimmanenter Poesie-Potentiale reduzieren. 4 Schon der Prozess kanonischer Wert-Zuschreibung war und ist von Interessen, Selbstverständnissen, machtförmigen Einflüssen und performativen Praxen von Instanzen abhängig, die die Macht haben, literarische Kanones zu produzieren und diese in der repräsentativen Kultur einer Gesellschaft zu verankern und interessengeleitet zu verändern. Was »poetisches Potential« sein und Kanon-›Würde‹ erlangen soll, ist bereits – verstanden als Inklusions- oder Exklusionsprinzip – Teil des Kanonhandelns und kein diesem Handeln vorgelagerter, literaturimmanenter Interpretationsvorgang. Indem Uerlings und nach ihm die meisten Beiträgerinnen und Beiträger des Sammelbandes Kanonhandeln auf germanistische Deutungsprozesse reduzieren und die Rolle, den Einfluss, die kulturelle Macht und das institutionelle Handeln von Kanon-Instanzen faktisch aus ihren Analysen ausblenden, reduzieren sie die hoch komplexe Frage nach »Postkolonialismus und Kanon« auf eine akademische Debatte um literarische Wertungen.

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Diese problematische Verkürzung 5 hat schon bei Uerlings Konsequenzen, wenn er am Schluss exemplarische Vorschläge für einen »postkoloniale[n] Poetiken« entsprechenden Kanon entwickelt: »Literarischen Wert kann man im Rahmen eines evaluativen Umgangs mit postkolonialer Literatur mit guten Gründen jenen Texten zumessen, die eines oder mehrere der [vier, H.K.] genannten Kriterien [s. o.] in besonderem Maße erfüllen« (S. 64).

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Um Missverständnissen vorzubeugen: Die interpretatorischen Leistungen postkolonialer Studien sind nicht zu leugnen. Uerlings selbst hat in einem weiteren Beitrag –»Postkoloniale Radikalisierung? Postkolonialismus und Kanon in der späten DDR-Literatur« (S. 289–313) – am Beispiel von Heiner Müller (u. a. Der Auftrag und Medeamaterial), Volker Braun (u.a. Das innerste Afrika und Transit Europa) und Christa Wolf (Kassandra und Medea) nachgewiesen, welche gesellschaftskritische Kraft und welches utopische Potential aus den poetischen Parteinahmen für die widerständische, rebellische ›Dritte Welt‹ jenseits der großen Metropolen die drei Kanongrößen der DDR-Literatur zu entfalten versuchten. Mit Wolfgang Hilbigs Erzählung Der Heizer (1982) stellt Uerlings zu Recht einen nicht-kanonischen Text dagegen, der den utopistischen Revolutionsmythos in seine radikale Dekonstruktion des revolutionären Subjekts einbezieht. Vor diesem Hintergrund gelesen, vermag Uerlings die Grenzen der »postkoloniale[n] Radikalisierung« in der DDR-Literatur pointiert zu benennen: »Die vorgeblich postkoloniale Radikalisierung diente der Kanonisierung einer ›großen Erzählung‹ und damit einer politischen und kulturellen Kolonialisierung« (S. 313). Freilich: Der DDR-Literaturkanon selbst wird bei Uerlings an keiner Stelle analysiert, sondern als gegeben vorausgesetzt, so dass die Frage, welchen Anteil die Literaturkritik und Literaturwissenschaft der Bundesrepublik Deutschland an der Nicht-Kanonisierung Hilbigs und an der in Permanenz fortgeschriebenen ›großen Erzählung‹ revolutionärer Utopien gehabt hat, erst gar nicht gestellt wird. So überzeugend Uerlings die Grenzen des postkolonialen Blicks in der späten DDR-Literatur aufdeckt: Das unterkomplexe Kanonverständnis verhindert a priori tiefere Einsichten in die Mechanismen der über den DDR-Kanon entscheidenden Instanzen und die Strategien der beteiligten Kanon-Akteure.

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Metaebene I: Postkolonialismus-Forschung im selbstkritischen Blick

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Den internen Diskurs der Postkolonialismus-Forschung untersucht eingehend Monika Albrechts Essay »Doppelter Standard und postkoloniale Regelpoetik. Eine kritische Revision Postkolonialer Studien« (S. 67–111), einer der umfangreichsten Beiträge des Buches. Es besticht die Breite der Argumentation, die nicht nur den Begriff des Postkolonialismus kritisch reflektiert, sondern insbesondere die okzidentale Perspektive und Wertungspraxis bis ins Detail auf ihre Standards hin analysiert. Eher vage bleibt das im Titel genannte Stichwort »postkoloniale Regelpoetik«, zumal die Frage, was unter dem Antonym einer ›kolonialen Regelpoetik‹ genau zu verstehen sei, nicht gestellt wird. Umso markanter jedoch ist eine scharfsinnige Beobachtung im Schlussteil des Beitrags, der die dichotome Struktur des westlichen Überlegenheits- und ›Superioritäts‹-Verhaltens einerseits und der außereuropäischen ›Inferioritäts‹-Konstruktion andererseits dialektisch auflöst – in der These einer wechselseitigen, dynamischen Relation:

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»Wenn es so ist, dass sich Europa erst geschaffen hat in der Abgrenzung von einem differenten außereuropäischen Anderen, dann hat dieser Prozess sicherlich auf der anderen Seite ebenfalls stattgefunden. Auch die Kolonialisierten haben auf ihrem Anderssein insistiert, und kulturelle Differenz ist von beiden Seiten als Synonym für kulturelle Überlegenheit verstanden worden.« (S. 107)
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Innerhalb des Sammelbandes eröffnen Albrechts Überlegungen eine für Postkolonialismus-Studien fundamentale Metaebene, die im Kern eine ständige Selbstüberprüfung des eigenen Anspruchs und der eigenen Blickperspektive einfordert. Einen originären Beitrag zur Kanonfrage bietet Albrecht indes nicht.

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Metaebene II: ›Weltliteratur‹ – Zur Tauglichkeit eines tradierten Begriffs

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Wie überraschend ergiebig die Rekonstruktion einer historischen Position zum Literaturkanon sein kann, illustriert Norbert Meckenburgs Aufsatz »›Kanon‹ und ›Weltiteratur‹ auf interkulturellem und postkolonialem Prüfstand (S. 113–133). Zweihundert Jahre nach Goethes konzeptionellem Entwurf zur ›Weltliteratur‹ erweist sich der universalistische Horizont des inter- und transnationalen Vernetzungsmodells als ein ebenso pragmatischer wie reflektierter Modus zur aktuellen Konstruktion literarischer Kanones. Hatte Goethe damit schon im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts einen Gegenentwurf zum ungleich erfolgreicheren Konnex von ›Kanon und Nation‹ geschaffen – dem bis heute vorherrschenden Kanonisierungsansatz von ›Nationalliteraturen‹ –, so zielt, wie Mecklenburg schlüssig entwickelt, Goethe »auf eine Lesekultur geistiger Offenheit und kreatürlicher Solidarität für alles Menschliche und Lebendige« (S. 118).

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Mecklenburg schränkt allerdings ein, dass Goethes »Idee eines offenen Kanons« zwar einen Anteil »interkulturellen Potentials« umfasst, dass Goethe aber im deutlichen Gegensatz zu Herder »die von Europa ausgehende Gewalt und Zerstörung in Form von zunächst innereuropäischem, dann auch weltweitem Kolonialismus« – mit Mecklenburgs Worten – schlicht »weggedacht« (S. 119) habe; es sei schließlich »Goethes Diskursdominanz« zuzurechnen, dass der »kritische Begriff von Weltliteratur, den Herder ausgearbeitet hat, […] dann zweihundert Jahre lang liegen geblieben« (S. 121) sei. Aus meiner Sicht ist diese dichotomische Zuspitzung in dem Maße problematisch, wie sie die in der Herder-Forschung intensiv geführte Debatte um National-Stereotypien und Klischees des Ursprünglichen, des Fremden und des Anderen 6 auf eine bloße Vorläuferschaft postkolonialer Literaturverständnisse reduziert und die im 19. und 20. Jahrhundert verbreiteten Polemiken national gesinnter deutscher Literarhistoriker und Literaturwissenschaftler gegen Goethes Konzeption von ›Weltliteratur‹ und dessen kosmopolitische, antinationale Zielrichtung ausblendet. 7

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Trotzdem gehört Mecklenburgs Beitrag zu den wenigen Essays, welche die performative Seite eines aktuell adaptierten Weltliteratur-Konzepts berücksichtigen: Lehrprogramme, Anthologie-Konzepte und Lexikon-Projekte wie die 2009 erschienene, gründlich revidierte 3. Auflage des Kindler, 8 den Mecklenburg als Beispiel für eine deutliche Abkehr von der tradierten »eurozentrischen« (S. 125) Konzeption der beiden Vorgänger-Auflagen anführt. Zugleich bezieht Mecklenburg Prämissen der Medienkultur und des Postmodernismus in sein Kanonverständnis ein und fragt nach den Konsequenzen für ständig im Wandel befindliche Kanonisierungspraxen. So verweist er mit Blick auf Bloom 9 darauf, »dass der postmoderne Kulturalismus paradoxerweise neue Hierarchisierungen und Exklusionen von Literatur mit sich bringt, wobei oft an Stelle von echter Offenheit für universale Diversität partikularistische, identitätspolitische Gegeninteressen wirksam sein können« (S. 127). Damit werden Mechanismen sichtbar, die jenseits gelehrter Plädoyers für gewisse Kanonrevisionen und gut gemeinte alternative Literaturlisten mit postkolonialer Signatur das Kanonhandeln in einer globalisierten, hybride strukturierten Kultur bestimmen; vor allem wird nach den Akteuren gefragt, die heute über Kanon-Macht und entsprechende Ressourcen verfügen, literarische Kanones aufzurichten.

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Kanon-Diffusionen

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Leider entfernen sich die folgenden Beiträge des Sammelbandes sehr weit von Mecklenburgs Sicht auf die performative Seite des Kanonhandelns. Die diskursive Ausfaltung des komplexen Phänomens ›Literaturkanon‹ verengt sich auf die oberflächliche, weit hinter den Stand der Kanonforschung zurückfallende Annahme, dass verständig vorgetragene germanistische Interpretationen literarische Kanonisierungsprozesse wirklich tangieren können. Zugespitzt: Kanonhandeln wird primär als eine Sache der Hochschulgermanistik verstanden und, wie diffus auch immer, als Fachkanon wahrgenommen, ohne auch nur im Ansatz die Rolle der Akteure und die kulturellen Dimensionen akademischer Rituale mitzureflektieren.

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Dass sogar Postkolonialismus-Studien vor eurozentrischen Fragehorizonten nicht gefeit sind, belegt Sabine Wilkes Beitrag »Von der Kolonialfotografie zu Google Earth« (S. 157–179), mit einem Thema also, dass schon wegen seines medialen Erkenntnisinteresses die kulturwissenschaftliche Bedeutung des Postkolonialismus hätte exemplifizieren können. Stattdessen verharrt Wilke im ›Allerheiligsten‹ tradierter Ästhetik-Diskurse und schreibt, wie es im Untertitel des Aufsatzes heißt, über die »Rolle des Erhabenen in der postkolonialen Ästhetik« (S. 157), so dass der Leser über Kolonialfotografien recht wenig und über Google Earth nichts erfährt – und selbstverständlich auch nichts über Kanonisierungsprozesse.

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Ein krasses Beispiel für den unreflektierten Gebrauch des Kanonbegriffs liefert Franziska Schößlers Essay »Konstellatives Lesen. Kanonliteratur und ihre populärkulturellen Kontexte« (S. 135–153), der einen methodologischen Vorschlag zur Re-Lektüre bestimmter Kanonwerke enthält:

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»Plädiert wird hier […] für eine Integration hochkultureller Texte, in die Populärliteratur ihrer Zeit bzw. umgekehrt, denn eine solche Konstellierung kann zu einer Neulektüre der kanonischen Texte gegen die stabilisierenden und das heißt exkludierenden Bahnungen der Rezeption führen, die auch festlegen, welche Partien für die Interpretation relevant zu sein scheinen.« (S. 139)
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Die Reaktivierung von Begriffen wie »Populärkultur« und »Hochkultur« (S. 138) erscheint kanongeschichtlich wenig plausibel. Schillers Drama »Wilhelm Tell« war im 19. Jahrhundert in allen Kanoninstanzen bis hin zu den Amateurbühnen derart populär, dass die Verse zu alltäglichen Redesentenzen wurden. Und welche analytische Kraft hat die Dichotomie unter Gegenwartsbedingungen? Es handelt sich um Setzungen, die, diskutiert im Zusammenhang von Postkolonialismus und Kanonbildung, zum Kanondiskurs kaum etwas beitragen, vor allem nicht, wenn es um ein Plädoyer für Kanonrevisionen geht: Der Vorschlag, von literarischen Kontexten her sich Kanontexten zu nähern, erscheint plausibel, wenn er Erkenntnisgewinn und neue Interpretationsperspektiven eröffnet. Die »hochkulturelle[n] Texte« werden in ihrem kanonischen Status eher gefestigt und sogar neu legitimiert, indem so genannte »Populärliteratur« dazu dient, Deutungen von Kanonwerken zu erweitern. »Populärliteratur« wird auf ihre instrumentelle Dimension als Reservoir von Kontext-Materialien reduziert: »Konstellatives Lesen« ist ein prinzipiell sicherlich ergiebiges (und keineswegs neues) Verfahren literarischer Intertextualität; was es zum Thema des gesamten Buches beiträgt, erschließt sich dem Leser nicht.

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Göttsche bestätigt eine Annahme älterer Kanonforschung: Kanonwerke sind gerade daran zu erkennen, dass sie bedeutungsoffen sind und daher immer neu gelesen und genutzt werden können. 10 Werke des Kernkanons – das lässt sich an prominenten Beispielen wie Kleist oder Kafka seit Jahrzehnten bestätigen – halten mühelos sozialgeschichtliche, psychoanalytische, poststrukturalistische, dekonstruktive, diskursanalytische und sicher auch postkoloniale Deutungen aus. Gabriele Dürbecks Beitrag über »Wilhelm Raabes Stopfkuchen als Beispiel eines postkolonialen Deutungskanons« (S. 207–235), Andrea Geiers Überlegungen zur Frage »Wer soll Gustav Freytags Soll und Haben lesen? Zu den kanonischen Qualitäten eines antisemitischen Bestsellers« (S. 237–260) und auch Iulia-Karin Patruts Essay »Kafkas ›Poetik des Anderen‹, kolonialer Diskurs und postkolonialer Kanon in Europa« (S. 261–288) bekräftigen den Eindruck, dass ein kritischer postkolonialer Blick ergiebige Interpretationen ergibt. Kanontheoretisch erscheinen sie jedoch wenig erhellend. Dabei sind etwa Dürbecks Ausführungen zum späten Raabe-Roman Stopfkuchen überzeugende, gut fundierte postkoloniale Interpretationsparadigmen; aber sind sie damit gleich das »Beispiel eines postkolonialen Deutungskanons«? Noch problematischer ist das Kanonverständnis Andrea Geiers. Freytags Roman ist keineswegs ein historisches Bestseller-Beispiel 11 , sondern ein Paradigma für den kulturellen Kanongebrauch, für die performative Seite der literarischen Kanonnutzung innerhalb des protestantischen Bildungsbürger-Milieus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts: Der Roman war ein fest etabliertes Konfirmations- und Abiturgeschenk, und zwar lange bevor sich Hochschulgermanisten damit befassten. Er hatte einen kanonischen, identitäts- und gruppenbildenden Wert für den Aufbau und die Stützung eines milieuspezifischen sozialen Habitus. Geier klammert diese (hier nur grob skizzierte) Dimension des Kanonhandelns und damit die performative Dimension eines der erfolgreichsten Romane des 19. Jahrhunderts völlig aus, eines Klassikers freilich, dessen kanonische Wirkung in dem Moment erlosch, in dem die ihn hoch schätzenden Kanonakteure kein »kulturelles Kapital«, 12 keinen sozialen Distinktionsgewinn, keinen befeuernden Stoff für die eigene antisemitische Haltung mehr produzieren konnten. Vor diesem Horizont erscheinen Geiers durch bloße Interpretation gewonnenen Überlegungen zu den »kanonischen Qualitäten eines antisemitischen Bestsellers« aus meiner Sicht, vorsichtig formuliert, das Resultat eines klassischen hermeneutischen Zirkelschlusses zu sein:

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»Fasst man Kanon neutral als ›Speichermedium kultureller Traditionen‹ (Träger eines ›kulturellen Gedächtnisses‹) auf, erscheint es nicht nur zulässig, sondern unbedingt notwendig, auch prominente Texte wie Soll und Haben, die tendenziell in eine Art ›Negativkanon‹ ausgelagert wurden, einzubeziehen.« (S. 257)
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Die proklamierte Wiederentdeckung von Freytags Roman als Kanontext missversteht einen der wichtigsten Grundsätze literarischer Kanonprozesse: Weil der literarische Kanon grundsätzlich offen ist für einen sich kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Veränderungen anpassenden Wandel, ist er eben kein bloßer Speicher, sondern – als kulturelles »Funktionsgedächtnis« 13 – eine aktive, durch symbolische Handlungen des Kanongebrauchs ständig erneuerte, lebensweltlich verankerte Produktion kulturellen Kapitals. Freytags Roman hat diese Funktion längst verloren, weil die Kanonarchitektur, die er repräsentierte und in der er wertschätzend genutzt wurde (gern auch als bibliophiles Privatbibliotheksstück samt Goldschnitt und Lederrücken), 14 längst untergegangen ist. Er mag noch fürs Seminar taugen, aber irgendeinen kanonischen Wert kann ihm kein Interpretationsaufsatz mehr zurückgeben.

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Fazit

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Der Gesamteindruck des umfangreichen Buchs bleibt zwiespältig. Am überzeugendsten sind die Beiträge dort, wo sie paradigmatisch die Möglichkeiten postkolonialer Forschung zeigen, wie etwa in Florian Krobbs Reiseliteratur-Analyse »›An dem glühenden Ofen Afrika’s, da ist mein Plätzchen‹. Eduard Vogel und die Wege ins Innere« (S. 181–206) und in Dirk Göttches souveränem Überblick »Deutsche Literatur afrikanischer Diaspora« (S. 327–360), der Strukturen eines postkolonialen Subkanons andeutet. Welche der vielen vorgestellten Namen und Werke später zu einer »postkoloniale[n] Kanonrevision« (S. 327) führen können, lässt sich heute sicherlich noch nicht näher bestimmen, weil die meisten der genannten Titel und Akteure die rezente Gegenwartsliteratur betreffen. Wer sich über die Stärke und Vielfalt germanistischer Postkolonialismus-Studien informieren will, erhält im Sammelband Anregungen und Arbeitsimpulse. Die eklatante Schwäche des Ganzen aber liegt im oberflächlichen, dem Forschungstand nicht entsprechenden Umgang mit dem Phänomen des Kanons. Das Gesamtergebnis ist paradox: Während beispielsweise im anglo-amerikanischen und frankophonen Bereich der Postkolonialismus-Diskurs längst eine breit geführte Kanon-Debatte ausgelöst und eine erfolgreiche Revision tradierter, eurozentrischer Kanones eingeleitet hat, gilt nach wie vor die in der Einleitung knapp umrissene Ausgangssituation: »Die germanistische Kanon-Debatten haben grosso modo den Postkolonialismus links liegen gelassen« (S. 8). Daran hat das Buch nichts geändert. Und es ist mit guten Gründen zu bezweifeln, ob ein Kanonverständnis, das den lebensweltlichen Rahmen, die komplexen Prozesse literarischen Kanonwandels und die kultursoziologischen Grundlagen des Kanonhandelns systematisch ausgrenzt, überhaupt zu einer Kanon-Revision beitragen kann.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Paul Lauter: Canon and Contexts. New York: Oxford University Press 1991; Harold Bloom: The Western Canon. The Books and School of the Age. New York: Harcourt Brace 1994.   zurück
Vgl. David E. Wellbery: Eine neue Geschichte der deutschen Literatur. Aus dem Englischen. Berlin: Berlin Univ. Press 2007.   zurück
Auch wenn Uerlings den Begriff in gestische Zeichen setzt, ist sein Kanon-Verständnis stark normativ ausgerichtet; paradoxerweise teilt er den normativen Ansatz mit prominenten Gegnern literarischer Kanonpluralität, vgl. Harold Bloom (Anm. 1). Zu normativen Kanontheorien vgl. Matthias Freise: Normative Kanontheorien. In: Gabriele Rippl / Simone Winko (Hg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. Stuttgart, Weimar: Metzler 2013, S. 50–58.   zurück
Literaturwissenschaftliche Standardwerke deutschsprachiger Kanontheorien basieren auf der Infragestellung normativer Kanon-Setzungen; vgl. paradigmatisch Renate von Heydebrand (Hg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. (Germanistische Symposien Berichtsbände 19) Stuttgart, Weimar: Metzler 1998.   zurück
Charakteristisch für das gesamte Buch ist die weitgehende Negation literarischer Feldtheorien und kultursoziologischer Ansätze.    zurück
Vgl. Sabine Groß (Hg.): Herausforderung Herder. Ausgewählte Beiträge zur Konferenz der Internationalen Herder-Gesellschaft, Madison 2006. Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren 2010; zur Problematik vgl. auch grundlegend Ruth Florack: Bekannte Fremde. Zur Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur. Tübingen: Niemeyer 2007.   zurück
Zu Goethes Plan eines weltliterarischen, kosmopolitisch angelegten Schulkanons vgl. ausführlicher Helmut Schanze: Literaturgeschichte und Lesebuch. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann 1981.   zurück
Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Kindlers Literatur-Lexikon. 3., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart, Weimar: Metzler 2009, 18 Bände.   zurück
Vgl. Harold Bloom (Anm. 1).   zurück
10 
Vgl. grundlegend Karl Eibl: Textkörper und Textbedeutung. Über die Aggregatzustände von Literatur, mit einigen Beispielen aus der Geschichte des Faust-Stoffes. In: Renate von Heydebrand (Hg.): Kanon Macht Kultur (vgl. Anm. 4), S. 60–77.   zurück
11 
Besteller und Kanonwerke unterscheiden sich gerade dadurch, dass der Kanon sich Werke mit ungleich längerer Aufmerksamkeitsdauer einschreibt, während Besteller-Literatur bis heute einen zwar sehr hohen, aber in aller Regel sehr kurzfristigen Aufmerksamkeitswert haben. Insofern ist Freytag sicherlich kein Besteller des 19. Jahrhunderts gewesen, sondern ein schon früh kanonisiertes Werk des deutschen Bildungsbürgertums.   zurück
12 
Vgl. zu Bourdieus Kapital-Begriffen Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982.   zurück
13 
Für die deutschsprachige Kanonforschung hat Aleida Assmann schon in den 1990er Jahren mit ihrer Unterscheidung von »Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis« den für literarische Kanonbildungen zentralen Zusammenhang divergenter kultureller Erinnerungsmodi herausgestellt: Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 1999, S. 130; vgl. auch Aleida Assmann: Kanonforschung als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Renate von Heydebrand: Kanon Macht Kultur (vgl. Anm. 4), S. 47–59: »Im Zeichen eines Kanons wird Lektüre unweigerlich zur Lebensform, sei es im Sinne der geschlechts- und schichtenspezifischen Menschenbildung […], sei es im Sinne der universalen Menschenbildung […], sei es im Sinne der kolonialen Erziehung […]«(S. 59).   zurück
14 
Zwar nicht für Freytags »Soll und Haben«, aber für sein ebenso kanonisches, vom Antisemitismus infiziertes Werk Die Ahnen hat Heinz Friedrich, der langjährige Leiter des Deutschen Taschenbuch Verlags, in seinen Erinnerungen »Erlernter Beruf: keiner« anschaulich geschildert, wie er 1934 das sechsbändige Werk in einer populären »Volksausgabe« als Weihnachtsgeschenk erhielt und wie er sich in den folgenden Monaten »regelrecht verstrickt« hatte »in die menschlichen Verstrickungen der Historie« (Heinz Friedrich: Erlernter Beruf: keiner. Erinnerungen an das 20. Jahrhundert. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2006, S. 92).   zurück