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Die wichtigste Wagner-Publikation des Jubiläumsjahres 2013

  • Martin Schneider: Wissende des Unbewussten. Romantische Anthropologie und Ästhetik im Werk Richard Wagners. (Studien zur deutschen Literatur 199) Berlin, Boston: Walter de Gruyter 2013. 431 S. Gebunden. EUR (D) 99,95.
    ISBN: 978-3-11-029276-3.
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Die Wagner-Forschung nimmt innerhalb der Philologie eine befremdliche Sonderstellung ein. Die nach wie vor ungeheure Publikumswirkung Wagners, seine ungebrochene Attraktion auf die Matadore des Regietheaters schwemmt stets von neuem eine Fülle von publizistischem Rat und Unrat aus mehr oder minder zuverlässigen Quellen hervor, die das klare und nüchterne wissenschaftliche Urteil häufig mehr behindern als fördern. Vor allem ist oft ein kontinuierlicher Fortschritt der Erkenntnis zu vermissen, da die allzu häufig selbstverliebten Autoren die Erträge früherer Forschung nur ungern zur Kenntnis nehmen und glauben, das Rad stets von neuem erfinden zu müssen. Selbstverständliche philologische Standards werden bei Wagner nicht selten außer Kraft gesetzt, und wer noch auf jene Standards pocht, wird von der zeitgeistdienlichen Presse gern apologetischer oder altbackener Haltung bezichtigt.

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So hat Martin Schneider, dem die nach der unverbindlichen Meinung des Rezensenten (aber wann wäre die Wagner-Forschung zu verbindlichen Einsichten gelangt) wichtigste und bedeutendste Wagner-Publikation des Jubiläumsjahres 2013 zu danken ist (obwohl es sich um eine interdisziplinäre Münchner Dissertation handelt, die eher zufällig in diesem Jahr erschienen ist), leider nur allzu recht, wenn er konstatiert, dass die philologische Beschäftigung mit Wagner, von rühmlichen Ausnahmen abgesehen, methodisch recht wenig Neues zustande gebracht hat und hinter dem allgemeinen Niveau der philologischen Disziplinen zurückbleibt. Der sehr selbstbewusste und mit der Forschung (auch übrigens mit den Schriften des Verfassers dieser Rezension) recht respektlos umgehende, manchmal vielleicht ein wenig zu oberlehrerhaft zensierende Autor entsorgt in seiner Monographie das Gestrüpp und die Schlingpflanzen aller philologisch unzuverlässigen, ständig dasselbe repetierenden oder ideologisierten Wagner-»Forschung« (welche diesen Namen vielfach kaum verdient), und plötzlich schwimmen wir befreit in einem klaren Gewässer, in dem die Konturen der untersuchten Gegenstände deutlich vor uns stehen.

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Schneider kennt wirklich alles über Wagner Geschriebene von irgendwelchem Belang, setzt sich damit in einem reichen Fußnotenteil kritisch auseinander, überlastet seine eigene neue Sicht auf Wagner jedoch erfreulicherweise nicht durch die Forschungskritik. Es handelt sich hier um eine zwar außerordentlich anspruchsvolle, aber in einer vorzüglichen wissenschaftlichen Prosa geschriebene Untersuchung, ohne deren Kenntnis es in Zukunft schlechterdings nicht mehr möglich ist, vernünftig über Wagners ästhetische Konzeptionen zu reden. Es versteht sich von selbst, dass eine Monographie dieses intellektuellen Rangs an der auf Modisches erpichten Wagner-Journalistik dieses Jahres gänzlich vorbeigegangen ist. Schneider verbindet hohe philosophische, literaturwissenschaftliche und – das ist ihr ganz besonderer Vorzug – musikologische Kompetenz. Interdisziplinarität wird hier nicht nur verkündet, sondern wirklich auf höchstem Niveau praktiziert.

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Wagner und die romantische Anthropologie

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Der zentrale Ansatz Schneiders ist der Rückbezug Wagners auf die romantische Anthropologie. »Mit dieser konsequenten Rückbesinnung auf die Romantik nimmt Wagner in seiner Zeit eine Sonderstellung ein. Trotzig halten seine Musikdramen mitten in der positivistischen und fortschrittsfreudigen Jahrhundertmitte an jenen Ideen fest, die in der Literatur des Realismus kaum eine Rolle mehr spielen« (S. 188) – die in der postrealistischen Literatur aber wieder bedeutsam werden, so dass Wagner gerade durch die Rückbesinnung auf die Romantik zum Wegbereiter der Moderne wird.

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Welche Rolle die deutsche Romantik für Wagner gespielt hat, ist in zahllosen Untersuchungen dargestellt worden. Schneider geht es jedoch nicht um stoffliche Gemeinsamkeiten, sondern um anthropologische Strukturen. Und diese verbinden Wagner weit unmittelbarer mit der Romantik als mit Schopenhauer, dessen Bedeutung für Wagner Schneider vor diesem Hintergrund stark relativiert. Das Hauptthema der Monographie ist – dem Wagner selber entliehenen Titel gemäß – der »unmögliche Begriff« (S. 13) des bewusst werdenden Unbewussten in der romantischen Literatur einerseits, im Werk Wagners anderseits (exemplarisch im Motiv des Erwachens zutage tretend) und die mit ihr verbundene Diagnose einer aporetischen Subjektivität. Zu den aufregendsten Erkenntnissen der Arbeit gehört die bisher noch nie so überzeugend herausgestellte Gemeinsamkeit Wagners und Kleists (den Schneider ebenso wie Hölderlin gegen den Konsens der Forschung als Romantiker bezeichnet) in der Zeichnung ihrer Figuren und deren modern gebrochener Subjektivität.

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Die Romantiker sind die Entdecker der Nachtseiten des menschlichen Gemüts. Sie haben das ,große Andere’: das Unbewusste – welches das Subjekt positiv wie negativ übermächtigt, fasziniert und bedroht, seine Zerbrechlichkeit hervortreten lässt – ins Zentrum ihrer theoretischen und poetischen Konzeptionen gerückt, zugleich aber die Bewusstwerdung des Unbewussten. Dieses bildet den – von der Reflexion freilich nicht auszulotenden – Grund und Ursprung des Bewusstseins. Hier befindet sich Wagner als Theoretiker wie Dramatiker unmittelbar auf romantischem Boden. Bewusstsein und Unbewusstsein stehen in einem ständigen Wechselverhältnis, sind aufeinander angewiesen, aneinander gekettet. Sie sind die Doppelgänger des menschlichen Gemüts (das Doppelgänger-Motiv hat hier seinen Grund: der Doppelgänger des Unbewusstseins, der das Subjekt in seinem Bewusstsein fasziniert und bedroht, ja zu vernichten droht). Die Nacht, welche die Konturen und Grenzen der Dinge im Dunkel aufhebt, die Distanz zwischen den Subjekten verschlingt, das Meer in seiner Unendlichkeit, der Berg mit seinen labyrinthischen Gängen und Schätze bergenden Unterreichen, in denen man sich heillos verirren kann, sind die symbolischen Bezirke des Unbewussten. In der »Verbindung von Sehnsucht und Schrecken, die dem Unbewussten entgegengebracht wird, offenbart sich das Dilemma romantischer Subjektivität: Das Bewusstsein verdankt seine Existenz einem dunklen Ur-Grund, der es ständig wieder einzuholen sucht«, so Schneider (S. 20).

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Das Bewusstwerden des Unbewussten und seine Aporien

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Schneider analysiert in den einleitenden Kapiteln seiner Monographie eingehend das »Sein vor dem Bewusstsein« in der frühromantischen Philosophie – zur Erhellung der Konzeption des Unbewussten in derselben trägt seine Monographie nicht weniger bei als zur Wagner-Forschung – und kommt zu dem Schluss, dass das Subjekt beim Versuch, das Unbewusste zu ergründen, sowohl auf dem Wege der reflexiv-diskursiven Erschließung als auch auf dem des Eintauchens in das Unbewusste (in Rausch, Ekstase, Hellsehen) sich notwendig selbst verfehlt oder verliert. »Der Grund unseres Bewusstseins ist immer auch sein Abgrund.« (S. 26 f.) Genau das demonstriert Schneider auch an Wagners Musikdramen, etwa im Taktwechsel von Wachen und Schlafen auf der dramatischen Ebene sowie im Wechselspiel der visuellen, verbalen und musikalischen Ebenen des Musikdramas.

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Mag das alles in den Theoriekapiteln der Monographie Schneiders noch abstrakt, wenig vermittelbar mit der Bühnenrealität klingen, so gewinnt es sofort Überzeugungskraft, wenn Schneider sich der konkreten Analyse von Wagners Musikdramen zuwendet, die auf ingeniöse Weise poetische und musikalische Exegese verbindet. Zwingend zumal seine Interpretationen der Erwachensszenen als Prozesse des Erwachens aus dem Unbewussten zum Bewusstsein. Einleitend schlägt er da (S. 49) eine frappierende Brücke zu Kafkas Verwandlung, wo Gregor Samsa aus seinen Träumen als Ungeziefer in eine feindliche Welt erwacht. So erwachen auch Wagners dramatische Figuren immer wieder aus dem Zustand des Unbewusstseins ins Bewusstsein, in dem das Nachwirken des ersteren sie verwirrt und verstört, des Halts in der Realität beraubt.

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Paradigmatisch deutet Schneider das Rheingold-Vorspiel als Erwachen aus dem Unbewussten im Medienwechsel von Musik (als Medium des Unbewussten) und Sprache (als Medium des Bewusstseins) sowie innerhalb derselben im Übergang vom reinen lallenden Naturlaut zur artikulierten Sprache. Schneider gelangt zu der verblüffenden, aber bei näherem Nachdenken absolut überzeugenden Einsicht, dass dieses im Rheingold-Vorspiel grandios versinnlichte und versinnbildlichte Bewusstseins-Erwachen ein wesentliches Strukturelement der Wagnerschen Figurenzeichnung ist. »Fast immer lässt Wagner seine Figuren aus tiefem Schlaf und Traum zu sich kommen. Sie treten nicht auf, sondern wachen auf.« (S. 60) Ob Senta, Tannhäuser oder Elsa, Wotan oder Isolde – sie werden als aus Schlaf, Traum, Versunkenheit oder einem somnambul-entrückten Zustand Auftauchende gezeigt, und immer wieder artikulieren sie sich zunächst durch wortlose Gebärden und Blicke, finden erst allmählich vom Schweigen über den Naturlaut zur Sprache: »das schrittweise Zu-Sich-Kommen des Subjekts« (S. 63). Das schließlich erreichte Bewusstsein wird immer als ein gewordenes inszeniert. Und zugleich bringt das nachdrängende Unbewusste die Erwachenden in Bedrängnis und Verwirrung – da das Ich sich nicht mehr als Herr im Hause fühlt.

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Laufend versetzt Wagner seine dramatischen Figuren – und das macht sie den Kleistschen so überaus verwandt – in einen Zwischenzustand von Traum und Wachsein, in den Wachtraum. Eindrucksvoll zeigt Schneider das am Beispiel des erwachenden Wotan im Rheingold, einer Szene, in der Musik und Sprache bezeichnend kontrastieren. Preisen Wotans Worte Walhall als unerschütterliche Burg, so straft die Musik den suggerierten Übergang von Wotans Traum in Realität deutlich Lügen, und dieser wird von Frickas Gesang in Wort und Ton als »wonniger Trug« entlarvt. Ein ähnlich charakteristisches Beispiel ist der somnambule Zustand Elsas im Lohengrin – Schneider nennt sie »eine Nachfolgerin des Käthchens von Heilbronn« – in seiner Dissonanz mit der Realität. Die Gefährdung der Figuren ist bei Wagner weniger durch Konflikt oder tragisches Schicksal als durch den Einbruch unbewusster Zustände in ihr Bewusstsein, durch die Dichotomie von Unbewusstem und Bewusstsein herbeigeführt. Das bringt sie in solche Nähe zu den Figuren Kleists.

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Traum und Trauma

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In ihrer Entrückung regredieren die Figuren Wagners oft zu einem mythischen Zeitbewusstsein, das mit dem geschichtlich-linearen kontrastiert. »Das Zeitempfinden der Figuren kreist um ein entrücktes, meist unerreichbares ,Einst’, das sowohl präterital als auch futurisch zu verstehen ist« (wie bereits Thomas Mann hellsichtig erkannt hat). Ihr Bewusstsein offenbart sich als »Internalisierung mythischer Denkschemata«, in der Schneider – aufgrund der Uneinlösbarkeit der in ihnen aufscheinenden Versprechen und Wünsche in der Realität – ein Element der spezifischen Modernität Wagners sieht. 1 Der Traum werde bei Wagner aufgrund seiner Uneinlösbarkeit häufig zum Trauma. Das optimistische Modell der Wagnerschen Ästhetik ende in seiner künstlerischen Umsetzung meist in unerfüllter und unerfüllbarer Sehnsucht. Schneider überspitzt – übertreibt – diese pessimistische Sicht gar zu der These: »Die Utopie, die Richard Wagner in der Theorie entworfen hat, wird in seinen Musikdramen nicht eingelöst.« (S. 155)

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Ästhetik des Blicks

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Zu den wichtigsten Teilen der Monographie gehört das Kapitel über »Ästhetik und Anthropologie des Blicks«. Bei keinem Dramatiker der Weltliteratur spielt das Blick-Motiv eine so zentrale Rolle wie bei Wagner. Der – stumme, nach innen gerichtete – Blick ist der »Zugang zum Unbewussten« (S. 156). Wagner sei der erste Musikdramatiker gewesen, so zitiert Schneider Heinz Becker, »der den Blick zur Augensprache vertieft und zu einem wesentlichen Ausdrucksmittel seiner musikalischen Konzeption« gemacht habe (S. 192). Die vor-verbale Augen- und Tonsprache stehen als Medien des Unbewussten in engster Verbindung zueinander. Und es ist die Melodie, welche den spezifischen Ausdruck des stummen Augen-Blicks bildet, wie Schneider ausführlich demonstriert. Eine besondere Variante des Blickmotivs ist das Déjà-vu, das Wieder-Sehen, der von Bildern gesteuerte Erinnerungsakt »avant la lettre«, in dem das Unbewusste bewusst wird. »Die richtige Erkenntnis ist Wiedererkennung, wie das richtige Bewußtsein Wissen von unserem Unbewußtsein«, heißt es in Oper und Drama (zit. S. 235).

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Erzählen im Musikdrama als narrative Identitätsstiftung

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Nicht weniger bedeutsam als die Ausführungen zum Blickmotiv sind diejenigen zur Funktion des Erzählens in Wagners Musikdramen. Zum ersten Mal kann Schneider schlüssig erklären, warum sich die Erzählszenen bei Wagner derart häufen, indem er einen Zusammenhang zwischen Erzählung und Identität herstellt – als deren narrative Herausbildung. Es gilt, unbewusstes Wissen mit Hilfe der Erzählung zu bergen. Der Geist der Erzählung, welche die Geschichte des Ich entfaltet – und bei Wagner ist dieses Ich immer ein gewordenes oder werdendes, keine vorgegebene ontologische Einheit –, löst als ,unendliche Melodie’ und ,musikalische Prosa’ geradezu die traditionelle Opernform auf. Wagner, der zumal in Oper und Drama das – präteritale – Erzählen gegenüber der dramatischen ,Präsentierung’ herabgesetzt hat, erweist sich in seinen Musikdramen – wie schon Thomas Mann konstatiert hat – als genuiner Epiker. Die großen Erzählungen inszenieren die sich allmählich entfaltende Bewusstwerdung des Unbewussten, wie sie ihre mediale Entsprechung im Übergang von der Musik über den Sprachlaut zur artikulierten Sprache findet.

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Die meisten männlichen Hauptfiguren Wagners, so beobachtet Schneider, kommen als Fremdlinge von außen in eine Welt, in der sie erst ihre Identität gewinnen müssen. Symbolisch dafür steht die Verschleierung oder Unkenntnis ihres eigenen Namens. Sie sind gleichsam eine Tabula rasa, die erst im Verlauf der Handlung beschrieben werden muss. Die eminente Bedeutung des Namensmotivs bei Wagner deutet Schneider als Herausbildung der Identität im Übergang vom Unbewussten zum Bewusstsein – nicht zuletzt initiiert durch den weiblichen Liebes-Blick. (Dieses Motiv weist er schon in Wagners erstem Trauerspiel Leubald und Adelaide nach.) Die Herausbildung von Identität geschieht bei Wagner aber immer wieder durch – anamnetische – Narration. Durch das stets erneute Erzählen ihrer Geschichte – als Selbstrechtfertigung und Selbstvergewisserung – suchen Wagners Figuren ihre Identität zu gewinnen oder zu stabilisieren. Das belegt Schneider durch eine Fülle von luziden philologischen wie musikologischen Szeneninterpretationen. Besonders überzeugend die Beschreibung der Identitätsgewinnung Siegmunds, die erst durch Sieglindes liebes-mäeutischen Beistand, als geglückte Anamnese erreicht wird: die bei Wagner symptomatische Ich- und Bewusstwerdung des männlichen Helden durch das andere Geschlecht. Ein anderes Musterbeispiel ist die Namens- und Identitätsgewinnung Parsifals durch Kundry. Nicht zu reden von dem Komplex von Amnesie und Anamnese in der Tragödie Siegfrieds (wieder mit dem Angelpunkt des Namensmotivs), der Schneider eine schlechterdings unüberbietbare Analyse widmet.

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Die Ichfindung der Figuren im Erwachen vom Unbewussten zum Bewusstsein – für Schneider das eigentliche Thema des Wagnerschen Musikdramas – hat freilich fast immer aporetische, ja existenzgefährdende Züge, da die Figuren in dem Moment, da sie sich finden, oft ,außer sich’ sind und in eine rauschhafte Ekstase, in die Zone des Wahnsinns geraten, in der sie sich wieder zu verlieren drohen. Die Janusköpfigkeit des Wahnsinns (in der Romantik und bei Wagner) ist das Thema des letzten Hauptteils der Monographie. Allein in den Meistersingern gelingt es Wagner Schneider zufolge, der Gefährdung der Subjektivität durch Rausch, Ekstase, Wahnsinn entgegenzusteuern. Und es ist ausgerechnet der »Merker«, der Doktrinär einer reinen Gedächtniskunst, welche alle Innovation perhorresziert, der schließlich in den Wahnsinn der Gedächtnisstörung verfällt, während Walther von Stolzing – anfänglich das gedächtnislos-unbewusst agierende Naturgenie – mit Sachsens mäeutischer Hilfe Innovation und Gedächtnis zusammenführt (gerade durch den Rückgriff auf die überlieferten Regeln) und so den Wahnsinn überwindet. Heilung des Wahnsinns durch Herstellung von Gedächtnis: Wagner wird für Schneider geradezu zum ,Vordenker’ der Psychoanalyse.

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Die Kunst als Übersetzung unbewussten Wissens ins Bewusstsein

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Schneiders Kardinalthese lautet, dass für Wagner die Kunst nicht im Unbewussten verharren darf, sondern Übersetzung unbewussten Wissens ins Bewusstsein werden muss. Es ist Hans Sachs, welcher Walther in seinen berühmten Versen: »Mein Freund, das grad ist Dichters Werk, / daß er sein Träumen deut’ und merk«, mit der Deutung der Poesie als »Wahrtraum-Deuterei« diese Grundüberzeugung Wagners einschärft. Das ,Deuten und Merken’ – reflexiv-diskursive Durchdringung des unbewusst Empfangenen und seine Aufhebung im Gedächtnis – ist die Aufgabe der Kunst, welcher ausgerechnet der ,Merker’ – der eben nichts unbewusst empfangen hat – nicht gewachsen ist, und der so, in einer Art dialektischen Umschlags der Gedächtniskunst in chaotischen Nonsens, in den Wahnsinn der Gedächtnislosigkeit verfällt. Dass Wagners ganze Ästhetik auf das Bewusstsein zielt, ein solches freilich, das aus dem Unbewussten als seinem Grund hervorwächst, steht im Widerspruch zur vielfach narkotischen Wirkung seines Werks, die den Baum des Bewusstseins gewissermaßen fällt und nur noch seine unbewussten Wurzeln zur Geltung kommen lässt. Schneider gibt freilich zu bedenken, dass diese Wirkung Wagners schon durch die implizite Reaktion des ,Publikums’ in den Musikdramen selber gesteuert wird. Das Volk in den Meistersingern vollzieht die Aufhebung des Unbewussten im Bewusstsein, wie es Walthers Preislied exerziert, nicht mit, sondern fühlt sich »in den schönsten Traum« versetzt, ohne ihn zu deuten und zu merken. »Damit kehrt jedoch das, was Wagner in der Kunstproduktion eigentlich überwinden wollte, in der Rezeption zurück: jener entzückte und ekstatische Zustand, in dem das Subjekt sich zu verlieren droht.« (S. 397)

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Fazit

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Schneiders Monographie lässt sich nur schwer angemessen rezensieren, da sie buchstäblich auf jeder Seite den Leser durch eine innovative Anregung in Atem hält. Es wird einige Zeit dauern, bis ihre wegweisenden Einsichten verkraftet und aufgearbeitet sind. Sie ist nicht nur ein Steinbruch für die zukünftige Wagner-Forschung, sondern vor allem auch ein methodischer Wegweiser für die philologische wie musikologische Auseinandersetzung mit dem Phänomen Wagner. Was aber die erstere betrifft: Das breite Spektrum literaturwissenschaftlicher Rückbezüge – zumal auf die Romantik, die ihrerseits in dieser Studie eine neue Beleuchtung erfährt – und Vorausbezüge auf die Moderne lässt Wagner als eine einzigartige literarische Mittlergestalt erscheinen, als die bedeutendste und welthaltigste Gestalt der deutschen Literatur nach dem Ausklang der Goethezeit. Diejenigen Germanisten, die immer noch meinen, dass Wagner sie eigentlich nichts angehen müsse, haben jedenfalls ihren Beruf verfehlt. Das offenbart Schneiders Monographie auf überwältigende Weise.

 
 

Anmerkungen

In dieser Hinsicht glaubt Schneider seine Mythos-Deutung derjenigen des Verfassers dieser Rezension entgegensetzen zu müssen, da letztere von der Möglichkeit einer erfüllten Reaktualisierung mythischer Prototypen in der Moderne ausgehe und in ihrem Glauben an deren identische Wiederholung ein restauratives Wagner-Bild entwerfe, das die Gebrochenheit der Wagnerschen Figuren als Stigma ihrer Modernität harmonisierend negiere. Von dieser Kritik fühlt sich der Rezensent jedoch nicht wirklich getroffen. Reaktualisierung heißt nicht Wiederkehr des Gleichen, sondern Wiederholung mit Spiraltendenz (Goethisch gesprochen) oder in Schillers Sinne sentimentalische Operation, die auf eine nur approximativ einlösbare Zukunftsvision ausgreift und das Subjekt in der gegenwärtigen Realität durchaus nicht als ,vollendet’, sondern stets als defizitär erscheinen läßt. Die Deutung des Wagnerschen Musikdramas von einer mythischen Prototypik her ist gewiss eine zu Schneiders modern-psychologischer Sicht des mythischen Bewusstseins komplementäre Interpretation, aber sie schließt letztere nicht aus – wie umgekehrt –, sind doch im Hause Gottes wie der Hermeneutik viele Wohnungen. Dem außerordentlichen intellektuellen Rang der wegweisenden Studie Schneiders ist es jedenfalls nicht ganz gemäß, wenn dieser in seiner Forschungsschelte immer wieder mit der zweiwertigen Logik von »richtig« und »falsch« operiert, die es in einer hermeneutischen Disziplin nicht geben kann, welche vielmehr nur mit Wertungen auf der breiten Skala des Wahrscheinlichen, mehr oder weniger Vertretbaren arbeiten kann.   zurück