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Geschichtsschreibung zwischen der Antike und dem Mittelalter

  • R. W. Burgess / Michael Kulikowski: Mosaics of Time. The Latin Chronicle Traditions from the First Century BC to the Sixth Century AD. Volume I, A Historical Introduction to the Chronicle Genre from its Origins to the High Middle Ages. (Studies in the Early Middle Ages 33) Turnhout: Brepols 2013. XIV+446 S. 15 Abb. Gebunden. EUR (D) 100,00.
    ISBN: 978-2-503-53140-3.
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Richard Burgess und Michael Kulikowski haben sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, die Geschichtsschreibung der Übergangszeit von der Antike bis ins Mittelalter komplett zu erfassen. Das vierbändige Werk soll hauptsächlich Textausgaben sämtlicher lateinischer und griechischer Chroniken aus diesen Jahrhunderten im Urtext und mit englischen Übersetzungen bieten. Bei manchen Texten sind neue kritische Ausgaben geplant, bei anderen sollen bekannte Ausgaben gesammelt und im Sinne eines Textus receptus zusammen abgedruckt werden. Damit wird diese weitgehend vernachlässigte Textgruppe zum ersten Mal leicht zugänglich gemacht, einerseits uneingeschränkt barrierefrei für Leser ohne altphilologische Kenntnisse (die Burgess und Kulikowski halbscherzend als »the Latinless« abtun), andererseits mit dem Anspruch, eine erneute Beschäftigung mit den Werken in den beiden Ursprachen anzuregen. Zusätzlich ist ein ausführlicher Kommentar eines jeden Werkes vorgesehen. Nur die Chronik des Marcellinus comes wird nicht aufgenommen, da diese in einer vergleichbaren Ausgabe von Brian Croke schon vorliegt. 1

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Dies ist ein hervorragendes Vorhaben, das einem wichtigen Desiderat der Chronikforschung entgegenkommt. Allerdings ist bisher nur der erste Band erschienen, eine ausgedehnte Einleitung, die noch keine Textausgaben bietet. Eine private Anfrage an die Herausgeber ergibt die Auskunft, dass der zweite Band voraussichtlich zumindest bis 2017 auf sich wird warten lassen. Vorerst muss man also auf die Primärtexte verzichten und Band 1 als Geschichte der Gattung betrachten.

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Konzeptionelle Neuansätze

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Es ist das Verdienst von Burgess und Kulikowski, dass sie die Kontinuität der historiographischen Tradition von den frühesten mesopotamischen Zeugnissen bis ins Mittelalter – man hätte genauso gut sagen können: bis in unsere jüngste Gegenwart – bis ins Detail nachweisen können. 2 Das ist eine konzeptionelle Revolution, da die Vorstellung von einer Kluft zwischen Antike und Mittelalter die Chronikforschung seit Anbeginn dominiert und immer noch tief in den Köpfen verwurzelt ist. Dafür gibt es mehrere Gründe: Burgess und Kulikowski heben das längst überholte Vorurteil eines »dunklen Zeitalters« hervor, das bis ins 20. Jahrhundert gegen jegliche Anerkennung eines geistigen Lebens im frühesten Mittelalter wirkte; sie betonen, wie die Neubewertung der Spätantike (bzw. des frühen Mittelalters) schon längst ein Umdenken hätte anbahnen sollen. Auch andere Gründe hätten die Autoren anführen können. Viele Mediävisten kennen nur die Hauptwerke der antiken Literatur: nicht die Fasti und Consularia, die den Klosterannalen so sehr ähneln, doch sehr wohl die diskursiven Historiker Livius, Tacitus oder Caesar, die eben keinen guten Vergleichspunkt bieten. Hinzu kommt allerdings auch der stark heilsgeschichtlich untermauerte Charakter der christlichen Theologie, der eine geistliche Weltchronik zu einem so intrinsisch christlichen Konstrukt macht, dass formelle Ähnlichkeiten zu vorchristlichen Pendants leicht aus dem Blick geraten. Auf jeden Fall unterliegen der Vorstellung, dass die antike Chroniktradition im dritten Jahrhundert ausstarb und die christliche Chroniktradition einen davon unabhängigen Neubeginn darstellt, sämtliche Schilderungen der Entwickelung der mittelalterlichen Gattung. Diese Vorstellung ist hinfällig.

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Dies impliziert auch eine zweite konzeptionelle Revolution, die seit den 90er Jahren an Boden gewinnt und engagiert von Burgess und Kulikowski getragen wird. Seit dem frühen 19. Jahrhundert galt es als gesichert, dass sich die vor allem in den Klöstern gepflegte mittelalterliche Untergattung der Annalen aus Randbemerkungen in Bedas Ostertabellen entwickelte, die allmählich zu Osterannalen ausbildeten, dann getrennt von den Tabellen kopiert wurden und sich so im Prozess einer Verselbständigung aus dem Zusammenhang der Osterkalkulationen lösten. Damit seien Annalen eine eigenständige und mit anderen chronologischen Texten unverwandte Textform. Jetzt ist klar, dass die frühesten irischen Annalen älter sind als Beda und nie an Ostertabellen geknüpft waren, dass Annalen schon von Anfang an von der Weltchronistik beeinflusst wurden, und dass eine generische Unterscheidung zwischen Annalen und Chroniken überhaupt höchst problematisch ist, weswegen nichts gegen eine Kontinuität mit klassischen Vorbildern spricht.

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Terminologische Probleme

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Diese Erkenntnisse erlauben zum ersten Mal ein Gesamtbild von der Geschichte der Geschichtsschreibung in der Antike und im Mittelalter. Sobald man versucht, ein solches Bild zu zeichnen, stößt man jedoch unweigerlich auf ein Problem, das nicht so schnell zu lösen ist, dass nämlich die beiden Fachbereiche der antiken Philologie und der Mediävistik die Gattungsterminologie (vor allem »Chronik«, »Annalen« und »Historia« sowie andere damit verwandte Formen) völlig verschieden einsetzen. Wie die Autoren zurecht bedauern, gibt es kaum eine historiographische Textsorte, die nicht schon von irgendeinem Wissenschaftszweig als »Annalen« bezeichnet worden ist. Burgess und Kulikowski stellen deshalb ihren Versuch einer »ökumenischen« Terminologie vor. Kurz zusammengefasst wollen sie den Terminus »Annalen« komplett aus dem wissenschaftlichen Vokabular tilgen, »Chronik« für alle streng chronologisch angeordneten Texte verwenden, die eher einen historischen Gesamtüberblick als eine hermeneutische Vertiefung versuchen, und andere Termini für Texte finden, die in großen Erzählbögen eher die Frage »warum« als die Frage »wann« beantworten wollen. Somit gewinnen sie das Wort »Chronik« als Bezeichnung für eine ununterbrochene Texttradition, für die sie über zwei Jahrtausende hinweg eine Einheit nachweisen können.

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Unabhängig von den Zielsetzungen des Projekts der beiden Autoren hat diese terminologische Systematisierung einiges für sich. Sie wird sich aber wohl kaum oder nur zögerlich durchsetzen können, da die Mediävistik ihre Terminologie nicht so schnell ändern wird. Wünschenswert wäre allerdings eine bescheidenere Umorientierung: Man könnte zum Beispiel versuchen, den Terminus »Annalen« immer nur in Komposita zu verwenden (z.B. »Klosterannalen«, »Reichsannalen«) und diese als Untergruppierungen der Chronik zu verstehen. Und man könnte den Weltchroniktyp »series temporum« 3 als Norm und die ausschweifenderen Typen als Nebenformen betrachten. Ob diese Neben- und Hybridformen dann ebenfalls als Chroniken bezeichnet werden, kann dann zur Debatte gestellt werden. Die Hauptsache ist, dass wir unsere Terminologie angesichts der neuesten Erkenntnisse noch einmal im Sinne einer bewussteren Anwendung reflektieren.

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Eine Geschichte der Geschichtsschreibung bis ins 12. Jahrhundert

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Nachdem sie eventuelle generische und terminologische Einwände so beseitigt haben, bieten die Autoren in den darauffolgenden Kapiteln eine beachtenswert breite Geschichte der Gattung »Chronik«. Kapitel 2 bespricht die Anfänge in ägyptischen, sumerischen, assyrischen, babylonischen und griechischen Zeugnissen, sowie die römischen Anfänge ab Nepos und Atticus. Das dritte Kapitel skizziert die Übernahme der Gattung für apologetische Zwecke bei Eusebius, Hieronymus und anderen Kirchenvätern. Im vierten Kapitel bieten Burgess und Kulikowski eine Geschichte des römischen Kalenders und der damit verbundenen Consularia – annalistischer Konsulnverzeichnisse, die ebenfalls als Teil der Chroniktradition zu verstehen sind. Ein kurzes fünftes Kapitel bespricht die Situation am Ende der römischen Kaiserzeit und das letzte Kapitel verfolgt die Geschichte weiter über Isidor und Beda bis Sigebert von Gembloux im 11./12. Jahrhundert. Als Chronik der Chronikliteratur kann dieser geschichtliche Überblick für sich stehen und ist als solche hoch zu loben. Beabsichtigt ist er jedoch auch und vor allem als Kontextualisierung für die Textausgaben der weiteren Bände, auf die man gespannt wartet. Die Anhänge bieten unter anderem (aber nur in englischer Übersetzung) Auszüge aus babylonischen, griechischen und römischen Chroniken, die zu früh sind, um in dem Hauptteil des Projekts ediert zu werden.

 
 

Anmerkungen

Croke, Brian: The Chronicle of Marcellinus (= Byzantia Australiensia bd. 7), Australian Association for Byzantine Studies (Sidney), 1995.   zurück
Wenn ich und andere schon zuvor aus dieser Erkenntnis Nutzen ziehen konnten wie etwa in meinen Überblicksartikeln in The Encyclopedia of the Medieval Chronicle, verdanken wir das der Tatsache, dass Richard Burgess seine Vorarbeiten auf den Chroniktagungen vorgetragen hatte.   zurück
Terminologie nach A.D. von den Brincken, Studien zur lateinischen Weltchronistik bis in das Zeitalter Ottos von Freising, Düsseldorf 1957.   zurück