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»Enivrez-vous!« - Der Rausch als Schlüssel westlicher Kulturen

  • Robert Feustel: Grenzgänge. Kulturen des Rausches seit der Renaissance. München: Wilhelm Fink 2013. 335 S. Kartoniert. EUR (D) 39,90.
    ISBN: 978-3-7705-5475-1.
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Wie verbalisiert man das Unbeschreibliche? Diese Frage beschäftigt nicht nur Literaten, sondern generell kulturelle Gemeinschaften seit Jahrhunderten. Je nachdem, wann, wo und in welcher Situation sie sich stellt, bedingt sie unterschiedliche Antworten: Das Unbeschreibliche kann beängstigen, so dass man sich gezwungen sieht, sich vor dem Druck der Verbalisierung in ein Tabu oder ein stereotypes Diskursmuster zu flüchten. Es kann aber ebenso faszinieren, zur Revolte gegen die Unerreichbarkeit von Präsenz in der sprachlichen Vermittlung herausfordern. Insofern konkurrieren in den Reaktionen Versuche der Konventionalisierung des Individuellen mit solchen der Individualisierung konventioneller Kommunikationsstrukturen. Ein Subthema dieses multidimensionalen Gegenstandes bildet der Rausch. Auch er gewährt die zeitweise Evasion aus der Gesellschaftlichkeit und evoziert Erlebnisse, die das sprachliche Ausdruckpotenzial zumindest partiell sprengen. Nichtsdestotrotz bleibt er, wie Jacques Derrida in »L’esprit des drogues« herausstreicht, eine Kulturtechnik: »Il n’y a pas de drogue ›dans la nature‹. Il y a faut une histoire, une culture, des conventions, des évaluations des normes, tout un réseau de discours enchevêtrés«. 1 Der Rausch bildet also ein Phänomen der Kreuzung persönlicher und gesellschaftlicher Erfahrung. Den Versuch, eine Kulturgeschichte über diesen Randbereich der Kultur zu schreiben, unternimmt Robert Feustel in Grenzgänge. Kulturen des Rauschs seit der Renaissance – ein Vorhaben, das sich als überaus fruchtbar erweist.

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Die vielen Gesichter des Rauschs

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Obschon die Monographie das Resultat eines soziologischen Promotionsprojektes (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) bildet, hat die Arbeit einen dezidiert kulturwissenschaftlichen Einschlag, zumal sie den Rausch als Indikator für gesellschaftliche Transformationsprozesse auffasst und für eine philologische Herangehensweise optiert. Nun ist der Versuch, eine Kulturgeschichte des Rauschs zu schreiben, nicht der erste seiner Art. So legten beispielsweise Alexander Kupfer mit Die künstlichen Paradiese. Rausch und Realität seit der Romantik 2 sowie Max Milner mit L’imaginaire des drogues 3 vor nicht allzu langer Zeit ebenfalls Monographien mit vergleichbarer Zielsetzung vor. Die Innovation von Feustels Ausführungen besteht in der breiten Anlage des Themas: Erstens lässt dieser die Kulturgeschichte anders als seine Vorgänger nicht erst mit der Romantik mit dem Import von Haschisch und Opium aus den Kolonien beginnen, sondern dehnt sie auf den Alkoholkonsum im Kontext der Festkultur der Renaissance aus. Zweitens wählt er mit ›Rausch‹ einen Schlüsselbegriff, der erlaubt, das Thema nicht auf Suchtstoffe zu beschränken, sondern allgemeiner anzugehen. Nicht allein die Rauscherfahrung, auch der metaphorische Gebrauch des Konzepts, wie er sich etwa in Zusammenhang mit den literarischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts häuft (Stichwort ›Schaffensrausch‹), fällt somit in den Untersuchungsbereich. Drittens beruft sich die Publikation nicht ausschließlich auf literarische Quellen, vielmehr umfasst das Korpus zusätzlich eine Fülle an medizinischem, juristischem und biographischem Archivmaterial aus den jeweiligen Epochen. Die etwas zweifelhafte Tendenz der übrigen Veröffentlichungen zum Thema 4 , die Darstellung von Trunkenheitserfahrungen in literarischen Texten reflexionslos als Zeugnis des realgesellschaftlichen Umgangs mit Drogen und Alkohol zu präsentieren, kann auf diese Weise eingedämmt werden und es öffnet sich Raum zur Beobachtung der Wechselwirkung zwischen literarischen und gesellschaftlichen Diskursen. So gesehen nimmt sich die Monographie als die derzeit umfassendste und methodisch bestfundierte Kulturgeschichte des Rauschs aus.

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Zur Geschichte der Konzeptualisierung des Rauschs

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Das erste Kapitel zeichnet die situative Variation der Bewertung des Rauschs im 16. und 17. Jahrhundert nach: Im Kontext des Karnevals ist der Alkoholrausch positiv konnotiert, zumal er als gegenkulturelles Element fungiert, das eine temporäre Evasion aus den gesellschaftlichen Normen ermöglicht (S. 24); im Alltag hingegen werden Rauschmittel nicht geduldet. Den Heilkräutern und Salben von »Hexen« werden dämonische Kräfte nachgesagt, weshalb ihr Einsatz von institutioneller Seite streng bestraft wird (S. 47 ff.). Der gemeinsame Nenner dieser divergenten Auffassungen liegt, laut Feustel, darin, dass in beiden Fällen eine klare Trennung zwischen Rausch- und Realitätserfahrung vorgenommen wird, so dass eine Vermischung von Imagination und Wirklichkeit bei Personen mit intaktem Urteilsvermögen ausgeschlossen ist (S. 65). Eine schrittweise Aufweichung dieser Episteme vollzieht sich im Laufe des 17. Jahrhunderts mit dem Verlust des Vertrauens in die Abbildfunktion der Sprache, wie sie Foucault in Les mots et les choses darstellt. Erst in diesem Zusammenhang wird die Wahrnehmung des Rauschs als Sinnestäuschung, als Kombination von subjektivem Bewusstsein und Außenwelt möglich, die auch die Basis der heutigen Rauschwahrnehmung bildet (S. 64).

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In Hinblick auf das 18. Jahrhundert klafft in Grenzgänge eine unerklärliche Lücke. Die Zeitspanne wird auf lediglich drei Seiten abgehandelt, obwohl der Rausch als das Andere der Vernunft in der Aufklärung sehr wohl Zündstoff für Diskussionen geliefert haben muss, zumal es – wie Alexander Kupfer in seiner Monographie punktuell andeutet – eine »Gefahr für das in Analogie zum rationalen Universum begründete Gemeinweisen darstellt« 5 . Nichtsdestotrotz schließen unmittelbar die Ausführungen zu den Rauschdarstellungen im 19. Jahrhundert (2. Kapitel) an. Diese erfahren eine besonders ausführliche Behandlung, was damit zusammenhängen mag, dass es sich hierbei – zumindest was die literarische Inszenierung angeht – um eine überaus gut erforschte Zeitspanne handelt. 6 Kontrastiv gegenüber gestellt werden ein romantischer und ein medizinischer Diskursstrang: Ersterer sieht im Konsum der damals rezent aus dem Orient importierten Drogen eine Möglichkeit zur »Überwindung der Grenze der rationalen und vernünftigen Welt des Bewusstseins hin zu einem unaussprechlichen Geheimnis« (S. 104). Der Rausch begünstigt die Selbstbespiegelung des Individuums, seine Evasion aus dem Alltag und seine Transzendierung hin zum Idealen. Dem diametral gegenüber steht der Objektivierungsdrang des medizinischen Diskurses: Die Geburt der Klinik erfolgt im 19. Jahrhundert aus dem Impetus heraus, »die Welt bis in den letzten Winkel ergründen« (S. 104) und so die Wirklichkeit zu fixieren und kontrollieren. Im Kontext der Sehnsucht nach der Sichtbarmachung und Durchdringung des Verstands und der Seele werden mehrfach Experimente mit Drogen durchgeführt (S. 77). In diesem Zusammenhang ließe sich ergänzen, dass die Medizinisierung auch stilistische Auswirkungen auf die Rauschdarstellung in literarischen Texten impliziert: Das Thema erfährt dort eine zunehmend objektivistische, detailfixierte sowie anonymisierende Behandlung. Dass der romantische und der medizinische Diskurs nicht unvereinbar sind, sondern vielmehr zwei Seiten der Medaille der neu entdeckten Individualität des Menschen bilden, manifestiert sich, so Feustel, etwa in Charles Baudelaires Paradis artificiels. Romantische Evasionswünsche kombinieren sich hier mit der Neigung zum Argumentativen und zur Authentifizierung: Der Rausch ist zwar nach wie vor als erstrebenswerter Zustand inszeniert, jedoch als inauthentische Utopie entlarvt, an der das Subjekt nur scheitern kann (S. 130).

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Die Problematisierung des Rauschs, die sich bei Baudelaire bereits andeutet, entfaltet sich im frühen 20. Jahrhunderts zum dominanten Reaktionsmuster (3. Kapitel). Die Verwissenschaftlichung verbindet sich mit einem moralisierenden Gestus, wobei Begriffe wie ›Gift‹, ›Sucht‹, ›Gewöhnung‹ und ›Wahnsinn‹ nun häufig in einem Atemzug mit diesem genannt werden (S. 155). Die Avantgarde-Kunst stellt sich mit dem ihr inhärenten Oppositions- und Innovationsdrang quer zu diesem offiziellen Disziplinierungsdiskurs. Sie macht den Rausch zum Motto ihres intuitiven und automatischen Schaffens, das in erster Linie auf die Transgression ästhetischer Harmonie und Tradition abzielt (S. 189 ff.). Auch wenn die Avantgardeschriftsteller sich häufig vehement vom Drogenkonsum distanzieren, entspricht das Konzept des Rauschs ihrer Poetik, weshalb sie zur Bezeichnung ihrer Schreibweise wiederholt darauf rekurrieren (S. 189). Feustel räumt hiermit das naive, jedoch weit verbreitete Vorurteil aus, Rauschästhetiken seien zwangsweise an den ausschweifenden Drogenkonsum der Autoren oder Rezipienten geknüpft, und überwindet somit eine Auffassung, die den emblematischen Charakter des Rauschs im Selbstverständnis der Moderne radikal verkennt.

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Das vierte Kapitel beschreibt die diskursiven Veränderungen infolge des Booms der psychedelischen Drogen. LSD und Co. hauchen der Utopie, man könne psychische Krankheiten umfassend erforschen und heilen, neues Leben ein, zumal davon ausgegangen wird, der Trip fungiere als Simulation seelischer Störungen bzw. als Motor der Versprachlichung unterdrückter Bewusstseinsanteile (S. 215). Im Optimalfall könne man, so der Gedanke, auf diese Weise »mithilfe der ›Wahrheitsdroge‹ LSD einen neuen Menschen […] erschaffen, einen anderen, angepassteren, gefügigerern, freieren, kreativeren usw.« (S. 283). Diese Mentalität beeinflusst auch die heutige Drogenkultur, die der Idee der Pille als Mittel zur Optimierung der menschlichen Leistungsfähigkeit anhängt und eine allmähliche Loslösung der Drogen vom Rauschgedanken bewirkt (S. 268).

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Auch im literarischen Bereich finden die psychedelischen Drogen ihren Niederschlag: Die US-amerikanische Beat-Bewegung beispielsweise, die sich angesichts eines existenziellen Leeregefühls im Aufbrechen linearer Erzählstrukturen und in der Transgression traditioneller Erzählmuster übt, wählt den Rausch mit Vorliebe als Thema oder Leitmotiv ihrer Texte (S. 229). Schließlich nimmt sich dieser als Chance der Befreiung von bürgerlichen Fesseln aus und liefert somit dem romantischen Gedanken, man könne über diese Drogen einen Ausbruch aus dem Alltag, eine Überwindung des Ich erreichen, neuen Zündstoff (S. 281).

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Fazit

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Insgesamt handelt es sich bei Grenzgänge um eine klar profilierte und fundierte Zusammenstellung zur Kulturgeschichte des Rauschs, anhand derer sich auch die Interaktion zwischen literarischem und gesellschaftlichem Feld und insbesondere ihre Opposition seit der Moderne anschaulich mitverfolgen lassen. Nicht immer vollständig erreicht ist allerdings das eingangs formulierte Ziel, den Rauschdiskurs als transnationales Phänomen zu profilieren (S. 281). Zwar ist für das Kapitel zum 19. Jahrhundert der Spagat zwischen Deutschland, Frankreich, England, Spanien und den USA vorbildlich gelungen, die übrigen Kapitel hingegen präsentieren sich in Bezug auf die Quellenauswahl unausgeglichener. Das erste und dritte bedienen sich dominant deutschen, das vierte fast ausschließlich US-amerikanischen Archivmaterials. Dabei hätten gerade in puncto ›karnevaleske Kultur‹ auch die übrigen Ländern genügend Material zu bieten und es hätten etwa Henri Michauxs Meskalinexperimente in L’infini turbulent (1957) und Misérable miracle (1972) ein ausgezeichnetes französisches Pendant zur Beat Generation abgegeben.

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Etwas bedenklich erscheint überdies, dass der Blick des Forschers auf das Phänomen ›Rausch‹ an keiner Stelle als spezifisch westlicher ausgewiesen wird, sondern dass – ganz im Gegenteil – wiederholt auf die Universalität des Rauschkonzepts gepocht wird. Es versteht sich von selbst, dass der Wunsch, die Geschichte eines gesamten Kulturkreises zu schreiben, nationale sowie regionale Unterschiede innerhalb dieses Raums bis zu einem gewissen Grad nivellieren muss. Dies rechtfertigt jedoch weder die uneingeschränkte Ausweitung dieser Homogenisierungsbestrebungen, noch das Fehlen der Reflexion über die Auswahl der untersuchten Länder, eine eventuelle relativierende Markierung im Titel sowie eine Begründung für den Ausschluss der übrigen Kulturkreise.

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Trotz dieser Einwände erweist sich Grenzgänge sowohl in Bezug auf literatur- als auch kulturhistorische Zusammenhänge als überaus erhellend. Die Frage, warum vor allem moderne Künstler wiederholt Alkohol- und Drogenszenarien thematisieren, klärt Feustel, indem er in einer stets fokussierten Argumentation die Analogien zwischen dem modernen Denken und dem Konzept ›Rausch‹ nachzeichnet. Überdies begreift man, inwiefern dieses als Möglichkeit der Inszenierung der temporären Evasion aus dem Alltag für kulturelle Gemeinschaften zum Faszinosum und Tremendum gleichermaßen werden kann, an dem sich Transgressionswünsche ebenso niederschlagen wie Machtkämpfe. Dass es sich beim Rausch um ein langdauerndes und sinnstiftendes Schlüsselkonzept der westlichen Kultur handelt, kommt in Grenzgänge in einer Deutlichkeit zum Ausdruck, die an Baudelaires Prosagedicht »Enivrez-vous« erinnert, wo es heißt: »Il faut vous enivrer sans trêve. Mais de quoi? De vin, de poésie, ou de vertu, à votre guise. Mais enivrez-vous.« 7

 
 

Anmerkungen

Jacques Derrida: L’esprit des drogues. In: Autrement 106 (April 1989), S. 197–214, hier S. 197.   zurück
Alexander Kupfer: Die künstlichen Paradiese. Rausch und Realität seit der Romantik. Stuttgart: Metzler 1996.   zurück
Max Milner: L’imaginaire des drogues. Paris: Gallimard 2000.   zurück
Vergleiche etwa: Emanuel Mickel: The artificial paradises in French literature. Chapel Hill: The University of North Carolina Press 1969; Max Milner: L’imaginaire des drogues. Paris: Gallimard 2000; Arnould de Liedkerke: La belle époque de l’opium. Paris: ELA 2001.    zurück
Alexander Kupfer: Die künstlichen Paradiese. Rausch und Realität seit der Romantik. Stuttgart: Metzler 1996, S. 24.   zurück

Vergleiche beispielsweise: Aletha Hayter: Opium and the Romantic Imagination. London: Faber and Faber 1968; Günter Witschel: Rausch und Rauschgift bei Baudelaire, Huxley, Benn und Burroughs. Bonn: Bouvier 1968; Emanuel Mickel: The artificial paradises in French literature. Chapel Hill: The University of North Carolina Press, 1969; Sibylle Bieker: Die künstlichen Paradiese in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Bonn: Romanistischer Verlag 1992; Arnould de Liedkerke: La belle époque de l’opium. Paris: ELA 2001.

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Charles Baudelaire: Petits poèmes en prose. Paris: José Corti 1968, S. 108.   zurück