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Rechtsphilosophisches über Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts

  • Gerhard Sprenger: Literarische Wege zum Recht. Baden-Baden: Nomos 2012. 137 S. Paperback. EUR (D) 36,00.
    ISBN: 978-3-8329-7064-2.
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Der Band versammelt Aufsätze zu Autoren wie Johann Peter Hebel, Theodor Fontane, Wilhelm Busch, Nikolaj Leskow, Anatole France, die überwiegend zwischen 1998 und 2010 veröffentlicht wurden. Ihnen gemeinsam sind die Fragen nach dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit und der von der Rechtsprechung nie garantierbaren ›Einzelfallgerechtigkeit‹.

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Außerdem wird das Verhältnis von Rechts- und Literaturwissenschaft aus der Perspektive beider Disziplinen (für die Literaturwissenschaft: Susanne Kaul) diskutiert. Dabei bleibt strittig, bis zu welchem Grad die letztere ein autonomes Erkenntnisinteresse verfolge, insoweit sie Fragen des Rechts, der Gerechtigkeit und ihrer beider anthropologischer und existenzieller Fundierung berührt. Bereits hier wird deutlich, dass es keinesfalls um eine dekonstruktivistische Einebnung der Disziplingrenzen gehen kann; der Rückgriff auf rechtsphilosophische Grundlagen überbietet aber auch typische Beiträge zur »Law and Literature«-Bewegung. Am ehesten vergleichbar erscheinen im deutschsprachigen Raum Arbeiten des Strafrechtsgelehrten Heinz Müller-Dietz. Anlass zum Nachfragen bietet Sprengers breite Auswahl seiner philosophischen Gewährsleute.

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Während Kaul dafür plädiert, dass literarische Texte keineswegs nur anschauliche Fallgeschichten präsentierten und den Bedarf an Rechtsbesserung wachhielten, analysiert Sprenger, wie angedeutet, zumeist die von der Literatur eingeklagte mangelnde ›Einzelfallgerechtigkeit‹ des positiven Rechts, die anscheinend unaufhebbare Differenz zwischen Recht und Gerechtigkeit. Dabei gelingen ihm, wo nicht Portraits der einzelnen Autoren in ihrem Verhältnis zum Recht, so doch treffende Einsichten in wesentliche Charakterzüge. Seine Gewährsleute reichen von Thomas von Aquin und dessen Frage nach dem Gehorsam gegenüber dem positiven Recht als höchster aller Tugenden über Kant bis zur Existenzphilosophie Heideggers und zur Sozialpsychologie von Theodor Litt.

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Sprenger erinnert an zu Unrecht fast vergessene Autoren wie August Scholtis (1901 – 1969) und dessen Prozess um einen gestohlenen Kürbis. An Zbigniew Herberts kurzen Essay zur ›Berufsethik‹ des Henkers knüpft er eine rechtsphilosophische Erörterung über die »abgrundtiefe Fragwürdigkeit« (S. 126) der Todesstrafe.

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Anatole Frances Erzählung Crainquebille (1902) bietet den Ausgangspunkt für einen Bestimmungsversuch des Begriffs ›Rechtsgefühl‹, der bereits in Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas (1810) literarische Bedeutung gewann. Unaufgelöst erscheint in der Forschung das Dilemma, ob das ›Rechtsgefühl‹ einen extra- oder präjuridischen Zugang zum Recht bezeichne, oder ob es sich auf ein nicht expliziertes Vorwissen entweder vom Naturrecht oder vom positiven Recht stützt. Sprenger nimmt im Gefolge Heideggers auf das existenzphilosophische Konzept der ›Gegenseitigkeit‹ Bezug, welches im immer schon gemeinschaftlichen Existieren der Menschen eine Recht und Sein ursprünglich verbindende Gegebenheit erkenne. Darin habe das ›Rechtsgefühl‹ seine Wurzel, das in der Regel nur erwache, wenn diese Gegenseitigkeit bzw. die aus ihr im Alltagsbewusstsein abgeleitete ›Goldene Regel‹ verletzt werde, anderen nichts zuzufügen, was man selbst nicht erleiden möchte.

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Als ein Thema Fontanes macht Sprenger die Wandelbarkeit des Rechts aufgrund seiner dauernd notwendigen Anpassung an das vor-juridische Gerechtigkeitsverständnis aus, welches dieser Autor häufig als ›Natur‹ bezeichne. Daraus entwickelt er eine auf literarische und briefliche Äußerungen gestützte, kurz gefasste Theorie der Rechtsentwicklung.

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Insofern hier das Recht als Lebensform, als Ordnung des Alltäglichen aufgefasst wird, zeigen sich exemplarisch die leicht variierenden Rechtsbegriffe der Arbeiten. So erscheint Sprengers Grundhaltung hier liberaler als bei Johann Peter Hebel. Letzterer illustriert in den Kalendergeschichten des Rheinländischen Hausfreunds nicht das positive Recht, sondern das moralisch Vernünftige, auch wenn beide für ihn meistens übereinzustimmen scheinen. Jedoch wird der Konservatismus in Hebels Begriff einer jeder konkreten Lebensäußerung vorgängigen tradierten Ordnung kaum kritisch profiliert.

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Auf einer wiederum anderen Basis stellt der Aufsatz über Leskows Erzählung Der Wachtposten mit Immanuel Kant dem menschlichen Egoismus die für sich selbst machtlose Vernunft gegenüber, der lediglich das positive Recht zur Seite stünde. Letzteres mag im Einzelfall zu ungerechten Entscheidungen führen; allein die Tatsache aber, dass es bestimmte Sachverhalte normiere und kodifiziere, trüge schon zur gesellschaftlichen Stabilisierung bei.

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Wilhelm Busch schließlich, als Schopenhauerianer, führe die menschliche Bosheit auf unveränderliche Charakteranlagen zurück. Zwar nicht durch seine Bildgeschichten selbst, die keine pädagogische Intention hätten, wohl aber durch Erziehung allgemein solle wenigstens »ein erträgliches, auf wechselseitiger Zumutbarkeit gründendes Miteinander erreicht werden« (S. 84).

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Mögliche Gründe für das Versagen positiven Rechts vor dem Einzelfall erblickt Sprenger also in unterschiedlichen Instanzen und Faktoren der conditio humana. Ebenso variiert die Bewertung und Deutung der ordnenden bzw. gemeinschaftsbildenden Instanzen und Vermögen. Eine literarische ›Einzelfallgerechtigkeit‹ gegenüber den unterschiedlichen Autoren wird so zwar gewahrt, erscheint aber nicht immer historisch begründet.

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Gerhard Sprenger, Honorarprofessor für Rechtswissenschaft an der Universität Bielefeld, langjähriger Geschäftsführer des dortigen Zentrums für interdisziplinäre Forschung und Herausgeber des Archivs für Rechts- und Sozialphilosophie, ist kurz vor Erscheinen des Bandes verstorben.