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Der lange Schatten des New Age

Christoph Jammes gesammelte Aufsätze zur 'Mythologie der Vernunft'

  • Christoph Jamme: Mythos als Aufklärung. Dichten und Denken um 1800. München: Wilhelm Fink 2013. 273 S. Kartoniert. EUR (D) 37,90.
    ISBN: 978-3-7705-5553-6.
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Der Lüneburger Philosoph Christoph Jamme hat ein Buch vorgelegt, das seine beiden zentralen Forschungsschwerpunkte zusammenführt: zum einen sein Interesse für die deutsche Philosophie und Literatur um 1800 (Jamme wurde über Hegel und Hölderlin promoviert 1 ), zum anderen sein Interesse für philosophische Mythos-Theorien (darüber hat er sich habilitiert 2 ). Bereits durch seinen markigen Titel Mythos als Aufklärung vertritt Jammes Buch den Anspruch, mit der bekannten Formel ›Mythologie der Vernunft‹ aus dem Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus das »Signum einer ganzen Epoche« (S. 11) zu beschreiben, die Einheit von Dichten und Denken um 1800 auf den Begriff zu bringen. Das ist kein ganz kleines Vorhaben, aber man darf Jamme auch einiges zutrauen: Er hat jahrzehntelang zu den Wechselwirkungen zwischen Philosophie und Literatur um 1800 geforscht und ist ein intimer Kenner der Geschichte philosophischer Mythos-Theorien.

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Weder aus dem Titel noch aus dem Inhaltsverzeichnis, dem Klappentext oder der Verlagsankündigung lässt sich erschließen, um was für ein Textmuster es sich bei Jammes Buch handelt. Erst am Schluss des kurzen Vorworts wird darüber aufgeklärt, dass man keine Monographie, sondern eine Auswahl von Jammes teils erweiterten Aufsätzen der letzten 30 Jahre vor sich hat. Zugleich soll man das Buch aber offenbar wie eine Monographie lesen, zumindest wird durch das Inhaltsverzeichnis das Vorhandensein übergreifender Argumentationsstrukturen nahegelegt: Verzeichnet werden immerhin ein »Vorwort«, eine »Einleitung«, zwei Hauptteile und ein »Siglenverzeichnis«, nur ein Schlusswort fehlt.

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Komplett neu geschrieben hat Jamme nur das »Vorwort«, selbst die »Einleitung« besteht aus zwei zusammengeschweißten Aufsätzen: einerseits ein Vortrag über »Das Erbe des Idealismus«, andererseits Jammes 1992 im Schiller-Jahrbuch erschienener Aufsatz »Klassische Aufklärung oder aufgeklärte Klassik?«, mit dem er zu einer zeitgenössischen Debatte über das Verhältnis von Aufklärung und Klassik Stellung nimmt. Die beiden zur »Einleitung« amalgamierten Texte sind für sich genommen von hohem Erkenntniswert. Jamme ist ein ausgewiesener Kenner der Materie und man lernt von ihm eine Menge über den Einfluss des Idealismus auf Theologie, Recht, Gesellschaftstheorie, Geschichtswissenschaft, Pädagogik, Naturphilosophie, Literaturwissenschaft etc. Wissenschaftsgeschichtlich aufschlussreich ist auch der Beitrag zum Verhältnis von Aufklärung und Klassik/Idealismus/Romantik, weil sich hier zeigt, welche Grabenkämpfe schon Ende der achtziger Jahre um die Beschreibung dieser Epochenkonstellation geführt wurden, also um Fragen, die in den letzten Jahren wieder verstärkt diskutiert werden. Als Einleitung taugen diese beiden Aufsätze allerdings nicht, weil sie keine Grundlagen klären. Man erfährt nicht, was Jamme mit den schillernden Begriffen Aufklärung, Mythos und vor allem mit dem Band-Titel Mythos als Aufklärung eigentlich meint. 3

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Aufklärung = Naturbeherrschung

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Die beiden Hauptteile des Bandes (Teil I: »Philosophie und Natur«; Teil II: »Aufgeklärter Mythos«) sind fast symmetrisch aufgebaut. In beiden Teilen hat Jamme je acht Aufsätze wiederabgedruckt und zwar mit zwei deutlichen Schwerpunkten: Im ersten Teil beschäftigen sich fünf Aufsätze mit Hegel, im zweiten Teil vier Aufsätze mit Goethe. Im Verlauf der Lektüre zeigt sich zudem, dass beide Hauptteile offenbar im Verhältnis von ›Problemdiagnose‹ und ›Therapie‹ zueinander stehen. Entgötterung und Erniedrigung der Natur, so lautet Jamme zufolge das kardinale Problem, vor dem die junge Generation deutscher Intellektueller am Ausgang des 18. Jahrhunderts steht und das sie mit Pantheismus und Vereinigungsphilosophie zu bewältigen versucht: »Hatte der Monotheismus zur Entgötterung der natürlichen Umwelt geführt und die Natur zum bloßen Material erniedrigt, so ist der um 1800 in vielfachen Spielarten begegnende Pantheismus ein Versuch, dieses Defizit zu kompensieren« (S. 47). Jene Divinisierung der Natur, die die junge Generation der Idealisten und Romantiker betreibe, enthält laut Jamme zudem ein politisches Votum: »Einheit mit der Natur beinhaltet auch politische Freiheit«, im Naturbegriff stecken »oppositionell-anarchische Motive« (S. 48). Hölderlins Gedicht Die Eichbäume, seine »Vision des Eichenwaldes«, entwirft »das Ideal freier Gesellschaft« und das heißt »einer demokratischen Gesellschaft« (ebd.). Jamme buchstabiert nun im Folgenden aus, wie solche normativistischen Naturbegriffe im Werk Hölderlins, Schillers und Novalis’ profiliert und ästhetisiert werden.

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Weitere fünf Aufsätze sind dann ausschließlich Hegel gewidmet, dem sich der Verlust der Einheit mit der Natur als besonders dringliches Problem gestellt hat: Hegels »Grundproblem« sei das »grundlegend gestörte Verhältnis von Natur und Menschenwerk« und die dadurch erforderliche »Rekonstruktion der verlorenen Totalität« (S. 98). In den Hegel-Aufsätzen kommt nun, neben dem Monotheismus, auch der zweite Hauptschuldige zur Sprache, der für die entgötterte Natur verantwortlich ist: die Aufklärung, die offenbar für den jungen Hegel und auch für Jamme identisch ist mit Herrschaft über die Natur. Schuld an dem Debakel sei vor allem Kant: Laut Kant liefern die Sinne

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nichts als eine zusammenhangslose Datenmannigfaltigkeit, erst der Verstand legt die Ordnung in die Natur hinein, […] Kants Erkenntniskritik beinhaltet mithin einen ›Herrschaftsanspruch über die Natur‹, dem gegenüber alle anderen Formen der Beziehung zur Natur als illegitim erscheinen müssen. Gegen diese Konzeption von Herrschaft hat Hegel in Frankfurt vor allem opponiert. (S. 100)
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Kants Erkenntniskritik wird in Jammes Hegel-Deutung mit geradezu drastischen Formulierungen als ein »Herrschaftsinstrument, als System der Gewalt« (S. 101) beschrieben. Zudem sei Hegels Kritik an dieser »Naturfeindschaft« der Aufklärung von »auffallender Parallelität zu den Analysen Adornos und Horkheimers über die Dialektik der Aufklärung« (S. 104). Neben Horkheimer/Adorno stützt sich Jammes Aufklärungsdeutung noch auf eine zweite Gemeinschaftsarbeit, auf eines der Mode-Bücher der achtziger Jahre, nämlich die Kant-Monographie der Brüder Hartmut und Gernot Böhme mit dem inzwischen zum Schlagwort geronnenen Titel Das Andere der Vernunft (1983). 4

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Hier erheben sich allerdings grundlegende Einwände: Es fällt schwer nachzuvollziehen, was Kants Erkenntniskritik eigentlich mit Naturbeherrschung zu tun haben soll. Es ist doch etwas fundamental anderes einen Baum oder eine Hecke zu beschneiden, einen Flusslauf zu begradigen, einen Staudamm zu bauen oder Waldwege anzulegen – das könnte man Naturbeherrschung nennen –, als sich mit Kant klar zu machen, dass die Einheit der Natur eine vom Verstand erbrachte Synthese- und Konstruktionsleistung ist. Mit Kant beherrscht man nicht die Natur, sondern erinnert sich eher demütig an seine Erkenntnisgrenzen, also daran, dass die Art und Weise, wie man die Mannigfaltigkeit der Sinneseindrücke zur Idee von Natur synthetisiert immer schon durch Verstandeskategorien wie Raum und Zeit vorstrukturiert ist. Egal ob man die Natur nun als heilig, entgöttert, mechanistisch, evolutionistisch, deterministisch oder autopoietisch begreift, man überschreitet mit solchen Allaussagen über die Natur eigentlich immer die Grenzen menschlichen Erkennens, betreibt spekulative Metaphysik beziehungsweise einen „spekulativen Gebrauch der Empirie“. 5 Wieso also herrscht man über die Natur, indem man sich die Perspektivgebundenheit aller Wahrheit und damit auch den Konstruktcharakter von ›Natur‹ vor Augen führt? 6

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Dass Jammes Ausführungen solche Einwände provozieren, liegt vor allem an seinem Darstellungsverfahren, bei dem man über weite Strecken kaum unterscheiden kann, ob er die Aufklärungskritik Hölderlins und Hegels nur paraphrasiert oder sich damit identifiziert. Jammes Aufsätze vollziehen immer wieder ähnliche Operationen: Sie benennen das Anliegen eines historischen Akteurs (zum Beispiel die Rekonstruktion der verlorenen Totalität bei Hegel), identifizieren Quellen und Einflüsse (zum Beispiel Rousseau, Shaftesbury u.a.) und beschreiben die intellektuelle Entwicklung dieses Anliegens (der Natur-Begriff beim Berner Hegel, beim Frankfurter Hegel etc.). Was Jamme aber nie erfragt, ist die Funktion, die zum Beispiel ein normativistischer Natur-Begriff für historische Akteure wie Hölderlin und Hegel in der Auseinandersetzung mit weltanschaulichen Gegnern besitzt. Stattdessen übernimmt Jamme ungefiltert Hegels Perspektive auf die Aufklärung.

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Es hätten auch andere Aufklärungs-Begriffe neben denen des jungen Hegel, von Horkheimer/Adorno und den Brüdern Böhme zur Verfügung gestanden, die Jamme aber konsequent meidet: vor allem die Darstellung der Aufklärung bei Panajotis Kondylis (vgl. Anm. 5). In seinem Aufklärungsbuch und seiner Dissertation über Die Entstehung der Dialektik 7 hat Kondylis zum einen gezeigt, dass die Rehabilitation der Sinnlichkeit, die Berufung auf einen normativistischen Naturbegriff, Teil der Aufklärung selbst ist, vor allem der monistischen deutschen Spätaufklärung. Hölderlin und Hegel sind damit weniger Überwinder der Aufklärung, sondern eher deren treue Erben. 8 Zum anderen lässt sich mit Kondylis die Rehabilitation der Sinnlichkeit, um die es den Spätaufklärern ebenso geht wie den Tübinger Stiftlern, als eine »ultra rationem liegende Entscheidung« 9 verstehen, als eine Setzung also, die sich argumentativ nicht selbst begründen kann. Die Haltung der Spätaufklärer und Tübinger Stiftler erklärt Kondylis daher als Ergebnis einer polemischen Auseinandersetzung mit weltanschaulichen Gegnern wie der christlichen Offenbarungstheologie, mit der Hölderlin, Hegel und Schelling im Stift ja konfrontiert waren.

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Wenn die ehemaligen Stiftler nun gegen die christliche Trennung von Immanenz und Transzendenz, gegen die Kantische Trennung von Ding an sich und Erscheinung oder gegen die Trennung von Verstand und Gefühl erfolgreich ein neues Deutungssystem etablieren wollen, dürfen sie nicht den Anschein erwecken, damit keine absoluten Normen, kein Sollen mehr begründen zu können, denn »[m]an wirkt in der Polemik nicht überzeugend, wenn man keine Grundfragen beantworten kann«. 10 Es genügt daher nicht, einfach die Sinnlichkeit gegen die christliche Askese zu postulieren, dann würden man sich vor dem weltanschaulichen Gegner die Blöße geben, ihn auf die nihilistischen und materialistischen Konsequenzen einer rehabilitierten Sinnlichkeit, auf die Relativität aller Normen hinweisen. Damit die Sinnlichkeit als »weltanschauliche Waffe« 11 taugt, muss man sie zuvor entsprechend deuten, sie normativ aufladen, indem man zum Beispiel die Natur zum Ort der Freiheit erklärt, wie Hölderlin im Gedicht Die Eichbäume, oder zum Ort einer immanenten Transzendenz. Intellektuelle des späten 18. Jahrhunderts, von Rousseau über Herder, Schiller, Goethe, Hölderlin, Hegel und andere führen also einen »Zweifrontenkampf gegen Theologie und Materialismus«. 12 Die Strategie, um in diesem Konflikt zu bestehen, nennt Kondylis »Vergeistigung der Sinnlichkeit als Voraussetzung ihrer Rehabilitation«. 13 Man stürzt sich in widersprüchliche Vermittlungspositionen zwischen Normativem und Relativem, Vernunft und Sinnlichkeit (oder bei Jamme: Aufklärung und Mythologie), und zwar aus Furcht vor den nihilistischen Konsequenzen jener Rehabilitation der Sinnlichkeit, die man selbst betreibt.

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Konzepte wie Pantheismus, anthropologischer Monismus und Vereinigungsphilosophie werden bei Kondylis daher nicht als logische Überwindung des christlichen, kantischen oder anthropologischen Dualismus gefeiert, sondern analysiert als der Versuch bestimmter Intellektueller, ein neues Deutungssystem zu etablieren und sich zugleich als dessen führende Vertreter, als Volkserzieher, gesellschaftlich unentbehrlich zu machen. 14 Auch und gerade das im Ältesten Systemprogramm anvisierte Programm einer ›Mythologie der Vernunft‹ ließe sich damit als die ›weltanschauliche Waffe‹ eines Intellektuellen-Milieus mit bestimmten Problemen beschreiben. Solche Versuche, Philosopheme sozial- oder auch problemgeschichtlich zu erklären, unternimmt Jamme jedoch nicht.

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Dies wiederum scheint mit einer unausgesprochenen Sympathie für die Aufklärungskritik des jungen Hegel und seinen Naturbegriff zusammenzuhängen. Wenn Jamme davon spricht, dass Monotheismus und Aufklärung die Natur »zum bloßen Material erniedrigt« (S. 47) hätten und dies von Hegel, Horkheimer/Adorno und auch von Derrida »hellsichtig« (S. 101) erkannt worden sei, dann blitzt in solchen Formulierungen eine unverkennbare Nähe zu den Positionen seiner Gegenstände auf. Gleich am Beginn einer 1987 auf der Hauptversammlung der Goethe-Gesellschaft gehaltenen Rede wird zudem offen von einer »Krise der Moderne und der sie tragenden subjektzentrierten Vernunft« (S. 211) gesprochen: Für Jamme, und das mag seine fehlende Gegenstandsdistanz erklären, liefert die Aufklärungskritik des jungen Hegel also vor allem das Vokabular für eine kulturkritische Auseinandersetzung mit seiner eigenen Gegenwart.

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Poetisierter Mythos als höhere Aufklärung

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Der zweite Teil von Jammes Aufsatz-Band widmet sich jener Lösungsstrategie, mit der Intellektuelle um 1800 die aufklärerische ›Erniedrigung‹ der Natur zu bewältigen versuchen, mit einer Rehabilitation der Sinnlichkeit und deren gleichzeitiger ›Vergeistigung‹, mit einer neuen Naturfrömmigkeit und einem neuen Verhältnis zum Mythos: »Die Mythe wird um 1800 zur Chiffre einer bestimmten Frömmigkeitshaltung und Naturauffassung. Aus einer überlieferten Mythologie wird etwas Mythisches wieder freigesetzt: eine neue mythische Erfahrungsweise, die die Kräfte des Lebens als göttliche Mächte erfährt.« (S. 169). Charakteristisch für die neue Auffassung vom Mythos ist die Allianz zwischen Mythos und Poesie, so Jamme: Um 1800 überlebte der Mythos »als poetische Existenz« (S. 169). Beispiele dafür findet Jamme vor allem bei Goethe, zum Beispiel in den Hymnen Prometheus und Ganymed (S. 214–217), in der Ballade Erlkönig (S. 218), in den Römischen Elegien (S. 173–175) oder in Faust II.

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Was er mit Mythos als Aufklärung meint, zeigt Jamme etwa in seiner Deutung des Helena-Aktes: Den Faust insgesamt liest er als »Kritik des neuzeitlichen Menschen, der autonom, voraussetzungslos die Wahrheit der Dinge begreifen zu können glaubt« (S. 245). Als Antidot gegen diese »Faustische[] Unmittelbarkeit« (ebd.) fungiert nun die Erneuerung mythischen Erlebens »auf dem Wege über die dichterische Einbildungskraft« (ebd.), wie vor allem der Helena-Akt zeige: »Die Zusammenführung von Faust und Helena im dritten Akt besiegelt das Einswerden des Nordisch-Mittelalterlichen mit dem Antik-Griechischen[,] […] [die] Synthese zwischen Antike und Moderne, Süd und Nord, Sinnlichkeit und trockener Gelehrsamkeit« etc. (S. 239). Dadurch, dass »Helena in die abendländische-christliche Welt hineinwächst, indem sie den Reim lernt«, wird sie endgültig zu der Gestalt, »in der der Mythos unter den Bedingungen der Aufklärung einzig fortleben kann: zum Kunstwerk« (S. 240).

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Was aber, muss man hier fragen, hat es dann zu bedeuten, dass es sich beim dritten Akt offenbar um einen Traum Fausts handelt, dass die Möglichkeit einer Vereinigung von Antike und Moderne also nur als Illusion inszeniert wird, woran der Leser noch dazu im Nebentext durch explizite Hinweise auf die Maschinerie der Illusionsbühne mehrfach erinnert wird? Es scheint im Faust II weniger um eine gültige Vereinigung von Mythos und Aufklärung/Moderne im Medium Kunst zu gehen, allenfalls ließe sich davon sprechen, dass die Idee einer solchen Vereinigung zwar angedeutet, zugleich aber unentwegt an deren Illusionscharakter, an das ewige Verfehlen einer solchen Vereinigung erinnert wird. 15

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Dadurch aber wird eine kardinale Frage aufgeworfen, die Jamme sich nicht stellt: Wie soll eigentlich ein aufgeklärter Mythos, also ein gleichzeitig mythischer und rationaler Zugang zur Natur möglich sein, wie soll man an eine mythische Einheit der Natur glauben und diese Einheit zugleich rational als etwas vom Verstand Gemachtes oder als künstlerische Illusion durchschauen? Das kommt einer Quadratur des Zirkels gleich. Karl Eibl hat daher den Faust nicht als Trägermedium für philosophische Lösungskonzepte gedeutet, sondern als offenen Diskussionsraum für unlösbare Probleme. 16 Der Philosoph Jamme dagegen tendiert schon berufsbedingt dazu, literarische Texte eher als Trägermedium von Ideen und kulturellen Konzepten zu lesen und die Frage danach, wie diese Ideen literarisch vermittelt werden und was das für diese Ideen bedeutet, eher auszublenden: Als er einmal Überlegungen zum Heinrich von Ofterdingen anstellt, beschreibt er diesen Roman bezeichnenderweise denn auch als ein »Gefäß« für Novalis’ »Gedanken über die Natur« (S. 63).

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Fazit mit Rückblende: ›Mythologie der Vernunft‹ und New Age

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Bei den einzelnen Aufsätzen von Jammes Band handelt es sich um äußerst kenntnisreiche philosophie- und literaturgeschichtliche Rekonstruktionen mit hohem Informationswert. Die Gesamtanlage des Bandes überzeugt allerdings nicht: Wenn man mit ›Mythos‹ und ›Aufklärung‹ zwei schillernde Begriffe in den Titel aufnimmt, die eigentlich für fast jeden etwas anderes bedeuten, dann kommt man um eine Klärung dieser Begriffe im Vorwort oder in der Einleitung eigentlich nicht herum. Jamme jedoch scheint für Eingeweihte zu sprechen, die sein Vorverständnis beider Begriffe schon teilen. Wer dagegen mit dem Aufklärungsbegriff von Kondylis an Jammes Buch herantritt, den wird die Aufklärungskritik von Hölderlin und Hegel stark an die polemische Rationalismuskritik der monistischen deutschen Spätaufklärung erinnern. Man kann es freilich auch anders sehen als Kondylis, nur, dass Jamme all das nicht einmal erwähnt und stattdessen Aufklärung – legitimiert durch Hegel und Adorno – mit Rationalismus gleichsetzt, verwundert dann doch.

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Hinzu kommen formale Mängel: Etwas unschön ist, dass jeder Beitrag in seiner ursprünglichen Formatierung belassen wurde, so dass Jammes Band 18 verschiedene Stylesheets zugrundeliegen (vgl. auch Anm. 3). Manchmal steht eine Bibliographie am Schluss eines Beitrages, manchmal ist sie schon in die Fußnoten integriert. Auch ein Personenregister wäre wünschenswert gewesen, aber das sind Geschmacksfragen. Schwerer wiegt dagegen, dass der Band mit wenig Sorgfalt redigiert wurde. Wie in fast jeder Publikation (auch in meinen) finden sich darin natürlich Tippfehler, manchmal häufen diese sich allerdings derart oder sind so offensichtlich, dass sich die Frage stellt, wie das in den Druck gelangen konnte: Im Aufsatz über »Hegels Naturauffassung in Frankfurt« (S. 97–108) beendet Jamme an etwa zehn Stellen seine Sätze nicht mit einem Punkt, sondern mit einem Komma, danach beginnt der neue Satz mit einem Großbuchstaben. 17 Im letzten Beitrag über die »Rolle Goethes für die Universität Jena« (S. 259–270) finden sich an mehreren Stellen – etwa gleich im dritten Satz – Pfeile (↑), die möglicherweise in dem Ausstellungskatalog, dem der Text ursprünglich entstammt, eine verweisende Funktion hatten, die für den Wiederabdruck aber nicht getilgt wurden und daher nun ins Leere weisen. 18

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Abschließend noch eine Beobachtung zur Auswahl der abgedruckten Beiträge: Wenn man Jammes gesamtes wissenschaftliches Œuvre überblickt, dann sticht ein Aufsatz von 1988 ins Auge, der schon im Titel genau das Thema des vorliegenden Bandes behandelt: »Aufklärung via Mythologie. Zum Zusammenhang von Naturbeherrschung und Naturfrömmigkeit um 1800.« 19 Wenn man diesen Aufsatz liest, fragt man sich zunächst, warum er nicht in den Band aufgenommen wurde. Er hätte sich hervorragend als Einleitung geeignet, weil hier mit wünschenswerter Klarheit benannt wird, was der Gegensatz Aufklärung vs. Mythologie für Jamme eigentlich meint, nämlich »Rationalität« vs. »Ganzheitsdenken« (ebd., S. 38). Zudem wird hier auch deutlich, um was es Jamme mit der Formel ›Mythos als Aufklärung‹ eigentlich geht, nämlich um ein neues Naturverständnis, ein neues Weltverhältnis.

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Zunächst einmal begegnet man der bekannten Diagnose, die in diesem Aufsatz noch etwas drastischer ausfällt: »So wird unter dem Einfluß des Rationalitätsbegriffs der Aufklärung auch die Natur zu einem Objekt. Der Leib wird diszipliniert und unterworfen, der Verstand gewinnt eine alles beherrschende Macht. Der Tod der Natur ist ein Ereignis, das im Inneren des Subjekts tiefe Wunden schlägt« (S. 47). Dann die Therapie: »Die jungen Idealisten treten dagegen mit dem Anspruch auf, das Andere der Vernunft (die Natur) als Subjekt eigenen Rechts zu erweisen und somit die (Kantische) Subjekt/Objekt-Relation zu einer Subjekt/Subjekt-Relation hin zu verändern« (ebd.). Im letzten Abschnitt ergreift Jamme schließlich offen Partei für diesen Wirklichkeitszugang und erkennt darin auch ein Therapieangebot für die Gegenwart:

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Die Wiederentdeckung des Mythos um 1800 war der Protest gegen eine Verdinglichung der Natur, der Versuch, die Möglichkeit der Subjektivität von Natur zu bewahren. Es war die zuerst mit der christlichen Subjektivität, dann – endgültig – mit der Aufklärung einhergehend[e] Zerstörung der griechischen Naturauffassung, die Entgötterung der äußeren Natur, die die Industriegesellschaft der Neuzeit und mit ihr eine durch die Technik vergewaltigte und unterdrückte Natur erst möglich gemacht hat. (S. 55)
[26] 

Pointiert gesagt: Kant und das Christentum tragen die Ur-Schuld an der Umweltzerstörung. Die Lösung der ökologischen Krise liegt für Jamme daher auch nicht zuerst in praktischen Umweltschutzmaßnahmen, sondern bei Hegel und den Seinen:

[27] 
Das frühromantisch-idealistische Programm einer ›Neuen Mythologie‹ ist in diesem Zusammenhang wieder von mehr als nur historischem Interesse, enthält es doch bereits die heute erneut erhobene Forderung nach einer normativ erneuerten, nicht naturwissenschaftlich-technischen, sondern ganzheitlichen Naturwahrnehmung. (S. 56)
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Unter Berufung auf Klaus Michael Meyer-Abich und andere wird dann postuliert:

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Die Krise der modernen Welt ruft nach einer neuen Ethik. […] Der moderne Rechtsstaat soll über die Menschheit hinaus auf die Natur verallgemeinert werden. Darin sollen nicht nur die Rechte der Tiere, sondern auch die Rechte der Pflanzen anerkannt und gesichert sein. […] Soviel ist gewiß: die ökologische Krise erzwingt eine Änderung der Grundeinstellung zur äußeren und zur eigenen Natur, erzwingt eine ökologisch angemessene Ethik. […] Kann die ethische Frage der menschlichen Verantwortung für die Natur ohne die Kategorie des Heiligen, d.h. ohne den Versuch einer Erneuerung des religiös-mythischen Verhältnisses zur Natur (wie ihn z.B. der junge Hegel und Schelling unternommen haben) auskommen? In jedem Falle bedarf die Aufklärung des Mythos, wenn sie nicht bloße Sache der Köpfe bleiben soll. (S. 56–58)
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Diese Passagen dokumentieren zweifelsohne eine bestimmte Stimmungslage der späten achtziger Jahre, die Mentalität des New Age. Wie sich hier zeigt, will Jamme nicht nur die Ideen des Ältesten Systemprogramms auf die Gegenwart anwenden, sondern seine Vorschläge bleiben auch fast so unkonkret und unpraktisch wie Hegels und Hölderlins Traum von einer neuen subjektivierten, verlebendigten Volksreligion. 20 Zudem legt Jamme beinahe denselben apokalyptischen Ton und denselben Gestus des Volkserziehers an den Tag wie die Tübinger Stiftler. 21 Dies und die starke Zeitbezogenheit des Aufsatzes haben möglicherweise seine Aufnahme in den vorliegenden Band verhindert.

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Warum komme ich dann so ausführlich darauf zu sprechen? Der Blick auf diesen Aufsatz hilft meines Erachtens zu erklären, warum es in dem vorliegenden Band, insbesondere in den Beiträgen zu Hegel, so schwer fällt zu unterscheiden, ob Jamme Positionen nur paraphrasiert oder sich damit identifiziert. Der Aufsatz von 1988 zeigt nun aber deutlich, dass Jammes Interpretationen der letzten 30 Jahre eigentlich von der unausgesprochenen These einer Normativität des Ältesten Systemprogramms und des deutschen Idealismus getragen werden und dass er sich vom Konzept einer ›Mythologie der Vernunft‹ sogar einmal die Lösung von Gegenwartsproblemen wie der ökologischen Krise versprochen hat. Daher zum Schluss noch ein Satz, um mit meinem Unbehagen an einer solchen Identifikation nicht falsch verstanden zu werden: Umweltschutz ist eine zentrale Herausforderung unserer Gegenwart, die man meines Erachtens aber besser ohne Hegel oder Adorno und ohne apokalyptischen ›New Age‹-Pantheismus angeht, weil man sich damit nur eine Reihe von wenig sachdienlichen kultur- und vernunftkritischen Ressentiments einhandelt.

 
 

Anmerkungen

Christoph Jamme: »Ein ungelehrtes Buch«. Die philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797–1800. (Hegel-Studien / Beiheft 23) Bonn: Bouvier 1983.   zurück
Christoph Jamme: »Gott an hat ein Gewand«. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991.   zurück
Die fehlende Kohärenz der beiden Einleitungsaufsätze zeigt sich auch an deren Formatierung. Jamme hat zwar versucht, beide Texte über eine durchlaufende Fußnotenzählung zusammenzufügen, dabei aber nicht einmal ihre unterschiedliche Fußnoten-Formatierung vereinheitlicht. So kommt es, dass Fußnote 1–18 einem Stylesheet folgt, Fußnote 19–30 aber einem anderen.   zurück
Hartmut Böhme / Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983.   zurück
Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart: Klett-Cotta 1981, S. 307.   zurück
Vgl. auch die Bemerkungen zu Kant im aktuellen Band von Jürgen Habermas: Kants Philosophie »räumt mit der Unart auf, die auf innerweltliche Phänomene zugeschnittenen Verstandeskategorien auf die Welt im Ganzen anzuwenden« (Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken. Berlin: Suhrkamp 2012, S. 100).   zurück
Panajotis Kondylis: Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802. Stuttgart: Klett-Cotta 1979.    zurück
Panajotis Kondylis: Aufklärung (Anm. 5), S. 576–649. – Jamme erwähnt dieses aufklärerische Erbe des Idealismus zwar (vgl. S. 48) und hat auch Kondylis’ Dialektik-Buch zur Kenntnis genommen (vgl. S. 55 sowie Jammes Dissertation, wo Kondylis gelegentlich zu philosophiegeschichtlichen Detailfragen konsultiert wird), dies bleibt jedoch folgenlos: Hegels Aufklärungsbegriff wird an keiner Stelle des vorliegenden Bandes auf seine polemische Funktion hin befragt.   zurück
Panajotis Kondylis: Dialektik (Anm. 7), S. 110.   zurück
10 
Panajotis Kondylis: Aufklärung (Anm. 5), S. 300.   zurück
11 
Ebd., S. 19.   zurück
12 
Panajotis Kondylis: Die neuzeitliche Metaphysikkritik. Stuttgart: Klett-Cotta 1990, S. 277.   zurück
13 
Panajotis Kondylis: Dialektik (Anm. 7), S. 129.   zurück
14 
Vgl. Panajotis Kondylis: Aufklärung (Anm. 5), S. 59: »Es ist offensichtlich und läßt sich auch historisch reichlich belegen, daß die neuzeitliche Transzendenz, wie sie sich auf bestimmte Schlüsselbegriffe (Natur, Vernunft, Mensch) konzentriert, in sozialer Hinsicht ähnlich fungiert wie die alte. Unter Berufung auf sie wird die jeweilige Wertskala aufgestellt, und Herrscher ist, wer sie jeweils verbindlich interpretieren kann. Nicht wesentlich anders war es früher um die (offen) transzendente Idee Gottes bestellt.«   zurück
15 
Vgl. Ludwig Stockinger: »Goethes Faust als ›romantisches Drama‹«. In: Bärbel Raschke / ders. (Hg.): Prägungen und Spuren. Festgabe für Günter Mieth zum 70. Geburtstag. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2001, S. 27–53.   zurück
16 
Vgl. Karl Eibl: Das monumentale Ich – Wege zu Goethes »Faust«. Frankfurt/M., Leipzig: Insel 2000.   zurück
17 
Vgl. z.B. S. 98 (Zeile 13 u. 24), S. 100 (Zeile 4 u. 16), S. 101 (Zeile 4), S. 102 (Zeile 22), S. 103 (Zeile 31), S. 104 (Zeile 15), S. 107 (Zeile 36).   zurück
18 
Vgl. S. 260 (Zeile 7), S. 267 (Zeile 6 und hier gleich zweimal), S. 268 (Zeile 13).   zurück
19 
In: Christoph Jamme / Gerhard Kurz (Hg.): Idealismus und Aufklärung. Kontinuität und Kritik der Aufklärung in Philosophie und Poesie um 1800. (Deutscher Idealismus: Philosophie und Wirkungsgeschichte in Quellen und Studien Bd. 14) Stuttgart: Klett-Cotta 1988, S. 35–58.   zurück
20 
Vgl. Panajotis Kondylis: Dialektik (Anm. 7), S. 186–217.   zurück
21 
Ebd., S. 45–51.   zurück