Heinrich Kaulen

Kalendergeschichten und Hausmärchen - neu gelesen




  • Richard Faber: Sagen lassen sich die Menschen nichts, aber erzählen lassen sie sich alles. Über Grimm-Hebelsche Erzählung, Moral und Utopie in Benjaminscher Perspektive. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002. 192 S. Kartoniert. EUR 25,00.
    ISBN: 3-8260-2378-1.


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Richard Fabers Buch über die Hausmärchen der Brüder Grimm und die Kalendergeschichten von Johann Peter Hebel ist keine literaturwissenschaftliche Monographie im traditionellen Sinn. Der Autor argumentiert nicht in erster Linie als Philologe, sondern als ein Grenzgänger, der die Mauern zwischen den Disziplinen durchbricht und in der Religionswissenschaft ebenso zu Hause ist wie in der Soziologie, der Geschichtswissenschaft oder der theologischen Hermeneutik. Auch die Philologie kommt nicht zu kurz, aber es macht dem Verfasser erkennbar Freude, aus dem Mit- und Gegeneinander unterschiedlicher Fragehorizonte und Zugangsweisen kritische Funken zu schlagen, die dann auch der Erkenntnis des Gegenstandes zugute kommen.

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Eine gelehrte Abhandlung herkömmlicher Art kann (und soll) dabei nicht entstehen. Faber charakterisiert sein Buch in Abgrenzung von der üblichen Wissenschaftsprosa denn auch als einen »Collage-Essay« (S. 9). Dessen Gedankenführung ist nicht logisch-deduktiv, sondern unsystematisch, essayistisch und gelegentlich auch assoziativ. Analytisch-interpretative Passagen zu zentralen Leitfiguren, Themen und Motiven gehen mit Kommentaren, Exkursen und mehr oder weniger umfangreichen Zitatmontagen aus der Primär- und. Sekundärliteratur eine eigenwillige Verbindung ein. Die Abkehr von den konventionellen Darstellungsnormen des Wissenschaftsbetriebs ist in diesem Fall aber keine bloße Mode und auch keine private Marotte, sondern deckt sich mit der Intention des Verfassers, eingebürgerte, aber aus seiner Sicht überholte Deutungsmuster provokativ in Frage zu stellen und zu überschreiten. Wer Büchern aufgeschlossen gegenübersteht, die längst bekannte Texte kritisch gegen den Strich lesen, ohne sich pedantisch nach den Gepflogenheiten des akademischen Betriebs zu richten, wird in Fabers Werk auf jeden Fall eine Reihe neuer Entdeckungen machen können.

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Die Volksliteratur im
Spannungsfeld von Aufklärung und
jüdisch-christlicher Theologie

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Schon im Untertitel seines Buchs, der mit Hebel und Grimm zwei unterschiedliche Exponenten des volksliterarischen Erzählens im frühen 19. Jahrhundert zu der Kurzformel »Grimm-Hebelsche Erzählung« zusammenführt, bringt Faber die polemische Absicht seiner Darstellung auf den Punkt. Er will auf den Spuren von Ernst Bloch, Robert Minder und vor allem von Walter Benjamin die Erzählungen der Brüder Grimm und Hebels vor dem Verdacht retten, in ihnen offenbare sich nur eine biedermeierlich-beschränkte Weltsicht, wenn nicht eine fragwürdige Heimattümelei oder gar eine völkisch-nationale Gesinnung. Vorurteile dieser Art sind für Faber das Produkt einer höchst restriktiven und selektiven Rezeption, die weite Teile des Textkorpus bewusst ignoriere und, statt dessen Spektrum in seiner ganzen Reichweite und Vielfalt zu erschließen, von einem verengten Begriff des Märchens bzw. der Kalendergeschichte ausgehe. Dabei würden auch die Brücken geleugnet, welche diese Erzählformen untergründig verbinden – etwa die Beziehungen, die vom Volksmärchen der Romantik zurück zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts oder umgekehrt von einem populären Volksaufklärer wie Johann Peter Hebel zu den romantischen Märchensammlern und -autoren führen.

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Faber hingegen sieht, im Rückgriff auf eine bereits 1870 von Rudolf Marg geprägte Formulierung, in der sog. »Grimm-Hebelschen Erzählung« einen bei allen Akzentverschiebungen letztlich »einheitlichen Denk- und Literaturtypus« (S. 11) realisiert, der es nicht gestatte, das eine Genre gegen das andere auszuspielen und ihre Affinitäten zu verwischen, wie es in der Forschung immer wieder, etwa bei Heinz Rölleke (S. 12 f.), der Fall sei. Die Prämisse eines Hebel und Grimm verbindenden Erzähltypus hat bei Faber also nicht zuletzt die Funktion eines polemischen Konstrukts, das Verzerrungen und ideologische Dogmatisierungen der Wirkungsgeschichte aufbrechen und den utopisch-emanzipatorischen Gehalt des volksliterarischen Erzählens nach 1800 wieder zur Geltung bringen soll. Damit zieht der Verfasser zugleich eine Bilanz seiner älteren Aufsätze zu Hebel, die den Autor des Rheinländischen Hausfreunds einer kritischen Rettung im Sinne Walter Benjamins unterziehen wollen, und weitet seinen Ansatz – wiederum im Rekurs auf diesen jüdischen Theoretiker und dessen allerdings nur fragmentarisch skizzierte Märchentheorie – auf das Märchen im 19. Jahrhundert aus.

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Säkularisierte Homiletik

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Faber erblickt das Verbindende von Märchen und Kalendergeschichte vor allem darin, dass beide, ohne irgendeinem orthodoxen Gattungspurismus anzuhängen, im Kern einer »säkularisierten Homiletik« (S. 15) verpflichtet seien. Gestützt auf die einschlägigen Forschungsarbeiten von Manfred Grätz (Das Märchen in der deutschen Aufklärung, Stuttgart 1988), Beate Kellner (Grimms Mythen, Frankfurt/M. 1994) und Wilhelm Solms (Die Moral von Grimms Märchen, Darmstadt 1999), arbeitet seine Studie insbesondere die Beziehungen zum Erbe der Aufklärung und zur christlich-jüdischen Theologie mit einer Vielfalt von Einzelbelegen heraus. Der Mythos vom volkspoetischen Ursprung der Hausmärchen wird kritisch revidiert, weil er den Blick darauf verstelle, dass die Märchen – nicht anders als die Hebelschen Kalendergeschichten – nach literarischen Mustern geformt und ein Produkt humanistischer Bildung seien. Beide Textsorten besitzen für Faber eine dezidiert anti-mythologische, eschatologisch-messianische Dimension, die auf diesseitige Befreiung, die Versöhnung von Mensch und Natur und die Ermöglichung eines gewaltfreien Lebens zielt. Diese Intention prägt die pädagogische Aussage der Texte ebenso wie die dialogisch-menschenfreundliche Art ihrer Vermittlung.

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Dahinter steht zum einen die Tradition der christlichen Bibel (S. 67–78) mitsamt dem urchristlichen Tugendkatalog der Bergpredigt von Barmherzigkeit, Altruismus und Solidarität, zum anderen der Einfluss der jüdischen Überlieferung, welche die Verkündung der Lehre (Halacha) immer an bestimmte Erzählungen und undogmatische Beispielgeschichten (Aggada) knüpft (S. 46–66), aus denen der Leser durch eigenständiges Nach- und Weiterdenken Weisheit schöpfen kann. Allerdings verkümmert die – oft indirekt oder ex negativo vermittelte – Einsicht bei den Grimms, wie Faber kritisch einräumen muss, gelegentlich auch zur Affirmation des bürgerlichen Anstandskanons (S. 56). Aber auch hier dominiert letztlich eine christlich-aufklärerische Gesinnung, welche die herkömmliche Bürgermoral in die Schranken weist und auf eine Utopie des gerechten Lebens und des irdischen Lebensglücks zielt. Selbst das negative, ›schwarze‹ Anti-Märchen des 20. Jahrhunderts, das in düsteren Bildern von der Gefahr einer »Apokalyptik ohne Reich« (S. 105) spricht, ist den romantischen Märchenautoren und -sammlern, wie an manchen, meist übersehenen Texten (z.B. Grimms Wie Kinder schlachtens miteinander gespielt haben) demonstriert werden kann, keineswegs fremd.

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Zwischen Germanomanie
und Kosmopolitismus

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An die Abhandlung Fabers schließen sich drei Exkurse an, welche deren Leitgedanken teils differenzieren, teils weiterführen: Im ersten Exkurs werden – in gewissem Kontrast zur Kontinuitätsthese des Hauptteils – die »Germanomanie« und der Antisemitismus der Brüder Grimm dem vorurteilslosen Kosmopolitismus des »Hausfreunds« Johann Peter Hebel gegenüber gestellt (S. 131–151). Die Suche nach einem »urdeutschen Mythos«, der die Grimms bei ihrer Herausgebertätigkeit nachweislich leitete, wird religionskundlich ins Reich der Fabel verwiesen: »von einem ›in die älteste Zeit hinaufreichenden Glauben‹ [kann] nicht die Rede sein [...] – schon gar nicht von einem irgend ›(indo-)germanischen‹« (S. 133). In Wahrheit hätten die Grimms etliche Quellen, etwa das bekannte Dornröschen, das sie den französischen [!] Märchen eines Perrault entnahmen, lediglich im Sinne ihres neuheidnischen Germanenmythos stilisiert und umfunktioniert. Um diesen »Neopaganismus« mit der zuvor aufgedeckten jüdisch-christlichen Traditionslinie in Deckung zu bringen, muss Faber freilich unterstellen, dass die Grimms ihre aufklärerisch-protestantischen, von antijüdischen Klischees keineswegs ganz freien Glaubensvorstellungen wiederum auf die (vermeintliche) »Religion der ›alten Germanen‹« zurückprojiziert haben (S. 144 f.).

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Der zweite Exkurs geht am Beispiel von Walter Benjamins Rundfunkarbeiten der verborgenen Wirkungsgeschichte Johann Peter Hebels nach. An Ergebnisse der aktuellen Benjaminforschung anknüpfend, kann Faber zeigen, dass Benjamins Radiopraxis den scheinbar altväterlichen Gestus des Hebelschen Erzählers unter veränderten sozialen und medialen Kontexten aufs Neue zur Geltung bringt (S. 153–176).

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Schließlich differenziert der dritte Exkurs unter dem Titel »Ständegesellschaft, Schwejkmoral und Schabernack« (S. 177–192) noch einmal die politisch-ideologische Grundhaltung der behandelten Autoren. Diese bleiben in ihrem Weltbild zwar weitgehend der paternalistischen Ständeordnung ihrer Zeit verhaftet, weisen aber in ihrer Sympathie für die Spitzbuben und Außenseiter darüber hinaus und propagieren die listige Überlebenskunst der Schwächeren: »Hebel hält zu jenen unblutigen Rebellen im kleinen, die nicht die gegebene Ordnung umstürzen, aber sie relativieren, indem sie außerhalb ihrer existieren und so den Ort bezeichnen, von wo aus die Scheinwerte des Bürgertums als nichtig, seine Werte als fragwürdig erscheinen [...]«(S. 182). Eine ähnliche Subversion bürgerlicher Normen und Sinnkonventionen ist nach Faber auch in den Hausmärchen zu beobachten, wenn sie, bei allem Einverständnis mit dem Bestehenden, der Lust an Regelverletzungen, dem Witz, ja der Freude am nonsense Sprache verleihen.

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Hebel und Grimm
in »unzeitgemäßer« Sicht

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Richard Faber hat ein, gemessen an aktuell grassierenden Wissenschaftsmoden, ganz und gar untypisches und im besten Sinne ›unzeitgemäßes‹ Buch vorgelegt. Er nimmt darin kein Blatt vor den Mund, scheut nicht die – immer um Differenziertheit und Sachlichkeit bemühte – Kritik an etlichen Autoritäten der Zunft und bekennt sich als Schüler von Jacob Taubes vorbehaltlos zu seinen eigenen geschichtsphilosophischen Prämissen, zu denen auch das – heute nur noch selten zu lesende – Bekenntnis gehört, dass der Mensch ein »transzendentes«, mithin der Utopie bedürftiges Wesen sei (S. 127). Auch wer nicht all seinen Hypothesen und pointierten Schlussfolgerungen zustimmen mag, wird die neuen Einsichten begrüßen, die seine kleine Studie in vielen Passagen bietet.

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Vor allem die in der Rezeptionsgeschichte gern übersehene Verbindungslinien, die vom (scheinbar) ›volkstümlichen‹ Erzählen des frühen 19. Jahrhunderts zur Aufklärung und zu alten messianisch-theologischen Denkfiguren zurückführen, werden überzeugend rekonstruiert. Mit Engagement und einer in Fachkreisen mittlerweile eher zur Ausnahme gewordenen Begeisterung für die Sache wird insbesondere das Märchen von der Gleichsetzung mit einer (gegenaufklärerischen) Romantik und einer fatalen ›deutschen Mythologie‹ gereinigt. Hier füllt das Buch eine Lücke und setzt eine Forschungstradition fort, die seit den 1970er Jahren – den Anregungen der Kritischen Theorie und Robert Minders, aber auch der kritischen ›Volkskunde‹ eines Hermann Bausinger folgend – von den deutschtümelnden und mythisierenden Theorien der älteren Forschung aus guten Gründen mehr und mehr abgerückt ist.

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Offene Fragen

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Freilich neigt Faber bei seiner berechtigten Polemik gegen diese unheilvolle Phase der Wissenschaftsgeschichte gelegentlich dazu, im Zeichen von Aufklärung und Emanzipation die Affinitäten zwischen den von ihm behandelten Erzählformen zu überzeichnen. Zwar sind die Grimms und Hebel in der Tat Zeitgenossen, doch auch Zeitgenossen können, wie Faber in seinem ersten Exkurs selbst konzediert, unter Umständen ganz unterschiedliche Wege einschlagen, und das nicht nur in ideologischer Hinsicht. Insofern wäre auch an der literaturhistorischen Unterscheidung zwischen Aufklärung und Romantik, sofern sie nicht zu einem abstrakten Dualismus überdehnt wird, festzuhalten.

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Auch gegenüber der Konstruktion eines »weithin einheitlichen Denk- und Literaturtypus«, den man als »Grimm-Hebelsche Erzählung« bezeichnen könnte (S. 11, 13 f.), bleibt meines Erachtens Skepsis geboten. Macht es Sinn, ein sehr weit ausdifferenziertes Textspektrum, auf dessen Breite und Vielfalt der Verfasser mit Recht besteht, wiederum unter einen einzigen, poetologisch obendrein einigermaßen unscharfen Gattungs(ober)begriff zu subsumieren? Besitzt ein literaturwissenschaftlicher Ordnungsbegriff (»Literaturtypus«) kategorial denselben Status wie ein historisch-phänomenologischer Begriff von der Art eines »Denktypus«? Werden die in gattungspoetischer Hinsicht fraglos vorhandenen Differenzen zwischen Kalendergeschichten und Märchen hier nicht eher verwischt? Kann man den untergründigen Parallelen und Affinitäten zwischen diesen Textsorten – als Konvergenz in der Differenz – nicht auch ohne ein solches weitreichendes Konstrukt gerecht werden? Auch wenn man Fabers Abhandlung nicht an der Elle einer ›zünftigen‹ literaturwissenschaftlichen Monographie messen möchte, sind dies doch Fragen, die eine weitere Diskussion verdienen.

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Ein abschließendes Wort noch zur Form der Arbeit: Die Studie ist gerade wegen ihres ungezwungenen Umgangs mit akademischen Darstellungsnormen gut lesbar geworden. Bisweilen wünscht man sich als Leser indessen doch, dass die Grenzen zwischen wörtlichem Zitat, Paraphrase und metasprachlichem Kommentar etwas deutlicher markiert würden, als dies bei dem von Faber proklamierten »Collage-Essay« der Fall ist. Vor allem aber vermisst der Leser am Ende dieses sonst so menschenfreundlichen und lebensklugen Buchs ein Literaturverzeichnis sowie ein separates Titelregister, das ihm den Zugang zu den relevanten Forschungsarbeiten und Primärtexten erleichtern würde.


Prof. Dr. Heinrich Kaulen
Philipps-Universität Marburg
Institut für Neuere deutsche Literatur
Wilhelm-Röpke-Str. 6 A
DE - 35039 Marburg

Ins Netz gestellt am 17.03.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Uwe Steiner. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Heinrich Kaulen: Kalendergeschichten und Hausmärchen - neu gelesen. (Rezension über: Richard Faber: Sagen lassen sich die Menschen nichts, aber erzählen lassen sie sich alles. Über Grimm-Hebelsche Erzählung, Moral und Utopie in Benjaminscher Perspektive. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002.)
In: IASLonline [17.03.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=374>
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