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Kosmologie des Als Ob

  • Christina Wessely: Welteis. Eine wahre Geschichte. Berlin: Matthes & Seitz 2013. 384 S. Gebunden. EUR (D) 29,90.
    ISBN: 978-3-88221-989-0.
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Wissenschaft und Pseudowissenschaft

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Wenn sich Wissenschaft selbst zum Gegenstand macht – als Wissenschaftstheorie, Wissenschaftssoziologie oder Wissenschaftsgeschichte – dann geht es immer auch um Fragen der Abgrenzung: Wie lässt sich das ›wahre‹ Wissen der Wissenschaft vom ›falschen‹ Wissen der Anti-, Para- oder Pseudowissenschaften unterscheiden? In den letzten Jahrzehnten konnte vor allem die historische Epistemologie zeigen, dass die wissenschaftliche Vernunft diese Trennung nicht alleine vollzieht, sondern dass die Unterscheidung das Produkt eines komplexen historischen Diskursgeflechts ist. Mit Christina Wesselys Buch über die Welteislehre liegt nun eine glänzende Arbeit zu einem einschlägigen Fall vor, an dem sich exemplarisch studieren lässt, welche Mechanismen die Grenze zwischen wahrem und falschem Wissen ziehen.

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Die Monographie ist die Summe mehrerer älterer Aufsätze Wesselys zum Thema. 1 Im Vergleich zu älteren Abhandlungen zeichnet sich ihre Forschung dadurch aus, dass sie die Welteislehre mit den Methoden einer historischen Epistemologie untersucht. Während ältere Abhandlungen die Differenz zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft als gegeben angenommen haben – und daher nur sehen konnten, was sie bereits voraussetzten 2 –, geht es Wessely darum, »anhand des Beispiels der Welteislehre die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Pseudowissenschaft und der subversiven Attraktion falschen Wissens neu [zu stellen]« (S. 23). Die Methode, die Wessely zur Bearbeitung dieser Frage wählt, ist die historische Narration. Ihre Erzählstruktur ist, um es mit Hayden White zu sagen, die der Komödie: Wessely erzählt das Verwirrspiel um eine Kosmologie, die mit einer »subversiven Attraktion des Als Ob« (S. 265) ausgestattet ist und es gegen alle Widerstände fast bis zur offiziellen Staatstheorie schafft, bevor sie durch die Mondlandung endgültig erledigt wird. 3 Das Buch ist in drei Hauptkapitel gegliedert, die es wie ein Dreiaktschema strukturieren.

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Eine Komödie in drei Akten

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Der erste Akt enthält die Exposition der Welteislehre. Wessely beschreibt, wie den Wiener Ingenieur und Hobbyastronom Hanns Hörbiger ein Geistesblitz durchfährt, als er im September 1894 auf den Mond blickt: Der Mond, so seine revolutionäre Einsicht, ist kein Planet wie die Erde, sondern besteht aus Eis. Hörbiger entwickelt in den nächsten Jahren eine umfassende kosmologische Theorie, die auf dem Gedanken basiert, dass das Weltall von einem dualistischen Prinzip zwischen heißen Körpern wie der Sonne und kalten Körpern wie dem Eismond beherrscht wird. Damit wärmt er den alten geologischen Streit zwischen Plutonisten und Neptunisten auf, überträgt ihn jedoch auf das gesamte Universum. Die Entstehung unseres Sonnensystems erklärt er damit, dass vor Millionen von Jahren ein großer Eisplanet in eine gewaltige Ursonne eingedrungen sei. Auch die Erdgeschichte erfährt eine neue Deutung. Hörbiger zufolge sind immer wieder neue Eismonde auf die Erde niedergestürzt, die einerseits katastrophale Sintfluten hervorgerufen, andererseits die Entstehung neuer Arten ermöglicht hätten. 4

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Der erste Akt endet mit der Publikation des Hauptwerks der Welteislehre, Hörbigers Glacial-Kosmogonie von 1913, – und dessen einmütiger Ablehnung durch die wissenschaftliche Fachwelt. Hörbiger konnte nur wenige Anhänger gewinnen, und auch diese zumeist nur aus seinem beruflichen Umfeld. Als 1918 schließlich sein beträchtliches Vermögen, das er in Kriegsanleihen angelegt hatte, verloren ging, schien auch seine Lehre gescheitert zu sein.

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Den zweiten Akt, der in den 1920er Jahren spielt, lässt Wessely mit einer Peripetie beginnen: Die Vertreter der Welteislehre brachen den für sie enttäuschenden Kontakt mit der Wissenschaft ab und versuchten durch die Gründung von Welteis-Gesellschaften, durch Vorträge, Zeitschriften, Romane sowie mit den neuen Medien Radio und Film die Laienöffentlichkeit auf ihre Seite zu ziehen. Mit dieser Strategie waren sie derart erfolgreich, dass sie die etablierten Astronomen und Geologen zu einer öffentlichen Entgegnung zwangen. 5 Der Preis, den die akademischen Wissenschaftler zahlen mussten, war allerdings hoch. Denn nun konnte sich die Welteislehre als ebenbürtiger Gegner in einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung inszenieren.

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Der dritte Akt beginnt mit dem Tod Hörbigers am 11. Oktober 1931. Weil er sich zeitlebens als Originalgenie seiner Lehre inszeniert hatte und »nicht nur Diskursbegründer, sondern immer auch der einzig wahre Experte« war (S. 213), stand die Welteislehre erneut vor dem Aus. Doch es kommt zu einem weiteren Wendepunkt, als Heinrich Himmler die Welteislehre in die nationalsozialistische Forschungseinrichtung Ahnenerbe integriert. Unter seiner Protektion erlangt Hörbigers Lehre einen späten Höhepunkt ihrer Popularität, ließ sie sich doch gegen die ›jüdische‹ Relativitätstheorie ausspielen und bot sie sogar Anknüpfungspunkte für die Ideologie eines nordischen Menschen. Mit dem Untergang des ›Dritten Reiches‹ verlor die Welteislehre ihren politischen Rückhalt, und spätestens mit der Mondlandung 1969 war sie evidenterweise widerlegt.

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Wesselys Buch verdankt ihrem spannenden Quellenmaterial viel. Es jedoch darauf zu reduzieren, wäre verfehlt. Denn stets verhandelt sie grundlegende wissenschafts- und kulturhistorische Fragen, für die die Welteislehre nur als Exempel, oder – um noch einmal auf Hayden White anzuspielen – als pars pro toto fungiert. 6 Das Ganze, auf das Wesselys Exempel abzielt, ist letztlich die epistemologische Konstellation zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die drei wichtigsten Fragen, die im Folgenden kurz diskutiert werden sollen, lauten: (1) Warum gelingt der Welteislehre gerade in den 1920er Jahren der Durchbruch? (2) Welche Mechanismen organisieren den Einschluss in die und den Ausschluss aus der Wissenschaft? (3) Welche Rolle spielt dabei die Öffentlichkeit?

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Expertentum und Holismus

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Wessely betont mehrfach, dass die Erfolgschancen der Welteislehre denkbar schlecht standen. Ihr Anfang datiert in die Hochphase des Naturalismus und erst wenige Jahre vor Hörbigers ›Entdeckung‹ hatte Werner von Siemens die Ingenieure auf einen naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt eingeschworen. Wie sollte sich da eine Theorie durchsetzen, die auf Intuitionen und Ad-hoc-Annahmen beruhte?

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Auf diese Frage gibt Wessely zwei Antworten. Die erste Erklärung sieht sie in einer anderen Kältetheorie, nämlich im Entropiegesetz (S. 27–38). Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik wurde in der Öffentlichkeit um die Jahrhundertwende so ausgelegt, dass aus ihm der langsame Kältetod des Universums folgen müsse. Die Vorstellung eines solchen kontinuierlichen energetischen Verfalls war gut mit den zeitgenössischen décadence-Vorstellungen eines allgemeinen kulturellen Verfalls vereinbar. Sie öffnete aber auch einen Spielraum für gegenteilige Ansichten. Genau in diesem Raum habe sich Hörbigers Welteislehre verortet, indem sie dem linearen Zeitmodell aus dem Entropiediskurs ein zyklisches Modell entgegensetzte (S. 39–60). Hörbigers Kosmologie kannte nämlich sowohl Zyklen der Erdgeschichte, die sich aus den Abstürzen verschiedener Erdtrabanten ableiten ließen, als auch die zyklische Geschichte des Sonnensystems, weil auch die Erde einmal in die Sonne stürzen würde, wodurch letztlich eine neue Sternmutter entstünde.

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Wie gut sich diese Zyklen tatsächlich als Alternative zu kulturellen Verfallsdiagnosen geeignet haben, ob die Welteislehre vielleicht sogar zu einem Bezugspunkt für geschichtsoptimistische Stimmen werden konnte, die es in der Weimarer Republik durchaus gab, 7 ist allerdings fraglich und wäre mit einer eigenen Rezeptionsstudie genauer zu untersuchen. Eine gewisse Skepsis ist angebracht, da auch Hörbiger einen oder sogar mehrere Weltuntergänge prophezeite und die ›Sensationsvorträge‹ aus dem Umfeld der Welteislehre häufig die apokalyptische Sensationslust des Publikums bedienten. Offenbar hat also auch die Welteislehre von der Dekadenzsemantik profitiert.

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Wesselys zweite Antwort auf die Frage, warum die Welteislehre ausgerechnet zur Blütezeit der Physik so erfolgreich wurde, geht einen Schritt weiter. Sie setzt an der Diagnose an, dass die Naturphilosophie um 1900 mit dem Erfolg der Naturwissenschaften nicht Schritt halten konnte. Wessely zufolge war die Welteislehre der Versuch einer holistischen Weltdeutung, die das Feld der Naturerklärungen nicht der Mathematik, den Zahlen und Diagrammen überlassen wollte (S. 148–155). Wenn sich Hörbiger als Dr. Faust inszenierte (S. 193) oder sich methodisch ganz offen auf seine Intuition und Einbildungskraft berief, war das also nicht etwa ein Hindernis für den Erfolg der Theorie, sondern er konnte im Gegenteil dadurch als ein »›neuer Humboldt‹«(S. 154) auftreten und aus der Naturwissenschaft Antworten auf die Sinnfragen menschlicher Existenz ableiten. In Wesselys Darstellung wird die Welteislehre so zu einem Exempel für einen typischen Widerspruch der Moderne zwischen der ›Entzauberung der Welt‹ durch naturwissenschaftliche Experten und der Entstehung von holistischen, großen Erzählungen.

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Narration als Argument

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Für das zentrale Kapitel des Buches, in dem die Abgrenzungsprozesse zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft explizit zur Sprache kommen (S. 131–148), unterbricht Wessely die Geschichte der Welteislehre zugunsten eines Exkurses in die Geschichte der Wissenschaftstheorie. Zur selben Zeit, zu der holistische Denker vom Schlage Hörbigers spekulative Theorien entwickelten, arbeiteten antimetaphysische Philosophen wie Karl Popper oder Wissenschaftstheoretiker im Wiener Kreis um Moritz Schlick daran, eine scharfe Grenze der Wissenschaft zu ziehen. Wie Wessely zeigen kann, verdanken sich beide Ansätze derselben epistemologischen Konstellation. Beide geben eine Antwort auf die Frage, wie philosophisch sinnstiftende Erkenntnisse angesichts der naturwissenschaftlichen Revolutionen überhaupt noch möglich sind. Sollte man den universalen Anspruch der Naturwissenschaften ablehnen – das ist Hörbigers Antwort – oder die Philosophie selbst auf einen logischen Positivismus beschränken – so beispielsweise Schlick?

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In ihrem Exkurs führt Wessely die Tradition der logisch-positivistischen Wissenschaftstheorie bis in die Gegenwart weiter. Mario Bunge gilt ihr dabei als einer der prominentesten Vertreter einer Wissenschaftstheorie, die die Grenze der Wissenschaft anhand von Eigenschaften wissenschaftlicher Aussagen bemessen will. Wer Wissenschaft von Pseudowissenschaft trennen wolle, müsse daher laut Bunge den wissenschaftlichen Inhalt (content) und nicht die sozialhistorischen Bedingungen (context) des Wissens untersuchen.

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Gegen eine solche Verknappung des Problems, die den Kompetenzbereich der Wissenschaftsgeschichte massiv beschneiden würde, spricht sich Wessely aus:

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Entgegen dieser methodischen Kritik an der symmetrischen Betrachtung ›wahren‹ und ›falschen‹ Wissens zeigt sich am Beispiel der Welteislehre […][,] wie die hier vorgeschlagene Trennung in wissenschaftlichen Inhalt und kulturellen Kontext ein Verständnis ihrer wechselvollen Geschichte unmöglich machen würde. (S. 144 f.)
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Diese ›wechselvolle Geschichte‹ aber ist es doch gerade, wie das Buch zeigt, in der sich die Trennung von Wissenschaft und Pseudowissenschaft beobachten lässt.

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Was Wessely am Beispiel der Welteislehre also vorführt, ist, dass wissenschaftliche Abgrenzungsprozesse nur in der Wissenschaftsgeschichte gesehen werden können. Wer ›wahres‹ von ›falschem‹ Wissen unterscheiden möchte, muss Wessely zufolge die historische Narration und nicht die wissenschaftstheoretische Analyse wählen. Die Wahrheit der Unterscheidung zwischen wahrem und falschem Wissen ist nichts anderes als die historische Wahrheit der erzählten Geschichte – deswegen auch der Untertitel »Eine wahre Geschichte«. Die eigentliche Pointe also und das wichtigste Argument des Buches ist seine narrative Form. Wesselys implizite Grundannahme lautet, dass durch eine kritische Analyse der Inhalte der Welteislehre und durch die Auflistung der wissenschaftlichen Fehler Hörbigers nur der Ausschließungsdiskurs selbst wiederholt werden würde. Die Erzeugung des Ausschlusses wäre für eine solche Analyse aber, folgt man Wessely, ein blinder Fleck. Deswegen erkennt erst die historische Narration im geschichtlichen Rückblick die Produktionsmechanismen von ›wahrem‹ und ›falschem‹ Wissen.

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Öffentlichkeiten

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Um nun die historischen Mechanismen zu erklären, die bewirkt haben, dass die Welteislehre den Status einer Para- oder Pseudowissenschaft erhielt, greift Wessely auf Ideen von Michel Serres zurück. Die Geschichte der Welteislehre lasse sich nicht auf die beiden Perspektiven zwischen Hörbigers Pseudowissenschaft auf der einen und der etablierten akademischen Wissenschaft auf der anderen Seite zurückführen. Denn erst als sich die Vertreter der Welteislehre an ein Laienpublikum gewandt hatten, erst als mit der Öffentlichkeit ein dritter Agent hinzugetreten ist, sei der Streit um den wissenschaftlichen Status der Welteislehre ausgetragen worden:

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Der dritte Agent war scheinbar abwesend, und doch war er in Wahrheit der mächtige – so einflussreich, dass die akademischen Gelehrten befürchteten, er könnte die Frage nach der Wahrheit (falsch) entscheiden. Erst durch ihn, erst durch die Öffentlichkeit wurde der Diskurs dynamisiert, geriet das nunmehr dreiteilige Schema in Rotation, wurden Beziehungen gestiftet, konnte geredet, gekämpft, verhandelt werden. Erst durch das Eintreten des Dritten wurde Hörbiger paradoxerweise zum parasitären Außenseiter. (S. 145 f.; vgl. S. 92 f.)
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Das wirft nun freilich die Frage auf, ob die Öffentlichkeit, die im Beispiel der Welteislehre so entscheidend war, das notwendige Dritte für die Ausgrenzung einer Parawissenschaft war, ob sie zumindest als ein typisches Drittes für wissenschaftliche Ausschließungsprozesse in der Moderne angesehen werden kann, oder ob es nicht auch ganz andere Ausschlussmechanismen gab – und Wessely betont ja, dass Hörbigers Theorie im Jahr 1919, noch bevor eine große Öffentlichkeit sie kannte, praktisch erledigt war. Diese Fragen lassen sich anhand eines einzelnen Beispiels schwer beantworten.

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Zu fragen wäre auch, ob Wessely in ihrer Monographie nicht zwei Konzepte von Öffentlichkeit verwendet, die sich klarer unterscheiden ließen: im Sinne eines epistemologischen und eines phänomenologischen Begriffs. Phänomenologisch tritt die Öffentlichkeit bei Wessely als ein Publikum auf, das die etablierten Akademiker zwingt, die Welteislehre mit ihren Erkenntnissen zu bekämpfen. Diese Öffentlichkeit hat Hörbiger beispielsweise im Blick, wenn er seine Lehre in einem gewaltigen Archiv aufbewahrt (S. 96–98). Epistemologisch handelt es sich bei ihr jedoch um eine Laienöffentlichkeit, die sich gegen die ›einseitigen‹ Welterklärungen der Naturwissenschaften wehrt, die den ›gesunden Menschenverstand‹ und die Intuition zu wissenschaftlichen Erkenntnisquellen erheben will und zu der man Hörbiger und seine Anhänger selbst zählen könnte.

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Wie verhalten sich diese beiden Öffentlichkeiten zueinander? Ist es die phänomenologische Öffentlichkeit, die zu belehren sich die Wissenschaft verpflichtet fühlt? Oder wendet sich die Wissenschaft nicht auch gegen den epistemologischen Erkenntnisanspruch der Laienöffentlichkeit, um die Methoden der naturwissenschaftlichen Experten zu verteidigen? Ist schließlich diese Öffentlichkeit um 1900 – mit Habermas gefragt – immer noch so strukturiert wie die Öffentlichkeit des bürgerlichen Salons um 1800? Das wären zumindest einige der Fragen, die sich an Wesselys Einzelfallstudie anschließen ließen.

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Resümee

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Wesselys Buch zielt auf die großen Themen, die eine gegenwärtige Wissenschaftsgeschichte als historische Epistemologie umtreiben müssen. Sie behandelt diese Themen am Beispiel eines Materials, das den Leser bis zum Ende in seinen Bann zieht – was nicht zuletzt Wesselys glänzendem Schreibstil und ihrem souveränen Umgang mit den Quellen zu danken ist. Dass die Auseinandersetzung mit der Wissenschaftstheorie skizzenartig bleibt und theoretische Fragen der Ausdifferenzierung eines Wissenschaftssystems oder der zugrundeliegenden Machtmechanismen nur implizit behandelt werden, ist durchaus programmatisch: Wessely will sich auf das analytische Spiel, wie es beispielsweise die Wissenschaftstheorie pflegt, so wenig wie möglich einlassen. Die Plausibilität ihres wissenschaftsgeschichtlichen Ansatzes soll narrativ erzeugt werden, und zwar durch eine Narration, die sich nicht nur an ein Fachpublikum, sondern auch und vor allem an eine (Laien‑)Öffentlichkeit richtet. In der Auseinandersetzung zwischen der Wissenschaftsgeschichte und der Wissenschaftstheorie in der Tradition des logischen Positivismus setzt sie wie die Vertreter der Welteislehre auf die Öffentlichkeit. Ob ihr dabei die Rolle Hörbigers oder seiner Gegner zufällt, wird wohl eine zukünftige Wissenschaftsgeschichte beantworten müssen. Aber natürlich: Sollte es so kommen, sollte die Wissenschaftsgeschichte tatsächlich einmal das letzte Wort haben, wäre das mehr als ein Etappensieg.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Christina Wessely: »Die Welteislehre. Zur Popularisierung eines technischen Weltbildes«. In: Blätter für Technikgeschichte 65 (2003), S. 9–27; C.W.: »Karriere einer Weltanschauung. Die Welteislehre 1894–1945«. In: Zeitgeschichte 33.1 (2006), S. 25–39; C.W.: »Welteis. Die »Astronomie des Unsichtbaren« um 1900«. In: Dirk Rupnow u.a. (Hg.): Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008 (= stw 1897), S. 163–193; C.W.: »Koalitionen des Nichtwissens? Welteislehre, akademische Naturwissenschaften und der Kampf um die öffentliche Meinung, 1895–1945«. In: Sybilla Nikolow/Arne Schirrmacher (Hg.): Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander. Studien zur Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Frankfurt/M./New York: Campus 2007, S. 225–243; C.W.: »Welteiszeit. Kälte und Kosmos 1900–1930«. In: Kritische Berichte 37.3 (2009), S. 77–88; C.W.: »Kosmologische Spektakel – Universale Archive. Selbsthistorisierungsstrategien der esoterischen Moderne«. In: Siegfried Bodenmann/Susan Splinter (Hg.): Mythen – Helden – Symbole. Legitimation, Selbst- und Fremdwahrnehmung in der Geschichte der Naturwissenschaften, der Medizin und der Technik. München: Meidenbauer 2009, S. 131–141; C.W.: »Das Geschäft mit der Welt aus Eis. Kosmologischer Dilettantismus und die professionelle Verführung der Massen um 1900«. In: Safia Azzouni/Uwe Wirth (Hg.): Dilettantismus als Beruf. Berlin: Kadmos 2010, S. 95–112.   zurück
Eine dieser älteren Monographien stammt von Brigitte Nagel: Die Welteislehre. Ihre Geschichte und ihre Rolle im »Dritten Reich«. Stuttgart: Verlag für Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik 1991. Die Arbeit beginnt mit den Sätzen »Die Welteislehre Hanns Hörbigers erhebt den Anspruch, eine Weltentstehungslehre zu sein. Hörbiger nennt sie Glazial-Kosmogonie und Kosmotechnik. Die Welteislehre ist jedoch eine Pseudowissenschaft« (S. 9). Durch diese rigide Festsetzung geraten die Abgrenzungsprobleme zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft aus dem Blick. Dennoch ist diese Arbeit schon deswegen verdienstvoll, weil sie in einem 80-seitigen Anhang wichtige Quellen zur Welteislehre, vor allem aus der Zeit des Nationalsozialismus, enthält. Methodologisch problematisch ist auch die Welteis-Monographie von Robert Bowen: Universal Ice. Science and Ideology in the Nazi State. London: Belhaven 1993. Bowen geht es nicht um einen wissenschaftsgeschichtlichen Forschungsbeitrag, sondern er verfolgt das Ziel, vor einem möglichen zukünftigen »hörbigerism« zu warnen (S. ix) und so in einem »battle against pseudo-science« mitzukämpfen (S. 172). Damit verortet er sich in einem Aufklärungsdiskurs, der den Gegensatz zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft nicht wissenschaftlich reflektieren will, sondern performativ durchzusetzen versucht. Er steht in der Tradition von wissenschaftlichen Widerlegungen der Welteistheorie seit Robert Henseling (Hg.): Weltentwicklung und Welteislehre. Potsdam: Die Sterne 1925, wie sie beispielsweise fortgeführt wurde von Joachim Herrmann: Das falsche Weltbild. Astronomie und Aberglaube. Eine kritische Untersuchung über Astrologie, Welteislehre, Hohlwelttheorie, Bewohnbarkeit der Sonne, fliegende Untertassen und andere astronomische Irrlehren. Stuttgart: Kosmos 1962.   zurück
Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Aus dem Amerikanischen von Peter Kohlhaas. Frankfurt/M.: Fischer 2008, S. 23 u. 214–250.   zurück
Wie sich aus der Welteislehre eine Rassenideologie ableiten ließ, auf die sich die Nationalsozialisten beziehen konnten, beschreibt Sabine Doering-Manteuffel: Das Okkulte. Eine Erfolgsgeschichte im Schatten der Aufklärung. Von Gutenberg bis zum World Wide Web. München: Siedler 2008, S. 203–212. Wessely betont in ihrer Monographie eher die forschungspolitischen Aspekte im Nationalsozialismus (S. 222–262).   zurück
Robert Henseling (Anm. 2).   zurück
Vgl. Hayden White (Anm. 3), S. 233 f.   zurück
Vgl. etwa Rüdiger Graf: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933. München: Oldenbourg 2008.   zurück