IASLonline

Moocows und baby tuckoos

Von Sprachen, Tieren, Menschen und Kindern in Philosophie und Literatur

Review article zu

  • Juliane Prade: Sprachoffenheit. Mensch, Tier und Kind in der Autobiographie. (Epistemata 765) Würzburg: Königshausen & Neumann 2013. 346 S. Gebunden. EUR (D) 49,80.
    ISBN: 978-3-8260-4955-2.
[1] 

Ausgehend von der zentralen Bestimmung des Menschen in der abendländischen Philosophie als zoon logon echon und animal rationale fragt die Studie nach den Argumentationslinien, entlang derer der Mensch über die Sprachfähigkeit bestimmt wird. Welche Rolle spielt dabei die Abgrenzung vom Tier und vom Infantilen? Wie wird insbesondere das Kind gedacht, das erst im Begriff ist, die Sprache zu erlernen und somit am Übergang von unartikuliertem und artikuliertem Sprechen steht? Und auf welche Weise werden Sprache und Schreiben immer wieder vom grundsätzlichen Unvermögen heimgesucht, die Sprache vollständig zu beherrschen?

[2] 

Die Frankfurter Komparatistin Juliane Prade untersucht diese aus philosophischer wie anthropologischer Sicht zentralen Problemstellungen, indem sie die Autobiographie als eine Textform in den Blick nimmt, die menschliche Entwicklungsgeschichte entwirft. Anders als in der gängigen literaturwissenschaftlichen Bestimmung wird die Autobiographie hier nicht als eine Gattung, sondern im Anschluss an Werner Hamacher 1 als Möglichkeit zur Formung begriffen, als Schreiben mithin, das seine Regeln erst formt und so gerade die Möglichkeit eröffnet, die Normen des Sprechens zu befragen. Nicht um die Frage der Identität von Autor, Erzähler und Protagonist geht es hier also, sondern um die Bewegung der Sprache, die die Autobiographie zu lesen gibt.

[3] 

Eine Ausgangsthese der Studie lautet demnach: »Die Autobiographie ist diejenige Bewegung, in der das Sprechen vor sich selbst zurückgeht und sein Werden zur Sprache bringt« (S. 32). Besondere Aufmerksamkeit gilt deshalb der Formung des artikulierten Sprechens am Übergang des Infans zum sprechenden (und vernünftigen) Subjekt. Auf welche Weise das geschieht (oder ausgelassen wird), untersucht die Verfasserin an philosophischen Abhandlungen von Aristoteles, Augustinus, Michel de Montaigne, René Descartes und Martin Heidegger sowie an literarischen autobiographischen Texten von James Joyce, Vladimir Nabokov und Walter Benjamin.

[4] 

Methodisch-theoretisch ist die Arbeit Jacques Derrida verpflichtet und insbesondere dessen (posthum 2006 erschienener) Schrift L’animal donc je suis, wo Derrida die in der abendländischen Philosophie verankerte Dichotomie von ›Mensch‹ und ›Tier‹ befragt und dabei auf die unzulässige Homogenisierung ›des‹ Tieres als scheinbar eindeutiges Gegenüber eines vernunft- und sprachbegabten Menschen ebenso verweist wie auf die Brüchigkeit der eindeutigen Umgrenzung eines Menschlichen. 2

[5] 

Mensch – Tier – Kind: Unsichere Übergänge

[6] 

Ebendiese Zonen unsicherer Übergänge, die gleichzeitig Zonen der Öffnung sind, umkreist auch die Untersuchung Prades. Ihre Hauptthesen werden in den ersten beiden Kapiteln mit den programmatischen Titeln »Die Autobiographie bringt das Werden der Sprache zur Sprache« und »Das autobiographische Tier« umrissen. Dabei setzt Prade bei dem Aussetzer an, der das Einsetzen einer Autobiographie notgedrungen kennzeichnet: Die Schilderung der eigenen Anfänge ist auf das Erzählen anderer verwiesen. Beginnt die Autobiographie mit Geburt oder früher Kindheit, so setzt sie demnach dort ein, »wo die Sprache des Autobiographen aussetzt« (S. 11). Das ist laut Prade nicht nur ein Problem der Erinnerung, sondern auch eines der Sprache, könnte doch dem Infantilen nicht in einer artikulierten Sprache, sondern allenfalls in infantiler Ausdrucksform – in Schreien und Lallen – entsprochen werden, von der sich die artikulierte Sprache und Schreibweise aber immer schon abgrenzt. Der »infantilen Amnesie« 3 aufseiten des Autobiographen gesellt Prade deshalb die »initiale Aphasie der Autobiographie« hinzu (S. 11). Wie sie später zeigen wird, verhandeln die einzelnen Autoren, aber auch der philosophische und der literarische Diskurs, dieses Grundproblem in unterschiedlicher Weise.

[7] 

Neben dem Infans als Ort der (unsicheren) Grenzziehung zwischen artikulierter menschlicher Sprache und unartikuliertem Laut ist es das Tier, dem als vermeintlich klarem Gegenpol des Menschen die Sprachfähigkeit abgesprochen wird. Hier geht es Prade, im Anschluss an Derrida, darum zu zeigen, dass dieses ›Tier‹ des philosophischen Diskurses in erster Linie ein Wort ist (animot), also eine Formung der Sprache, die nicht dem Sprechen über real existierende Tiere dient, sondern der Selbstverständigung des Menschen. In diesem Sinne, so Prades These, ist »jede Rede von ›dem Tier‹ oder ›den Tieren‹ eine autobiographische Rede« (S. 38).

[8] 

In diesem streng dekonstruktiven Zugriff grenzt Prade ihre Studie auch von kulturwissenschaftlichen und literaturwissenschaftlichen Untersuchungen ab, die seit einigen Jahren die historisch bedingten Redeweisen über Tiere aber auch den Einfluss naturwissenschaftlich-evolutionärer Konzepte auf literarische Diskurse erforschen. »Missverstanden«, so die Autorin, werde hier häufig, was eigentlich an den Texten zu beobachten sei, nämlich nicht Aussagen über »die Natur«, sondern »Formungen der Sprache, die dem Menschen die Natur allererst zu sehen geben« (S. 36). Auch historisierende Ansätze, die geschichtlichen Veränderungen in der Konzeption des Kindes und der Kindheit ebenso wie des Tieres nachgehen, verwirft die Autorin. Sie stellten das (als überzeitlich gedachte) Problem der Umgrenzung des ›Menschen‹ als Abgrenzung vom Infantilen und von den Tieren nicht prinzipiell genug in Frage.

[9] 

An Prades Argumentation ist hier zwar nichts zu kritisieren, es fragt sich dennoch, ob diese Breitseite gegen kulturwissenschaftlich ausgerichtete Untersuchungen im Kontext der sog. Animal Studies angemessen ist oder deren Resultate auf allzu simple Positionen reduziert. Durch die rigide Ablehnung eines historisierenden Ansatzes wird unnötigerweise ein Fenster zur kulturwissenschaftlichen Forschung zugeschlagen, durch das wohl auch gewinnbringende Einsichten möglich gewesen wären. 4

[10] 

Begriffssprache vs. poetische Sprache

[11] 

Prades ansonsten luzide Erörterung der Mensch-Tier-Kind-Problematik in der Autobiographie mündet schließlich in einer These, die die philosophischen Positionen zum Kind und zum Tier in Relation zur Position der Begriffssprache gegenüber der Literatur sieht. Gerade im Kind stoße die ›Autobiographie des Menschen‹ auf die unscharfe Grenze zwischen artikulierter und unartikulierter Sprache sowie die Schwierigkeit, ›den Menschen‹ eindeutig von ›den Tieren‹ abzugrenzen.

[12] 

An diesem Punkt wenden sich die philosophischen Autobiographien einer anderen Unterscheidung zu, nämlich der zwischen Begriffssprache und poetischer Sprache, die damit in die Nähe des infantilen Sprechens gerückt wird. Die Literatur zeige weit weniger Berührungsängste, die Grauzonen des infantilen Sprechens und damit der Sprache überhaupt auszuloten; eben so wenig fänden sich hier rigide Abgrenzungen von ›Mensch‹ und ›Tier‹. Vielmehr insistiere die Literatur darauf, dass auch der Sprache des Menschen immer etwas Fremdes und Nicht-Fixierbares eigne. Obwohl hier die Position der Literatur als Erkenntnismedium gegenüber der Philosophie durchaus gestärkt wird, überwiegt in der Studie doch die Untersuchung zentraler Autoren der abendländischen Philosophiegeschichte und ihrer Positionen zu Kind und Tier.

[13] 

Von Aristoteles zu Heidegger

[14] 

Stets sehr genau am Text arbeitend und nie die komplexe Hauptfragestellung aus den Augen verlierend, zeigt Prade, wie zunächst bei Aristoteles der Mensch über den Besitz des logos definiert wird, wobei Verlautungen von Kleinkindern und Tieren zwar als irgendwie sprachliche Äußerungen nicht ausgeschlossen werden, aber nicht in den Bereich des logos fallen und somit die Philosophie nichts angehen. Eine Rede, die diese Sprachen erkunde, sei der Poesie zuzurechnen.

[15] 

Bei Augustinus gestaltet sich die Rede vom Infans insofern anders, als dieses auf einen Mangel verweist, der mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter nicht behoben wird, sondern den Mensch als grundsätzlich mangelhaftes Wesen begleitet. Nicht allein das Kind, sondern der Mensch selbst wird dabei in De civitate Dei als ein Mittelwesen (und damit ein Mängelwesen) zwischen Tier und Engel gedacht. Dementsprechend ist auch die menschliche Sprache eine unvollkommene, die stets verfehlt, was sie artikulieren soll. Die Sprache des Erwachsenen wie auch die Confessiones selbst müssen daher infans bleiben.

[16] 

Hier schließt Prade Montaigne an, insofern dieser in den Essais eine Rede entwirft, die zerstreut und gewissermaßen infantilisiert ist, weil sie stets die geringe Fähigkeit der Sprache reflektiert. In der Rede über Tiere sieht Prade eine gewisse Nähe von Montaigne zu Derrida, insofern Tiere nicht zum »Tier« homogenisiert werden und der Versuch einer Angleichung von Mensch und Tieren zu denken unternommen wird. Allerdings bildet gerade die Sprache in ihrer Problematik hier einen unüberbrückbaren Abgrund.

[17] 

Demgegenüber setzt Descartes den Unterschied zwischen Menschen und Tieren und begründet diesen mit der Vernunft des ersteren. Gerade im Rekurs auf das Infans entdeckt er im Discours de la Méthode die Sprache als den Ort, an dem die Unterscheidung von Menschen und Tieren unterlaufen und damit auch der Begriff der Vernunft desavouiert wird.

[18] 

Als letzten Philosophen untersucht die Studie Heidegger. Ausgangspunkt ist dessen These, dass die Menschen zwar über Sprache verfügen, ihnen aber auch eine »kaum auszudenkende abgründige leibliche Verwandtschaft mit dem Tier« eigne. 5 Prade interessiert sich in ihrer Heidegger-Lektüre insbesondere dafür, wie hier das Haben des logos von der Offenheit her entworfen wird, diesen zu vernehmen. Der Mensch wird somit so aufgefasst, dass ihm die Möglichkeit des Sprechens gegeben ist. Das Denken des Infans, so Prade, dürfte unter dieser Voraussetzung eigentlich keine Schwierigkeiten bereiten, trotzdem fiele der Ort des Infans auch bei Heidegger aus, weil auch die Offenheit des logos nur im Rückschluss über die Rede darstellbar ist und nicht selbst gezeigt werden kann.

[19] 

Moocows und Schmetterlinge

[20] 

Anders nun die literarischen Texte, denen sich die Verf. im zweiten Teil ihrer Studie zuwendet: Bei Joyce wird in Ulysses und A Portrait of the Artist as a Young Man anhand von onomatopoetischen Sprachschöpfungen wie »Mkgnao«, »baby tuckoo« und »moocow« gezeigt, dass Menschen, Tiere und Kinder die Produktion von Lauten gemein haben. Sprache wird hier nicht als ausschließlich menschlich abgegrenzt und nicht als trennend gedacht, vielmehr bewegen sich im Medium der literarischen Sprache »Menschen mit Tieren in der Sprache, die mithin keine ausschließlich menschliche ist« (S. 184). Gleichzeitig wird die Vorstellung einer genuin eigenen Sprache oder eines festen Sprachbesitzes unterlaufen, weil deutlich wird, dass das Kind die Sprache von Anderen, bereits Sprechenden aufnimmt. Diese Art der Sprachwahrnehmung gibt Joyce in Wendungen wie »moocow« erneut zu lesen, wodurch der nicht aufhörenden Verwunderung Ausdruck verliehen wird, dass Laute Vorstellungen hervorrufen können.

[21] 

Nabokov gehe es in Speak, Memory demgegenüber um Kontrolle. Kindheit wie Tiere würden dabei aus der Zeit herausgenommen, fungierten als ein Ort der Zeitlosigkeit, als Gegenüber des Sprechenden. Wie Prade an Nabokovs Tieren verfolgt, geht es darum, sie zu erbeuten, um an ihrer Zeitlosigkeit teilzuhaben. Eben dadurch wird die Sprache zum Mittel der Kontrolle und der Mortifizierung.

[22] 

In der Schmetterlingsjagd ist Nabokov mit Benjamin verbunden, an dem Prade abschließend einen zu Nabokovs Mortifizierung gegenläufigen Ansatz darstellt. Auch in der Berliner Kindheit um neunzehnhundert werden Schmetterlinge gejagt; bezeugt wird dadurch aber nicht die Schönheit des Gejagten, sondern einzig die Zerstörung und Gewalt der Jagd. Die Auseinandersetzung mit Benjamins Theorien zu Sprache, Tier und Kind bilden in gewisser Weise ein Herzstück der Studie zur Sprachoffenheit. Wird hier doch immer wieder über eine Nähe von Menschen und Tieren nachgedacht und im infantilen Sprechen kein Defizit, sondern ein Mehrwert gesehen. Die Sprache sei nach Benjamin, so Prade, keine Habe des Menschen, wohl aber die Sprachoffenheit. In einer bestechenden und wohl informierten Lektüre der Berliner Kindheit ebenso wie von Benjamins sprachphilosophischen Schriften und der verstreuten Rundfunkgeschichten für Kinder und Auseinandersetzungen mit Spielzeug und ABC-Büchern zeigt die Verfasserin zum Schluss ihrer Studie, wie Benjamins Rekurs zum Infantilen Sprache nicht zum Stammeln reduziert, sondern in ihr neue Artikulationsmöglichkeiten auffindet. In seinem Rückgriff auf die Literatur entwirft Benjamin eine Theorie, die eben jene »Angst vor dem Infantilen« (S. 302) nicht teilt, die Prade den philosophischen Schriften attestiert hatte.

[23] 

Fazit

[24] 

Juliane Prades Studie zeichnet sich durch ihre grundlegende und präzise eingegrenzte Fragestellung und ein durchweg hohes argumentatives Niveau aus. Hervorzuheben ist die breite Kenntnis der Philosophie- und Literaturgeschichte, vor deren Folie allseitig erhellende und inspirierende Lektüren einzelner Passagen und Wortlaute vorgenommen werden. Trotz der klaren Argumentationslinien, der immer um Präzision bemühten Formulierung und den meist anschaulich und griffig formulierten Titelüberschriften, leidet die Studie allerdings an einer gewissen Sperrigkeit. Dies liegt an stellenweise sehr apodiktisch geratenen Formulierungen der eigenen Lektüreergebnisse und daran, dass bestehende Forschungsliteratur zwar zitiert, nicht aber breiter diskutiert wird.

[25] 

Vor allem aber wird der Zugang dem Leser dadurch erschwert, dass Prade auf eine Einleitung verzichtet, in der die Gliederung der Arbeit und die Auswahlkriterien für die analysierten Texte transparent gemacht und der Forschungsstand erläutert würde. Stattdessen finden sich im ersten und letzten Kapitel eklektisch wirkende Besprechungen von Texten, die keinen Eingang in das Hauptkorpus gefunden haben – wie etwa Goethes Dichtung und Wahrheit und Rousseaus Émile ou de l’éducation. Klar ist allerdings auch ohne diese Verweise, dass die von Prade erarbeitete Frage nach dem Umgang philosophischer und literarischer Texte mit der Sprachoffenheit einen sehr produktiven Zugang zur Lektüre von Texten bietet, in denen Autobiographien von Menschen und Sprachen entworfen werden.

 
 

Anmerkungen

Werner Hamacher: »Afformativ, Streik«. In: Christian L. Hart Nibbrig (Hg.): Was heißt »Darstellen«. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 340–371.   zurück
Jacques Derrida: L’animal que donc je suis. Hg. v. Marie-Louise Mallet. Paris: Galilée 2006.   zurück
Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Gesammelte Werke. Hg. v. Anna Freud u.a. Frankfurt/M.: Fischer 1968, Bd. 5, S. 75.   zurück
Vgl. Julia Bodenburg: Tier und Mensch. Zur Disposition des Humanen und Animalischen in Literatur, Philosophie und Kultur um 2000. Freiburg i.Br.: Rombach 2012; Norbert Otto Eke / Eva Geulen (Hg.): Texte, Tiere, Spuren. Berlin: Schmidt 2007.   zurück
Martin Heidegger: Brief über den »Humanismus«. Gesamtausgabe. Bd. 9. Hg. v. F.-W. von Herrmann. Frankfurt/M. Klostermann 1976, S. 326.   zurück