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Nicht nur für das Auge, sondern auch für das Ohr:

Neue Perspektiven auf den Kinder- und Jugendfilm

  • Tobias Kurwinkel / Philipp Schmerheim: Kinder- und Jugendfilmanalyse. Stuttgart: UTB 2013. 320 S. 101 farb., 19 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 24,99.
    ISBN: 978-3-8252-3885-8.
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Einleitung

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Der Kinder- und Jugendfilm spielt in der Kindermedienforschung bis heute ein Schattendasein und ist in der internationalen Film- und Medienwissenschaft als Forschungsgegenstand so gut wie nicht vertreten. Zwar zeichnen sich mittlerweile Hoffnungsstreifen am Horizont ab, die nicht nur mit der Forderung nach der Berücksichtigung von Filmbildung bzw. Media Literacy im heutigen Schulcurriculum einhergehen, sondern sich auch dem Engagement einzelner Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verdanken, die sich für die wissenschaftliche Untersuchung des Kinder- und Jugendfilms einsetzen. In dieser Hinsicht hat das Standardwerk von Ian Wojcik-Andrews: Children’s Films. History, Ideology, Pedagogy, Theory (New York: Garland, 2000) der Kinderfilmforschung Auftrieb verliehen und zugleich auch schon diejenigen Felder im Titel genannt, die nach Auffassung des Autors fokussiert werden sollten: Geschichte, Theorie, Ideologiekritik und Pädagogik. Dass Kinderfilme auch eine eigene Ästhetik generieren und durchaus komplexe visuelle und narrative Strategien aufweisen können, wurde inzwischen von anderen Forschern und Forscherinnen mehrfach betont. 1

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Eine Einführung in den Kinder- und Jugendfilm gibt es erstaunlicherweise bislang noch nicht, weder in Deutschland noch weltweit. Insofern kann man die Leistung des Autorenteams Tobias Kurwinkel (Universität Bremen) und Philipp Schmerheim (Universität Amsterdam) gar nicht hoch genug einschätzen. Beide Forscher arbeiten seit vielen Jahren zusammen, geben eine eigene Reihe »Kinder- und Jugendliteratur intermedial« (Königshausen & Neumann) heraus und haben das wissenschaftliche Internetportal »Kinderundjugendmedien.de« begründet. Von Anfang an galt ihr Interesse den intermedialen Bezügen in der Kinderliteratur, wobei sie ein besonderes Augenmerk auf den Kinderfilm richteten. Dass auf dem Cover ihrer Einführung ein Filmshot aus »Ronja Räubertochter« (Regie: Tage Danielsson, Schweden 1984) zu sehen ist, kommt nicht von ungefähr, denn gerade mit diesem Kinderfilm haben sich beide Autoren von Beginn an intensiv auseinandergesetzt. 2

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Eine kurze Übersicht

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Der Band ist in sechs Kapitel eingeteilt, gerahmt von einer Einleitung, in der der Aufbau des Bandes erläutert wird, und einem Anhang mit Verzeichnis der Fachliteratur und der erwähnten Filme und Fernsehsendungen, einem umfangreichen Glossar der Fachbegriffe sowie einem Index (Filmtitel und Fachbegriffe). Das erste Kapitel befasst sich zunächst mit der Frage, was eigentlich ein Kinder- und Jugendfilm sei und inwiefern er mit dem Family Entertainment-Film zusammenhängt. Anschließend werden Gattungen und Genres des Kinder- und Jugendfilms vorgestellt, bevor ein Überblick zur Geschichte des (deutschen) Kinder- und Jugendfilms von den Anfängen in der Stummfilmzeit bis zur Gegenwart gegeben wird. Daran schließt ein Exkurs in drei Teilen: zum Animationsfilm, zur Filmadaption und zu den Fernsehprogrammen für Kinder und Jugendliche. Das zweite, relativ kurze Kapitel führt in methodische Grundlagen der Filmanalyseforschung ein und erläutert in knapper Form die Grundannahmen, die die Autoren dazu geführt haben, einen eigenen filmanalytischen Ansatz zu fokussieren. Dieser Ansatz wird von ihnen mit dem etwas sperrigen Begriff »ausdrucksmittelübergreifende Kinder –und Jugendfilmanalyse« bezeichnet. Im dritten Kapitel werden die verschiedenen Ausdrucksmittel des Kinder- und Jugendfilms dargelegt. Hierzu gehören u.a. Dramaturgie, Figuren, Mise-en-scène, Auralität und Montage. Wie eine entsprechende Filmanalyse strukturiert werden kann, wird im vierten Kapitel in Form eines Idealmodells vorgeführt. Das fünfte Kapitel greift ein neues Thema, nämlich die Vernetzung von Filmpädagogik und Kinderfilm auf. In diesem Kontext wird der Filmbildung im schulischen Kontext ein besonderer Stellenwert zugesprochen. Das letzte Kapitel enthält ausführliche Analysen von fünf Kinder- und Jugendfilmen. Diese Filmanalysen stammen nicht von Kurwinkel und Schmerheim, sondern von fünf Experten und Expertinnen auf dem Gebiet des Kinder- und Jugendfilms.

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Der Text ist im Großen und Ganzen gut strukturiert, erläutert am Anfang jedes Kapitels knapp, welche Aspekte untersucht werden und fasst die wesentlichen Ergebnisse am Kapitelende nochmals zusammen. Jedes Kapitel schließt mit einer kommentierten Auswahlbibliographie, die gerade für Studierende sehr hilfreich ist. Der Orientierung dienen auch die fett und kursiv gedruckten Fachtermini, die im Glossar erläutert werden. Die Auswahl der eingefügten farbig gedruckten Filmshots ist gut überlegt, weil sich an ihnen bestimmte Argumente und Deutungen leichter nachvollziehen lassen. Die sechs Exkurse (Family Entertainment Film; Motiv, Stoff, Thema; Animationsfilm; Filmadaption; Fernsehprogramme für Kinder und Jugendliche; Transkription und Visualisierung) dienen dazu, bestimmte Themenbereiche deutlicher zu fokussieren. Allerdings fragt man sich, warum gerade die Exkurse zum Animationsfilm und zu den Fernsehprogrammen nicht in den historischen Überblick integriert worden sind. Auf diese Weise hätte sich eine deutlichere Verzahnung zwischen den Entwicklungen des Kinder- und Jugendfilms im Allgemeinen, sowie des Animationsfilmes und des Kinderfernsehens im Besonderen ergeben. Bei einer Überarbeitung späterer Auflagen sollte auch überlegt werden, ob nicht das fünfte Kapitel über die Rahmenbedingungen einer zukünftigen Filmdidaktik anders platziert werden könnte, weil die Musteranalysen im sechsten Kapitel eigentlich nahtlos an das im vierten Kapitel vorgestellte Idealmodell einer Filmanalyse anschließen.

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Wie kann man den Kinder- und Jugendfilm definieren?

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Jede Einführung verlangt zunächst die Definition der grundlegenden Begriffe, in diesem Fall »Kinder- und Jugendfilm«. Kurwinkel und Schmerheim geben hier eine Bestandsaufnahme, indem sie verschiedene Definitionsvorschläge vorstellen, die sich entweder durch ihren normativen Charakter oder die Orientierung an Altersstufen auszeichnen. Eine allgemeine Definition des Kinder- und Jugendfilms findet man hier allerdings nicht. ebenso wird nicht auf die Mehrdeutigkeit des Begriffs hingewiesen, der einerseits als Filme für Kinder- und Jugendliche, andererseits als Filme von Kindern und Jugendlichen verstanden werden kann. Dies sollte umso mehr betont werden, als Kinder und Jugendliche – im Zuge des immer leichteren Zugriffs auf entsprechende technische Mittel – selbst Filme produzieren, auch wenn diese in der Regel nicht in den Kinosälen, sondern eher auf Youtube und anderen Fansites zu sehen sind.

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Stattdessen beziehen sich Kurwinkel und Schmerheim auf die von Hans-Heino Ewers vorgeschlagene Unterscheidung von faktischer, intendierter und originärer Kinder- und Jugendliteratur 3 und übertragen diese Terminologie auf den Kinder- und Jugendfilm. Die Autoren übernehmen folglich eine handlungs- und systemorientierte Perspektive, wonach sowohl die Autorintention als auch die Rezeptionshaltung ausschlaggebend für die Korpusbildung ist. Der faktische Kinder- und Jugendfilm umfasst dementsprechend alle Filme, die von Kindern und Jugendlichen gesehen werden, auch wenn diese nicht für diese Zielgruppe geschaffen worden sind. Der intendierte Kinder- und Jugendfilm bezieht sich auf diejenigen Filme, die für diese Zielgruppe empfohlen werden, wohingegen der originäre Kinder- und Jugendfilm ausschließlich diejenigen Filme bezeichnet, die von vornherein für die Gruppe der Kinder und Jugendlichen produziert worden sind. Die Trennlinie zwischen Kinderfilm und Jugendfilm sehen die Autoren im 13. Lebensjahr, wenn mit der Adoleszenz ein neuer Lebensabschnitt eintritt und damit einhergehend eine zunehmende Ausrichtung an Themen erfolgt, die gerade die Zielgruppe der Jugendlichen anspricht.

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Abgrenzungsfragen

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Zwar betonen die Autoren, dass ihr eigenes Analysemodell ausschließlich für den »originären Kinder- und Jugendfilm« gilt (S. 18), dennoch werden im weiteren Verlauf der Darstellung auch immer wieder Filme genannt, die ursprünglich für Erwachsene produziert worden sind, etwa »Der große Diktator« (USA 1940) von Charlie Chaplin (als Beispiel für eine Satire) und »Der Schuh des Manitu« (D 2001) von Bully Herbig (als Beispiel für eine Komödie), oder Filme, die sich vor allem an junge Erwachsene richten, z.B. »Spiderman« (USA 2002) von Sam Raimi und »X-Men« (USA 2000) von Bryan Singer. Diese Aufzählungen können – zumindest auf Leser und Leserinnen, die noch nicht mit dem Kinder- und Jugendfilm vertraut sind – verwirrend wirken. Hier wäre eine genauere Reflexion über die Auswahl der zu besprechenden Filme, bzw. zumindest ein deutlicher Hinweis darauf, dass es sich bei bestimmten Filmbeispielen nicht um »originäre« Kinder- und Jugendfilme handelt, hilfreich gewesen.

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Der anschließende Exkurs zum »Family-Entertainment-Film« informiert sachkundig über die Entwicklung und hervorstechenden Eigenschaften dieses von Hollywood lancierten und mittlerweile auch in Europa populären Filmgenres. Als herausragende Kennzeichen werden die Paradigmen Mehrfachadressiertheit und generationsübergreifender Appeal genannt. Die Mehrfachadressiertheit manifestiert sich vor allem in den intertextuellen Verweisen auf literarische Texte und andere Filme, während der nostalgische Bezug dazu beiträgt, die erwachsenen Zuschauer einzubinden. Mit diesen Tendenzen geht in der Regel eine Kommerzialisierung einher, die sich in Merchandising und Medienverbundprodukten äußert. Allerdings wäre hier ein Hinweis darauf, dass diese Merkmale auch auf populäre Kinderfilme zutreffen, angebracht gewesen. So zeichnen sich die neueren, seit 1990 entstandenen Verfilmungen der Romane Erich Kästners durch zahlreiche intermediale Verweise auf die älteren Verfilmungen desselben Stoffes aus. Ein nostalgischer Blickwinkel bestimmt die »Bullerbü«-Verfilmungen von Ole Hellbom und Lasse Hallström 4 und die erfolgreichen Filmserien über die »Wilden Kerle« (D 2003–2008) und die »Wilden Hühner« (D 2006–2007) haben ein regelrechtes Merchandising-Hype verursacht.

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Im zweiten Unter-Kapitel wird der Kinder- und Jugendfilm als »Hypergenre« (S. 26) definiert. Bestimmt wird dieser Begriff etwas unspezifisch als »eigene Kategorie zwischen Gattung und Genre« (S. 26), ohne dass dieser Vorschlag genauer begründet wird. Die Autoren reagieren mit ihrem Vorschlag auf die bislang unzureichenden Versuche, den Kinder- und Jugendfilm zu kategorisieren. Sie weisen zu Recht darauf hin, dass der Kinder- und Jugendfilm selbst Genres und Subgenres generiert und folglich nicht – wie manche Forscher vorgeschlagen haben – als Genre bzw. Gattung klassifiziert werden kann. Der von den beiden Autoren vorgeschlagene Neologismus »Hypergenre«, der sich in der Filmwissenschaft noch nicht etabliert hat, soll hier einen Ausweg aus dem Dilemma der Kategorisierung eines Filmkorpus, das sich vornehmlich durch die Adressierung an eine bestimmte Zielgruppe bestimmt, aufzeigen. Hier stoßen Kurwinkel und Schmerheim ein Problem an, das die Kinderliteraturforschung ebenso tangiert. Ob sich »Hypergenre« als geeigneter Begriff durchsetzen wird, dürfte von der weiteren Diskussion abhängen. Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Definition und Kategorisierung von »Kinder- und Jugendfilm« sollte jedenfalls den filmischen, medienpädagogischen und entwicklungspsychologischen Diskurs über Kindheit einbeziehen, so wie es zuletzt Christian Stewen in The Cinematic Child (Marburg: Schüren 2011) unternommen hat.

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Filmanalyse-Modelle

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Das mit 16 Seiten äußerst knapp gehaltene zweite Kapitel stellt zunächst Ansätze der Filmanalyseforschung vor und begründet anschließend, warum die Autoren sich für den Ansatz der »ausdrucksmittelübergreifenden Filmanalyse« entschieden haben. Kurwinkel und Schmerheim weisen zu Recht auf die Pluralität der Analyseansätze hin, ohne allerdings alternative Modelle und deren Leistungen genauer zu beschreiben. Dennoch weisen sie auf einige Aspekte hin, die gerade für die Analyse des Kinder- und Jugendfilms relevant sind, nämlich Medienkombination (auch oft mit dem Begriff »Multimodalität« oder »Multimedialität« bezeichnet), Rezeptionskontext, Zielgruppe, Medium der Filmrezeption und historischer Kontext (S. 83 f.).

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Als Vorbild für ihr eigenes Filmanalysemodell nennen Kurwinkel und Schmerheim das von Helmut Korte (2010) entwickelte »Modell der systematischen Filmanalyse«, das auf dem Dreierschritt Produktanalyse – Kontextanalyse – Rezeptionsanalyse beruht. 5 In diesem Zusammenhang heben die Autoren die Bedeutung von Sequenzprotokollen und Schnittprotokollen für die Untersuchung filmischer Strukturen hervor. Wie entsprechende Protokolle anzufertigen sind, wird in einem Exkurs im dritten Kapitel erläutert.

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Die Entscheidung für die Entwicklung eines eigenen Filmanalysemodells begründen Kurwinkel und Schmerheim damit, dass es bislang keinen überzeugenden Ansatz gibt, der die spezifischen Merkmale des Kinder- und Jugendfilms sowie die Wahrnehmungspräferenzen von Kinder und Jugendlichen berücksichtigt. Der rezeptionsorientierte Ansatz von Kurwinkel und Schmerheim geht dabei von vier Grundannahmen aus.

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• A) Die kindlich-jugendliche Filmrezeption ist erlebnisorientiert (S. 85)

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• B) In der kindlichen Filmrezeption dominiert der Gehörsinn

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• C) Kognitive Disposition und Rezeptionsangebot korrelieren miteinander

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• D) »Auch nicht-originäre Kinder- und Jugendfilme entsprechen der kognitiven Disposition kindlicher bzw. jugendlicher Rezipienten« (S. 86)

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Begründet werden diese Annahmen mit Verweis auf medienpädagogische Untersuchungen und Studien zur Entwicklungspsychologie und zur (Media) Literacy. Dass sich die Autoren folglich um einen interdisziplinären Zugang zum komplexen Phänomen des Kinder- und Jugendfilms bemühen und sich dabei nicht ausschließlich auf filmwissenschaftliche Analysen stützen, ist mehr als begrüßenswert. Wenn man die besonderen Bedingungen und filmästhetischen Merkmale des Kinder- und Jugendfilms wissenschaftlich erfassen und daraus folgend eine Theorie des Kinder- und Jugendfilms entwickeln will, müssen die kognitiven, sprachlichen, emotionalen und sozialen Fähigkeiten der Zielgruppe berücksichtigt werden.

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Kurwinkel und Schmerheim greifen bei ihrer Darstellung auf das Entwicklungsmodell von Jean Piaget aus den 1950er Jahren zurück, das sie als heuristisch wertvoll (S. 88) ansehen. Die Bedeutung Piagets für die Entstehung und Weiterentwicklung der Kinderpsychologie ist unbestritten, aber seine Phaseneinteilung ist mittlerweile von vielen Wissenschaftlern kritisiert und modifiziert worden. Zwar weisen Kurwinkel und Schmerheim in einer Fußnote auf diese Kritik hin (S. 88), halten aber trotzdem an Piagets Überlegungen zur kognitiven Entwicklung des Kindes fest. Das wird dann problematisch, wenn sie zu Aussagen kommen, die nicht immer dem aktuellen Forschungsstand entsprechen. Um nur ein zentrales Beispiel zu nennen: die Autoren nennen als ein wesentliches Merkmal des sogen. »präoperationalen Stadiums«, das laut Piaget vom zweiten bis zum siebten Lebensjahr reicht, den Egozentrismus (S. 88), also die Unfähigkeit des Kindes, sich in die Perspektive anderer hineinzuversetzen (diese These wird später auf S. 149 nochmals explizit aufgegriffen). Die aktuelle Forschung zur »Theory of Mind« (TOM) hat jedoch nachgewiesen, dass Kinder ab dem Alter von vier Jahren die Fähigkeit, die Gefühle und Gedanken anderer Menschen zu antizipieren bzw. diese nachvollziehen zu können, in einer basalen Form erworben haben und diese bis zur Adoleszenz permanent weiterentwickeln. 6 Folglich kann man davon ausgehen, dass Kinder bereits vor dem 7. Lebensjahr in der Lage sein können, sich in die Gefühls- und Gedankenwelt von Figuren im Film hineinzuversetzen.

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Es ist den Autoren zugute zu halten, dass sie explizit auf die Komplexität des modernen Kinder- und Jugendfilms aufmerksam machen und zugleich betonen, welche kognitiven und emotionalen Fähigkeiten sie voraussetzen bzw. schulen könnten. So weisen sie zu Recht darauf hin, dass Kinder vor dem 10. Lebensjahr in der Regel nicht in der Lage sind, Zeitsprünge und Rückblenden nachvollziehen zu können (S. 91). Diese Beobachtungen verdeutlichen nach Ansicht der Autoren, dass es weitaus mehr empirische Studien und Forschungen im Bereich der Medienkompetenz und Media Literacy geben müsste, um in diesem Bereich zu stichhaltigen Ergebnissen zu kommen (S. 92 ff.).

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Auralität: ein wichtiger Aspekt der Film Sound Studies

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Die Ausführungen im dritten Kapitel beziehen sich einerseits auf die bereits vorliegenden Überlegungen von Beate Völcker zur Analyse von Kinder- und Jugendfilmen, 7 andererseits bemühen sich die Autoren, den von ihnen favorisierten Aspekt der Auralität in den Fokus zu rücken. Während die Ausführungen zur Dramaturgie und der Darstellung der Figuren im Film eher kursorisch sind, zeichnen sich die nachfolgenden Darstellungen zur mise-en-scène und zur Montage durch eine große Sachkenntnis aus. Kernstück dieses Kapitels ist jedoch die Erörterung des Auralitäts-Konzeptes, das alle geräuschbasierten Filmelemente umfasst (Musik, Geräusche, Stimmen) und wegen der Grundannahme, dass die kindliche Wahrnehmung vornehmlich über das Gehör gesteuert wird, auch im Zentrum des »ausdrucksmittelübergreifenden Analyseansatzes« steht. Die Autoren weisen damit auf einen blinden Fleck in der Filmwissenschaft hin, die die Untersuchung des Sounds und dessen Einfluss auf die Filmnarration zugunsten der Analyse visueller Aspekte lange Zeit vernachlässigt hatte. Seit der Jahrtausendwende lässt sich jedoch im Bereich der Cognitive Film Studies und der Sound Studies eine Hinwendung zur stärkeren Beachtung akustischer Phänomene beobachten. 8

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Sehr eindrücklich demonstrieren Kurwinkel und Schmerheim am Beispiel einer Filmsequenz aus »Harry Potter und der Gefangene von Askaban« (GB 2004, Regie: Alfonso Cuarón), wie Sound, Montage und Kameraführung eng miteinander verzahnt sind und auf diese Weise den Film rhythmisieren und strukturieren. Die auf diese Weise illustrierte »Synchronisation der Sinne« (S. 134) ist allerdings auch beim Mainstream-Kino für Erwachsene anzutreffen 9 und nicht alleiniges Merkmal des modernen Kinder- und Jugendfilms. Hier könnte man also überlegen, worin die Unterschiede bestehen und inwiefern das Auralitätskonzept die kognitiven Fähigkeiten der Zielgruppe widerspiegelt.

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Die nachfolgenden Kapitel dienen vor allem dazu, Studierenden eine Anleitung zu geben, wie man einen Kinder- und Jugendfilm analysieren kann. So führt das vierte Kapitel Schritt für Schritt vor, wie man ein geeignetes Thema auswählen, Fakten zum Film sammeln und eine Filmanalyse vorbereiten kann, bevor man sich der Erstellung eines Sequenzprotokolls und der Untersuchung einzelner filmischer Aspekte zuwendet. Dieses Kapitel, das sogar ein Strukturkonzept für den Aufbau einer entsprechenden Kinderfilmanalyse vorgibt, richtet sich vor allem an Studienanfänger bzw. an solche, die zum ersten Mal vor der Aufgabe stehen, einen Kinder- oder Jugendfilm wissenschaftlich zu analysieren.

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Musteranalysen

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Sehr hilfreich als Musterbeispiele und zugleich anregend zu lesen sind die fünf Filmanalysen von Werner Barg zu »The Hunger Games – Die Tribute von Panem« (USA 2012), Alina Gierke zu »Madita« (Schweden 1979), Jochen Hering zu »Tarzan 2« (USA 2005), Heidi Lexe zu »Paranoid Park« (USA 2007) und Sabine Planka zu »Ratatouille« (USA 2007). Abgedeckt werden verschiedene Filmgattungen und –genres, ebenso finden sich Filme für jüngere Zuschauer als auch Filme, die sich an Jugendliche und junge Erwachsene richten. Schade ist nur, dass allein vier der Beispielfilme aus den USA stammen und nur einer aus Europa. Eine Vorgabe an diese Expert/innen bestand darin, das Modell der »ausdrucksmittelübergreifenden Kinder- und Jugendfilmanalyse« als Grundlage zu nehmen, was allerdings nicht von allen im gleichen Maße berücksichtigt worden ist. Am engsten haben sich Alina Gierke und Sabine Planka daran gehalten. Beide Autorinnen zeigen überzeugend, dass das Sounddesign einerseits wesentlich zur Evokation von Stimmungen und Emotionen beiträgt, andererseits die visuellen Informationen ergänzt und ihnen eine zusätzliche Tiefe verleiht.

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Fazit

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Trotz einiger kritischer Bemerkungen möchte ich am Schluss nochmals betonen, dass die von Kurwinkel und Schmerheim vorgelegte Einführung in die Kinder- und Jugendfilmanalyse äußerst verdienstvoll ist. Sie erfüllt ein Desiderat der Kinderfilmforschung, bündelt wesentliche Ergebnisse und Aspekte der bisher vorliegenden Studien zum Kinder- und Jugendfilm und verweist auf zukünftige Forschungsaufgaben. Für Studierende und angehende Wissenschaftler/innen ist sie gleichermaßen geeignet, weil sie nicht nur einen guten Überblick verschafft, sondern auch auf die wechselseitigen Bezüge zwischen Kindermedienforschung und Filmwissenschaft hinweist. Angesichts der immer dringlicheren Forderung von Seiten der Bildungswissenschaften und Medienwissenschaften, Kinder und Jugendliche frühzeitig an den kompetenten Umgang mit Kindermedien heranzuführen, ist zu hoffen, dass die wissenschaftliche Erforschung des Kinder- und Jugendfilms nicht länger ein Nischendasein fristen muss, sondern endlich den Platz in der deutschen und internationalen Filmwissenschaft erhält, der ihr eigentlich gebührt.

 
 

Anmerkungen

Vgl. David Whitley: The Idea of Nature in Disney Animation. Aldershot: Ashgate 2008; Horst Schäfer/Claudia Wegener (Hgg.): Kindheit und Film. Geschichte, Gegenwart und Perspektive des Kinderfilms in Deutschland. Konstanz: UVK 2009; Kerry Mallan/Clare Bradford (Hgg.): Contemporary Children’s Literatur and Film. Engaging with Theory. Basingstoke: Palgrave 2011; Christian Exner/Bettina Kümmerling-Meibauer (Hgg.): Von Wilden Kerlen und Wilden Hühnern. Perspektiven des modernen Kinderfilms. Marburg: Schüren 2012. Siehe auch das special issue »Children’s Films« in: Journal of Educational Media, Memory and Society 5.2 (2013).   zurück
Vgl. u.a. ihre Beiträge »Intermediality in Children’s Literature: Reflections of Adult Relationships in Ronia, the Robber’s Daughter« (in: Bettina Kümmerling-Meibauer/Astrid Surmatz (Hgg.): Beyond Pippi Longstocking. Intermedial and International Aspects of Astrid Lindgren’s Works. New York: Routledge. S. 87–103) und »›Ha, was daraus in ein paar Jahren wird, das weiß man ja!‹ – Die Filmadaption ›Ronja Räubertochter‹ als Romeo und Julia im Märchenwald« (in: Tobias Kurwinkel/Philipp Schmerheim/Annika Kurwinkel (Hgg.): Astrid Lindgrens Filme. Auralität und Filmerleben im Kinder- und Jugendfilm. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012. S. 35–52).   zurück
Vgl. Hans-Heino Ewers: Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung. Paderborn: UTB Schöningh 2012 (2. bearb. Auflage).   zurück
Vgl. hierzu etwa Anders Åberg: Remaking the National Past: The Uses of Nostalgia in the Astrid Lindgren Films of the 1980s and 1990s. In: Bettina Kümmerling-Meibauer/Astrid Surmatz (Hgg.): Beyond Pippi Longstocking. Intermedial and International Aspects of Astrid Lindgren’s Works. New York: Routledge 2011. S. 73–86.   zurück
Helmut Korte: Einführung in die Systematische Filmanalyse. Ein Arbeitsbuch. Berlin 20010 (4. bearb. und erweitere Ausg.).   zurück
Siehe hierzu etwa Henry M. Wellman: The Child’s Theory of Mind. Cambridge: MIT Press 1990 und Martin Doherty: Theory of Mind. How Children Understand Others’ Thoughts and Feelings. New York: Routledge 2008.   zurück
Beate Völcker: Kinderfilm. Stoff- und Projektentwicklung. Konstanz: UvK 2005.   zurück
Vgl. Warren Buckland: The Cognitive Semiotics of Film. Cambridge: Cambridge University Press 2000; Noel Carroll: Engaging the Moving Image. New Haven: Yale University Press 2003; Trevor Pinch (Hg.): The Oxford Handbook of Sound Studies. Oxford: Oxford University Press 2012; David Bordwell/Kristin Thompson: Film Art. An Introduction. New York: McGraw Hill 2012; Michael Bull (Hg.): Sound Studies. 4 Bände. New York: Routledge 2013.   zurück
Stephen Malloch/Collwyn Trevarthen (Hgg.): Communicative Musicality. Exploring the basis of human companionship. Oxford: Oxford University Press 2009.   zurück