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Romantisch(es) Erzählen

Ein Beitrag zur post-klassischen Narratologie

  • Christian Metz: Narratologie der Liebe. Achim von Arnims Gräfin Dolores. (Studien zur deutschen Literatur 195) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2012. VII, 453 S. Gebunden. EUR (D) 99,95.
    ISBN: 978-3-11-026520-0.
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Post-klassische Narratologie 1 – für die unter diesem Schlagwort seit einiger Zeit mit historischem Interesse stattfindenden Revisionen des Strukturalismus kann man Christian Metz’ Studie als paradigmatisch bezeichnen. Er untersucht Achim von Arnims ›verwilderten‹ Roman Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores. Eine wahre Geschichte zur lehrreichen Unterhaltung armer Fräulein (1810) im Hinblick auf die Affinität von Liebesthematik und Erzählverfahren. Einerseits beansprucht er, einen Beitrag zur Arnim-Forschung zu leisten, andererseits den Liebesbegriff neu zu systematisieren. Die Messlatte für ein solches Vorhaben hängt hoch, nachdem unter anderem bereits Niels Werber die »Liebe als Roman« und Thomas Klinkert ihre »poetogene Qualität« 2 in der europäischen Romantik untersucht haben. In der Summe leistet Metz aber nicht nur einen weiteren Beitrag zur historischen Semantik der Liebe, sondern auch oder vor allem – darin liegt die eigentliche Pointe der Arbeit – den einzigen Beitrag zur historischen Semantik romantischer Erzählverfahren. Diese gegenüber anderen Arbeiten der 1990er-Jahre markante Wendung ist das Ergebnis seines Zweifels an allen literaturtheoretischen Metadiskursen: Metz unterwirft sich weder der Diskursanalyse noch der Systemtheorie; er steht sowohl der Hermeneutik als auch der Dekonstruktion skeptisch gegenüber; und er bezweifelt die reine Lehre des Strukturalismus. Wie andere Vertreter/-innen post-klassischer Narratologien – auf den Plural kommt es an – hält Metz Erzählen nämlich für keine bedeutungsfreie Struktur. 3 Vielmehr bedingen sich formale ›Wildheit‹ des Erzählens und historischer ›Liebesspiegel‹ im Roman wechselseitig: Es gibt keine Liebe, die nicht erzählt wird; es gibt kein Erzählen, das nicht von etwas erzählt, in Arnims Fall von der Liebe. Mit diesem methodischen Ansatz trägt Metz auf dem Feld der Liebesforschung »zur Kontextualisierung der Erzähltextanalyse« bei (S. 4). 4 Im Gegensatz zu Diskursanalyse und Systemtheorie möchte er dabei seinen Blick nicht »in der Ferne scharfstellen« (S. 15), sondern in einem Close-Reading das Nahe fokussieren. Die Studie hat abgesehen von Einleitung (I.) und Schluss (IV.) zwei Teile: Der erste entwickelt auf circa 100 Seiten ein allgemeines Lektüremodell (II. Systematik: Zum Verhältnis von Literatur und Liebe), der zweite präsentiert auf circa 300 Seiten ein besonderes Lektüreprotokoll (III. Achim von Arnims »Gräfin Dolores«).

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Luhmann – revisited

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Im ersten Drittel der Arbeit entwirft er die theoretischen Grundlagen einer Narratologie der Liebe, die insofern Anspruch auf Verallgemeinerung erhebt, als sie als Analysemodell für alle Liebeserzählungen um 1800 dienen kann. Dass Liebe kein Gefühl ist, sondern ein Code, steht seit Niklas Luhmanns ebenso einflussreicher wie literaturnaher Studie Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität (1982) fest, auf die in den folgenden Jahren eine Reihe von Einzeluntersuchungen, insbesondere auf dem Feld der europäischen Romantik, gefolgt ist. Sie haben die Liebe in ihrer Funktion als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium bestätigt: Ohne zu wissen, was Liebe ist oder ob man liebt, ist es immerhin möglich, sich innerhalb eines bestimmten sozio-kulturellen Rahmens mittels eines Liebescodes der eigenen sowie der Liebe des / der Anderen zu vergewissern. Die doppelte Kontingenz ist damit äußerst erfolgreich bewältigt und das ethische Fundament der bürgerlichen Gesellschaft gesichert. An den Liebesbegriff der deutschen Romantik, in der die Liebe als Dreieinigkeit von Ehe, Freundschaft und Sexualität erfunden worden ist, knüpft Christian Metz mit seiner Studie zu Achim von Arnims wenig gelesenem Roman Gräfin Dolores an.

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Mit Nikolaus Wegmann interpretiert er Luhmanns Umkehr der Hierarchie von Gefühl und Code als rhetorische Wende, 5 die Metz zunächst als literarische Wende generisch spezifiziert: »Die Prämissen der folgenden Überlegungen lauten demnach: erst der Text, dann die Liebe«. Die Liebe »tritt immer nur unter den Bedingungen in Erscheinung, die wir Literatur nennen« (S. 20). Konsequenterweise führt er deshalb Luhmanns Modell der Liebe als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium mit dem »poetischen Kommunikationsmodell« eng, das Metz auf drei Ebenen ansiedelt: »Der Liebescode eines Romans konstituiert sich also aus einem hochkomplexen Zusammenspiel unterschiedlicher Ebenen. Er umfasst die präsentierte Liebe, die Art und Weise ihrer Präsentation sowie die Art, wie das Kommunikationsmedium ›Liebestext‹ beschaffen ist« (S. 23). Die Pointierung gegenüber der Liebesforschung besteht darin, dass Metz sowohl den Wirklichkeits- als auch den Kulturbezug (i.S.v. Praktiken) kappt und Liebe ausschließlich als ein spezifisch literarisches Phänomen versteht. Literarische Texte bilden Liebe weder ab noch codieren sie einen doch irgendwie als Realsubstrat vorausgesetzten Affekt zum Gefühl im Luhmann’schen Sinn, sondern sie stellen mit Hilfe literarischer Verfahren Liebescode(s) her. Damit richtet sich die Aufmerksamkeit ausschließlich auf semiologische und narratologische Verfahren, die integraler Bestandteil des Codes sind und eben nicht einfach nur dessen Technik.

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Semiologie und Narratologie

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Zwei Strukturen interessieren Metz am Liebescode besonders: semiologische und narratologische. Die semiologischen siedelt er »auf pragmatischer Textebene« an (S. 23), sie sind unter anderem zur Erzeugung von Emotionen zuständig (vgl. ebd., Fußn. 67). Gemeint ist – grob medientheoretisch gesprochen – die Beschaffenheit des Kanals. Metz indiziert diese Struktur im Rückgriff auf Friedrich Schleiermachers Hermeneutik als romantisch, markiert die Semiologie als zentrales Forschungsdesiderat und schließt sie an sein dekonstruktivistisches Lektüremodell an. Strukturell geht es ihm um die doppelte Struktur von Bedeutungskonstitution und Bedeutungsentzug. Dafür abstrahiert er im Grunde genommen von den einzelnen Phänomenen, wie zum Beispiel Erzähler- und Figurenrede, Raum, Zeit, Symbolen und so weiter, auf den Text als Zeichen, genauer gesagt: als Zeichenordnung. So werden Liebe, Lust, Ereignishaftigkeit der Liebe, Wollust, Begehren, dekonstruktivistische Liebe von semantischen Konzepten in semiologische Strukturen übersetzt. Metz’ Argumentation in diesem Kapitel ist äußerst dicht und setzt ein hohes Maß an Abstraktionsbereitschaft voraus. Insgesamt steht folgende Pointe zur Diskussion: »Dem Text ist dieselbe aporetische Struktur eigen wie der Liebe. Im Sinne der dekonstruktivistischen Doppelbewegung lässt sich semiologische Liebe daher im Zusammenspiel von Wollust und Begehren sowie von immer nur versprochenem Vereinigungsideal und Lust im und am Text operationalisieren« (S. 51).

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Auch die Narratologie steht also eigentlich im Dienst der Semiologie. Metz folgt in seiner Darstellung im Großen und Ganzen Gérard Genette, indem er auf der Ebene des Dargestellten (histoire) Figuren, Zeit, Raum und Handlungsmuster als Analysegegenstände einführt. Auf der Ebene des Diskurses (discours) gilt seine Aufmerksamkeit »d[er] gesamte[n] formale[n] Präsentation des Erzählten« (S. 71), wie sie im Spannungsfeld von zeitlichen und modalen Strukturen entsteht. Dass Metz die Erzählinstanz extra behandelt, weist auf die Schwachstelle des Genette’schen Systems hin: Aussagelogisch schließt eine extradiegetische Positionierung des Erzählaktes (narration) eine selbst wiederum narrativ vermittelte Erzählfigur – i.S.v. Erzähler-Imago – aus. Metz beobachtet hingegen, dass die Romane um 1800 den extradiegetischen Erzähler oft »als liebende Figur inszenieren« und männlich oder weiblich konnotieren (S. 78). Metz’ Schlussfolgerung führt zu einem narratologischen Paradox, das eigentlich einen diegetischen Ebenensprung voraussetzt: »Statten Romane ihre erzählenden Figuren als Liebende aus, so erzählen sie auf der Ebene des ›discours‹ eine eigenständige Liebesgeschichte. Das ist auch dann möglich, wenn auf der Ebene der ›histoire‹ überhaupt keine Liebe thematisiert wird, es sich im traditionellen Sinne also überhaupt nicht um einen Liebesroman handelt«. Von diesem Befund ausgehend entwickelt Metz vier »Liebesstrategien« (S. 79): 1) Einfühlungs- und Imaginationshilfen, 2) Darstellung von Affekten, 3) Erzeugung von Spannung und 4) Verwendung von Tropen. »Der Liebescode, wenn man bei dem Grad an Komplexität überhaupt noch den Singular verwenden darf, konstituiert sich im Zusammenspiel der thematisierten Liebe auf der Ebene der ›histoire‹, aus der Form ihrer Präsentation sowie aus der Art, wie auf der ›discours‹-Ebene Liebe noch einmal thematisiert wird« (S. 87). Seine Überlegungen bildet Metz in einer Typologie ab:

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1. Thematische Liebesromane, die auf intradiegetischer Ebene von Liebe handeln.

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2. Liebesromane, die nur auf extradiegetischer Ebene die Erzählinstanz als Liebende/-n figurieren.

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3. Liebesromane, die beides tun.

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4. »Romane, die zusätzlich ihren (imaginären) Leser in ein Verführungs- und Liebesspiel einspinnen und dazu (u.a.) gezielt Strategien semiologischer Liebe verwenden. Erst diese Romane schöpfen die gesamte Palette der verfügbaren Möglichkeiten aus, um Liebe zu inszenieren. Erst sie gehen in ihrer Gesamtkonstruktion in Liebe auf, erst sie sind demnach komplette Liebesromane« (S. 88).

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Enzyklopädie

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Nach einer dermaßen umfassenden Systematik stellt sich automatisch die Frage, warum sich Metz auf die (eine) Romantik und einen (einzigen) Roman beschränkt. Er bleibt die Antwort nicht schuldig. Denn natürlich handelt es sich bei der Gräfin Dolores um ein Musterbeispiel des vierten Typs. Arnim vereint hier die beiden wichtigsten Gattungsformate des romantischen Liebesdiskurses – den Liebesroman und den Eheroman – zu einem »›Liebeseheroman‹« (S. 95). Ausgerechnet dieser Roman ist in der Liebesforschung aber bisher kaum beachtet worden, obwohl er von Liebesglück, Ehebruch, Versöhnung und nachfolgendem Familienleben erzählt. Den Roman allerdings wie gemeinhin üblich für konservativ zu halten, greift zu kurz. Auf der einen Seite sieht es zwar so aus, als ob Arnim die individualisierte Liebe, wie sie in der Romantik erfunden worden ist, zurücknimmt und Liebe religiös und moralisch in der Ehe verankert. Auf der anderen Seite steht der Apotheose der Ehe aber das semiologische und narrative Arrangement des Romans gegenüber. Die Gräfin Dolores wird dadurch zum »Metaroman[ ]« (S. 97), dass sie die Narrative der Romantik, ihre Formen und Funktionen, inszeniert und kritisiert. Dabei entpuppt sich der Roman als Enzyklopädie der romantischen Liebe: Betrachtet man Achim von Arnims Roman »aus einer Perspektive, die Kulturwissenschaft, Narratologie und Semiologie ineinander verschränkt, entpuppt sich der Roman als ›literarische Enzyklopädie‹, welche die Gestalt eines ›melancholischen Liebesromans‹ trägt« (S. 415). Zu dieser Enzyklopädie gehören Modelle der Kommunikation, des Geschlechterverhältnisses, der Autorschaft, des Subjekts, der Familie, der Religion sowie der Lektüre. In der Gräfin Dolores finden sie buchstäblich zwischen einem »›aufklärerischen Displacement‹« und einem »›romantischen Displacement‹« statt (S. 418). Gleichzeitig bildet der Roman das literarhistorische Relais zwischen Romantik und Realismus, ja eigentlich zwischen Vormoderne und Moderne.

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Schauplätze der Lektüre

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In seinen akribischen Lektüreprotokollen folgt Metz der Topik des romantischen Liebesdiskurses. Das hat den Vorteil, dass man die Studie einerseits syntagmatisch (als Gesamtinterpretation), andererseits aber auch – das dürfte für die Rezeption sicherlich entscheidend sein – auch paradigmatisch lesen kann, weil jedes Kapitel bestimmte Schauplätze der Liebe in den Blick nimmt (übrigens sehr gut und knapp im Schlusskapitel zusammengefasst):

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1. Initiation (III.2. Romantische Liebe hin, romantische Liebe her)

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2. Brautzeit (III.3. Bewegter Stillstand: Von der Verlobung in die Brautzeit)

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3. Ehe (III.4. Dolores’ Liebestragödie: Geschlechterkampf als Krieg der Theoreme)

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4. Liebe & Poesie (III.5. Karls Liebestragödie: Autorschaft und Liebe)

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5. Liebe & Melancholie (III.6. Die Gräfin Dolores als melancholischer Liebesroman)

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6. Familie (III.7. Letzte Runde: Die tödliche Zirkulation)

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Jedes dieser Kapitel versieht bestimmte Themen und Probleme mit einem zeitlichen Index – das jedenfalls scheint mir die logische Pointe der Lektüren zu sein. Denn über Chronologie und Zeitsemantik treten die Aporien und Paradoxien in Erscheinung. Gleich am ersten Topos – Initiation – zeigt Metz, wie das versprochene Liebesglück für die beiden Liebenden stets unerreichbar bleiben muss. In der Analyse verschaltet Metz poetologische Modelle, wie beispielsweise die Poetik des Bildungsromans, mit semantischen, wie beispielsweise Gefühlssemantik und Zufallssemantik. Die dabei zu beobachtende Argumentationsfigur der Komplexitätssteigerung ist für Metz’ Studie charakteristisch und verlangt den Leser(inne)n sowohl Geduld als auch Muße ab. Am zweiten Topos – Brautzeit – verschaltet Metz mediologische mit ökonomischen Modellen. Ringe, Porträts, Briefe, Geld: Alles, was zirkuliert, bestimmt die Ehe. Am dritten Topos – Ehe – geht es um den Gender Trouble und die strukturelle Gewalt der Liebe, während der vierte Topos – Liebe & Poesie – die Affinität von Liebe und Poesie von der systematischen Ebene auf die inhaltliche übersetzt. Die Liebe autorisiert Karls Dichtung, macht ihn zum Dichter und begründet seine männlich konnotierte Subjektivität, wobei Liebe und Dichtung einander metaleptisch voraussetzen. Dieselbe Struktur findet sich am fünften Topos – Liebe & Melancholie. Hier wird die Melancholie im Sinne einer Poetik zu Dolores’ Ausdrucksmittel und begründet ihre weiblich konnotierte Subjektivität. Am letzten Topos – Familie – zeigt Metz schließlich, dass die Aporien und Paradoxien der Liebe zu einer zirkulären Struktur führen, die in Arnims Roman sowohl religiös als auch sozial begründet wird.

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Am fünften Topos platziert Metz darüber hinaus seinen narratologisch äußerst spannenden Re-Entry in die Topik, indem er die Erzählsituation in sein Kalkül einbezieht, die er bereits in der Systematik so stark gemacht hat: Das Kapitel III.6.2. – Noch eine Liebesbeziehung: Der (implizite) Autor und die verpasste Liebesgeschichte – widmet sich der Erzählinstanz, die im Dienst der Wahrheitsliebe agiert und dadurch im Rahmen des poetischen Kommunikationsmodells eine Systemstelle weiter, an die Position des impliziten Autors, rückt; mit dieser Prozessualisierung, die eine Kontinuität von narrativer Instanz und hermeneutischer Kohärenzfunktion des Romans behauptet, setzt Metz einen eigen(willig)en Akzent auf die meines Erachtens ohnehin problematische Kategorie des impliziten Autors. Referenzillusionen und fingierte Augenzeugenschaft werden indes immer wieder durch Unzuverlässigkeiten (Wunderbares) und Undeutlichkeiten hintertrieben. Gleichzeitig führt den Erzähler sein Begehren nach der wahren »Originalgeschichte« in »das undurchdringliche Gestrüpp der von ihm erzählten Doloresgeschichten (S. 311). Intertextualität und polyphone Autorschaft sind das Ergebnis einer solchen melancholischen Textur, die das Gedächtnis der Literatur bewahrt und bearbeitet. In seiner intertextuellen und intermedialen Verfasstheit bildet Arnims Roman das Archiv der Liebe um 1800 ab. Das Kapitel III.6.3. – Leserverführung: Wer die Gräfin Dolores liest, der liebt – richtet seine Aufmerksamkeit auf die Medialität des Erzählens. Metz versteht sie als Kommunikation von implizitem, männlich konnotiertem Autor und impliziten, weiblich konnotierten Leserinnen, die auf einer mittleren Affektstufe angesiedelt ist. In der Provokation der Disambiguierung von montierten, widerstreitenden Episoden spielt sich eine regelrechte Verführungsszene der Leserinnen ab: Spannung und Überraschung, verführerische Masse, Bildersturm und die De-Figuration des Erzählers sind die Erzählverfahren, die Metz analysiert. Die Textur des Romans tritt als ›changeant taft‹ in Erscheinung, mit dem die Affinität von Roman und dekonstruktivistischer Lektüre strukturell angelegt ist.

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Bilanz

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Am Schluss seines Buches stellt Metz, nach einer Zusammenfassung, die Perspektive noch einmal weit auf die Zukunft ein, indem er behauptet, dass sich das individualisierte Konzept seit Arnim nicht mehr geändert, sondern nur noch entwickelt hat: »Die Romane loten das Können (und die Grenzen)« von Liebessemantik und vor allem »Kommunikationsmedien« aus (S. 422). Eine Gruppe erzählt überbewertete Liebesbeziehungen, die zweite – Metz offenbar mehr interessierende – unterbewertete. In einem atemberaubenden Tempo führt Metz uns in der Literatur- und Liebesgeschichte erst zurück zu Sophie La Roche, dann vorwärts zu Tolstoi, Flaubert, Raabe, Thomas Mann, Keun und schließlich in einem Sprung in die Gegenwart zu Jelinek, Steeruwitz, Genazino, Glattauer, Kleeberg, Hillenkamp, um bei Leane Shaptons 2009 erschienenem Romanexperiment Important Artefacts and Personal Property from the Collection of Leonore Doolan and Harold Morris, including Books, Street Fashion and Jewelry zu enden – ein Roman, der von der Liebe entlang der Dinge in Form eines Ausstellungskatalogs erzählt und den Konsum als neues altes Kommunikationsmedium ins Zentrum stellt.

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Unter dem Strich leistet die Studie dreierlei: 1) einen Beitrag zur Liebesforschung, 2) eine Revision der dekonstruktivistischen Hermeneutik und 3) eine Interpretation des Romans. Träumen wir nicht alle davon, einen Text einmal so gründlich gelesen und besprochen zu haben, dass danach erst einmal Ruhe ist? Wer nach Metz vorhat, von Arnims einzigen Roman zu lesen beziehungsweise das Ergebnis seiner Lektüre der wissenschaftlichen Gemeinschaft mitzuteilen, wird sich das sicherlich gut überlegen. Denn da ist gewissermaßen kein Buchstabe, den Metz in seiner beharrlichen Lektüre nicht mit der leichten Hand eines sicheren Stilisten umgedreht hätte. Solche Lektüreprotokolle sind in der Zeit kulturwissenschaftlicher Rundumschläge heute selten geworden. Sie strapazieren ihre Leser/-innen zweifellos, werden es aber sein, die ihren Platz behaupten werden – und zwar schlicht und ergreifend deshalb, weil sie sich auf ihren historischen Gegenstand mit einem genuin literaturwissenschaftlichen Interesse einlassen.

 
 

Anmerkungen

Vgl. u.a. David Herman: Narratologies. New Perspectives on Narrative Analysis. Columbus 1999; Jan Alber / Monika Fludernik (Hrsg.): Postclassical Narratology. Approaches and Analyses. Columbus 2010.   zurück
Thomas Klinkert: Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe. Freiburg i.Br. 2002, S. 259. Vgl. u.a. Niels Werber: Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation. München 2003; Elke Reinhardt-Becker: Seelenbund oder Partnerschaft? Liebessemantiken in der Literatur der Romantik und der Neuen Sachlichkeit. Frankfurt/M. u.a. 2005.    zurück
Vgl. u.a. Vera Nünning / Ansgar Nünning (Hrsg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies. Stuttgart / Weimar 2004.   zurück
Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf den rezensierten Titel; Kursivierungen werden in einfachen Anführungszeichen wiedergegeben.   zurück
Vgl. Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988.   zurück