IASLonline

Die Wirklichkeit des deutschen Theaters im 18. Jahrhundert. Ein Sammelband bündelt wichtige Arbeiten von Reinhart Meyer.

  • Reinhart Meyer: Schriften zur Theater- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Hg. v. Matthias J. Pernerstorfer. (summa summarum 1) Wien: Hollitzer 2012. XIII, 896 S. EUR (D) 55,00.
    ISBN: 9783990120194.
[1] 

Die germanistische Forschung zum deutschen Theater des 18. Jahrhunderts kreist seit jeher um einige wenige fixe Annahmen: Man habe es mit einer zunehmenden Verbürgerlichung und Nationalisierung der Theaterkultur zu tun, die theoretisch von den zentralen Schriften Gottscheds, Lessings und Schillers flankiert werde und sich in den entstehenden Nationaltheatern institutionalisiert habe. Als grundlegend gilt nicht nur die Entstehung einer neuen, bürgerlichen Affektpoetik, sondern auch die Forderung der aufgeklärten Bühnenreformer, das Theater zu einer moralischen Anstalt zu machen, die den Zuschauer erzieht, bildet und bessert. Gelesen und interpretiert werden in erster Linie die kanonisierten »Gipfelwerke«, allen voran die Dramen Lessings, Goethes und Schillers.

[2] 

Was dabei aus dem Blick gerät, ist die Theaterpraxis der Epoche. Wer in die Spielpläne blickt, wird feststellen, dass diese nicht von den Klassikern, sondern von Bearbeitungen französischer und englischer Stücke sowie von deutschen Autoren wie Iffland und Kotzebue dominiert wurden – deren Dramen aber in Forschung und Lehre (wenn überhaupt) nur eine Nebenrolle spielen. 1 Der eminente Erfolg des Unterhaltungstheaters wird ebenso ausgeblendet wie der Aufstieg des Singspiels, gleiches gilt für die Bühnen- und Schauspielmusik, ohne die im 18. Jahrhundert keine Aufführung zu denken ist. Dass die theoretischen Forderungen der Aufklärung und der Klassik in der Bühnenpraxis nur wenig Widerhall fanden, findet meist nicht einmal Erwähnung. Auch dass die Idee des »Nationaltheaters« in ihrer Umsetzung alles andere als eine rein bürgerliche Institution war, ist zu wenig ins Bewusstsein der Forschung gedrungen. Man könnte dieses Defizit mit der Arbeitsteilung der Disziplinen erklären: Während die Sozialgeschichte und Aufführungspraxis in den Zuständigkeitsbereich der Theaterwissenschaft fällt, ist es Aufgabe der Germanistik, die Dramentexte zu interpretieren. Zu fragen wäre allerdings, ob eine solche Interpretation gelingen kann, wenn sie die sozial- und mediengeschichtlichen Entstehungsbedingungen sowie die institutionelle Rahmung eines Textes unberücksichtigt lässt.

[3] 

Alte Thesen mit innovativem Potential

[4] 

Glücklicherweise ist nun ein Buch erschienen, das im besten Fall die germanistische Dramenforschung daran erinnern wird, die theaterhistorische Realität des 18. Jahrhunderts nicht aus den Augen zu verlieren. Es handelt sich um eine Auswahl von Schriften Reinhart Meyers, bekannt als Herausgeber der voluminösen Bibliographia dramatica et dramaticorum. 2 Der ansprechend gestaltete und vorzüglich edierte Band eröffnet zugleich die Schriftenreihe »Summa Summarum« des Wiener »Don Juan Archiv«.

[5] 

Wie der Herausgeber Matthias J. Pernerstorfer in seinem Vorwort betont, gehen Meyers wissenschaftliche Verdienste über seine Arbeit als Bibliograph hinaus. Er hat wichtige Anstöße zum Verständnis der Theatergeschichte gegeben, die jedoch in der Forschung kaum aufgenommen wurden. Die im Band versammelten Texte dokumentieren Meyers Arbeit von den späten 1970er Jahren bis ins Jahr 2007 und sind in folgende Kapitel eingeteilt: Auf grundsätzliche Überlegungen zum »Theater im 18. Jahrhundert« folgen Aufsätze zu »Hof- und Nationaltheater«, zur »Hamburger Oper« und zu »Oper und Singspiel«. Es schließen Texte an zur »Bibliographische[n] Forschung« und zu »Metastasio«, bevor das Kapitel »Theater und ›Aufklärung‹« und ein Epilog den Band beschließen. Erfreulich umfangreich fällt der Anhang aus, neben einem Verzeichnis der wissenschaftlichen Publikationen Meyers finden sich auch eine Dokumentation des von Meyer geleiteten Regensburger Studententheaters, die Meyers eigene Theaterpraxis belegt, sowie ein Orts-, Personen- und Stückregister.

[6] 

Sämtliche Arbeiten Meyers zeichnen sich durch ihre Nähe zu den historischen Quellen aus. Seine Theatergeschichte fußt auf einer profunden Kenntnis der Spielpläne, der Drucke, der zeitgenössischen Presse und der Funktionsweise der tragenden Institutionen. Aufführungspraxis und Sozialgeschichte des Theaters rücken so ins Zentrum der Aufmerksamkeit. »Das Theater ist ein gesellschaftliches, kein Kunstereignis.« (S. 109) Diese auf die Unterhaltungskultur des 18. Jahrhunderts bezogene These Meyers zieht sich als Leitgedanke durch seine Texte. Ihm geht es darum, hochfliegende theoretische Ansprüche an das Theater des 18. Jahrhunderts, stammen sie nun aus der Feder von Zeitgenossen oder von Nachgeborenen, auf ihre Praxisrelevanz zu überprüfen. Er kann immer wieder zeigen, dass die bürgerlichen Ideale die Theaterkultur der Epoche keineswegs in dem Maße geprägt haben wie gemeinhin angenommen. Theater, so die grundlegende These, lässt sich nicht auf gedruckte Texte reduzieren. Wiederholt reitet Meyer deshalb polemische Attacken gegen die Germanistik, deren Darstellung des Theaters des 18. Jahrhunderts an der Bühnenrealität vorbeigehe und deren Kanonbildung mit der Wirklichkeit der Spielpläne und der Aufführungspraxis nur wenig gemein habe. Auch wenn dieser Vorwurf vor gut 30 Jahren formuliert wurde, hat er an Berechtigung leider wenig eingebüßt. Aber auch für die Theaterwissenschaft könnte ein Rückgriff auf die Arbeiten Meyers gewinnbringend sein, ist dort doch in letzter Zeit das Interesse an einer Theaterhistoriographie erneut erwacht. 3

[7] 

Da es im Rahmen dieser Rezension kaum möglich ist, sämtliche Einsichten des Bandes zu resümieren und zu bewerten, seien im Folgenden die zentralen Thesen Meyers dargestellt. Wer sich in sie einarbeiten will, ohne den gesamten umfangreichen Band zu lesen, sei auf zwei im Band vertretene Aufsätze verwiesen, die Meyers wichtigste Erkenntnisse präzise zusammenfassen: »Die Entwicklung des Theaters im 18. Jahrhundert (unter besonderer Berücksichtigung des Dramas)« (aus dem Jahr 1985) sowie »Limitierte Aufklärung. Untersuchungen zum bürgerlichen Kulturbewußtsein im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert« (1987).

[8] 

Die Rolle der Hoftheater und des Adels

[9] 

Meyer relativiert die Annahme, dass die Theaterkultur im 18. Jahrhundert zunehmend von Bürgern dominiert wird. Dies macht er zunächst an der Institution des Hoftheaters fest, der seiner Ansicht nach einflussreichsten Theaterinstitution des 18. Jahrhunderts. Meyer geht davon aus, dass »das wesentliche Moment für eine historische Bestimmung des sozialen Orts einer Institution und ihrer Produkte […] deren Zweck und Bestimmung, ihre Trägerschaft und ihre Organisation« sei (S. 396). So kann er zeigen, dass die Hoftheater vor allem deshalb zu Nationaltheatern umgewandelt wurden, weil die Fürsten Geld sparen mussten. Im Gegensatz zur französischen Hofbühne und zur italienischen Oper sei die deutsche Bühne »unvergleichlich billiger« gewesen (S. 118). Es entstehen Nationaltheater, die von fürstlichen Zuschüssen abhängig bleiben. Auch wenn sich das Hoftheater nun zunehmend dem bürgerlichen Publikum öffnete, blieb es doch in der Hand des Adels. Am Beispiel des Mannheimer Nationaltheaters kann Meyer zeigen, dass die Hälfte der Abonnements an den Adel, die fürstliche Verwaltung und das Militär ging (S. 139). Es waren die Bürger, die sich in die adlige Theaterkultur integrieren mussten. Sie nahmen Stellen am Hoftheater an (z.B. die Direktion) und es waren Hofbedienstete, die die bekannten Theaterjournale herausgaben. Meyer sieht darin Anzeichen der Unterordnung, weshalb ihm die These einer Übernahme der Hoftheater durch die Bürger abwegig erscheint. Im Theater sei von einer Auflehnung gegen den Adel und von einem Kampf für bürgerliche Werte nur wenig zu merken gewesen. Dass das Theater in den 1790er Jahren »fast ausnahmslos fürstentreu« (S. 119) gewesen sei, erklärt Meyer wie folgt:

[10] 
Die Reform der Hoftheater bedeutete für die davon profitierenden Bürgerlichen einen so wesentlichen Zugewinn an Sicherheit, Produktion und Absatz und Einfluß, daß das Theater mit Erfolg und fast konfliktlos aus den politischen Auseinandersetzungen des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts herausgehalten werden konnte: nicht obwohl, sondern weil Bürgerliche, sei es als Zensoren oder als Bühnenleiter oder Herausgeber einer Theaterzeitschrift, jene auf dem Buchmarkt ansonsten flutende Diskussion kontrollieren und gegebenenfalls durch Verweigerung der Publikation oder Aufführung vom Theater fernhalten konnten und auch mit Erfolg fernhielten. (S. 129)
[11] 

Meyer überspitzt seine These sogar dahingehend, dass er die Hoftheater der 1790er Jahre als »Zentren gegenrevolutionärer Tendenzen« bezeichnet (S. 151). Fest steht, dass der Hof nach wie vor eine permanente Kontrolle über seine Theater ausübte, in den Spielplan eingriff und eine eigene Theaterzensur einrichtete. Diese Kontrolle wurde auch dadurch erleichtert, dass die Theaterkultur aus den ländlichen Regionen verdrängt wurde und sich mehr und mehr auf die Städte konzentrierte. Zwar hatten bürgerliche Intendanten durchaus Freiheit in der Spielplangestaltung, was zur Übernahme der Repertorien der Wandertruppen führte (S. 140). Dennoch musste nicht nur Goethe bei der An- und Absetzung der Stücke »den wie überraschend auch immer geäußerten Wünschen der fürstlichen Familie« (S. 655) nachkommen.

[12] 

Zur Relevanz aufgeklärter Theatertheorien

[13] 

Vor diesem Hintergrund gelangt Meyer auch zu einer relativierenden Darstellung bürgerlich-aufgeklärter Theatertheorien. Zwar räumt er ein, dass »aufgeklärte Theorien eine wesentliche Bedeutung für das deutsche Theater und Drama« behalten, da sie die praktischen Veränderungen mitbestimmt hätten. Innerhalb dieser Praxis sei jedoch nur »die Übernahme einzelner Theorie-Elemente« (S. 116) möglich gewesen, wodurch eine Spannung zwischen Theorie und Praxis entstanden sei. Diese Spannung entlud sich laut Meyer nun aber nicht in einer Kritik an den vom Adel dominierten Theaterverhältnissen, sondern in einer Kritik der bürgerlichen Schauspieler. Sie äußerte sich vor allem meist polemisch in den Kritiken der Theaterjournale. »Ähnlich wie die Fürsten von ihren Untertanen vornehmlich Dankbarkeit erwarteten, verlangten dies nun die Bürger von den Schauspielern.« (S. 660) Es entsteht ein intellektueller Elitismus des ohnmächtigen Bürgertums, gegen den Meyer heftig polemisiert. Über Schillers idealistische Theaterschriften schreibt er: »Der politisch unmündige oder entmündigte Bürger idealisiert seine Verantwortungslosigkeit, indem er deren (unvermeidliche) Folgen mittels einer ästhetisierten Sittlichkeit zum höchsten Genuß einer Elite erhebt.« (S. 694) Eine sozialpsychologische Deutung, die durchaus ihren Reiz hat.

[14] 

Spielplananalyse

[15] 

Auch Meyers Arbeiten zur Spielplananalyse rücken die bürgerliche Theaterkultur des 18. Jahrhunderts in ein anderes Licht. Dies ist auch insofern aufschlussreich, als in jüngster Zeit die digitale Erfassung von Theaterzettelsammlungen voranschreitet. 4 Meyer bietet hier zahlreiche methodische Anregungen. Zum einen, weil er auf wichtige Grundprobleme der Spielplanerstellung hinweist: die Lückenhaftigkeit der Repertorien (S. 342) sowie die problematische Gattungszuweisung der Titel (S. 343). Vor allem aber wird deutlich, dass es ihm nicht nur um eine rein quantitative Auswertung der Spielpläne geht, sondern auch um die Analyse der Wiederholungsfrequenzen einzelner Gattungen, die Konkurrenzsituation, in der sich das jeweilige Theater befand, sowie die sozio-geographische Differenzierung nach Stadt- und Theatertypen. So zeigen seine Texte, dass ein zumal durch Digitalisierung und Internet erleichterter wissenschaftlicher Zugriff auf Theaterzettelsammlungen blind bleiben muss, wenn er den sozialhistorischen Kontext ausblendet.

[16] 

Meyer kann anhand seiner statistischen Analyse der Spielpläne verschiedener Theater zeigen, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht das Trauerspiel bzw. die Tragödie im Zentrum der Spielpläne steht, sondern das Lustspiel und das Musiktheater. Und das, obwohl die erstgenannten deutlich mehr theoretische Aufmerksamkeit erfahren haben. Auch sei die »Trennung zwischen Musik- und Sprechtheater« irreführend (S. 300), da sie nicht der Praxis der Zeit entsprochen haben, in der musikalische Elemente immer schon in die Aufführung von Sprechtheaterstücken eingeflossen sind. Die heute gängige und institutionalisierte Trennung in »Oper« und »Sprechtheater« hat auf das 18. Jahrhundert angewendet wenig Sinn. »Der wissenschaftlichen Spezialisierung der Akademien oder Hochschulen muß nicht zwangsweise die historische Realität entsprechen – und in diesem Fall tut sie es auch nicht. Vielmehr hat die Spartentrennung der modernen Schulen zu gravierenden Entstellungen historischer Sachverhalte geführt.« (ebd.) Ein Satz, den man sich gar nicht dick genug unterstreichen kann. Doch obwohl Interdisziplinarität immer wieder gefordert und gefördert wird, begibt sich, wer denn einmal ernst damit macht, ins Abseits der beteiligten Fächer.

[17] 

Bibliographie-Forschung

[18] 

Nicht unerwähnt bleiben dürfen natürlich Meyers Verdienste als Bibliograph. Seine Forschungsprojekte, allen voran die Bibliographia dramatica et dramaticorum, wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Volkswagen-Stiftung finanziert. Wie man aus dem Vorwort erfährt, arbeitet Meyer seit fünf Jahren auf eigene Kosten an der Fertigstellung, die Universität Regensburg hat ihm dazu eine Büro mit Raum für mehr als 500 000 annotierte Kopien, Mikrofilme und Scans zur Verfügung gestellt, »die wohl größte Materialsammlung zum Theater des 18. Jahrhunderts« (S. VIII). Darüber hinaus hat das Don Juan Archiv in Wien inzwischen die digitale Aufarbeitung in Angriff genommen.

[19] 

Es kann hier nicht der Ort sein, Meyers Arbeit an der Bibliographia umfassend zu besprechen. 5 Dennoch sei darauf hingewiesen, dass bereits die im Band versammelten Texte und Thesen zur bibliographischen Forschung so manchen Gemeinplatz über das Theater des 18. Jahrhunderts relativieren. Dass allein schon der hohe Anteil der italienischen Dramenproduktion in Deutschland die These einer »Nationalisierung« fragwürdig erscheinen lässt, zeigt Meyers Rezension von Claudio Sartoris Bibliographie I libretti italiani a stampa dalle origini al 1800. Gleiches gilt für die Tatsache, dass es sich bei den meisten Dramen um Übersetzungen und Bearbeitungen aus dem Französischen, Englischen und Italienischen handelt. Überhaupt diente die ständig wachsende Dramenproduktion nicht der Lektüre, sondern in erster Linie dem Bühnengebrauch.

[20] 

Kritik

[21] 

Auch wenn Meyers Arbeiten insgesamt zu wenig produktive Weiterentwicklung erfuhren, sind im Lauf der Zeit einige Untersuchungen erschienen, die seine Thesen ergänzen, erweitern und zum Teil auch korrigieren. Wer sich mit der Rolle des Singspiels im Theater des 18. Jahrhunderts beschäftigen will, wird in Jörg Krämers Studie Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert das entsprechende Referenzwerk finden. 6 Und auch die Hoftheater-Forschung ist nicht stehen geblieben, neben Untersuchungen zur Lokalgeschichte einzelner Theater 7 ist es vor allem die Studie Hoftheater der Historikerin Ute Daniel, 8 die in diesem Zusammenhang erwähnt werden muss. Wie Meyer geht Daniel von einer Dominanz der Hoftheater in der europäischen Unterhaltungskultur aus und unterzieht die These einer Verbürgerlichung des Theaters einer fundamentalen Kritik.

[22] 

Gerade an diesem Punkt stellt sich allerdings die Frage, ob Meyer die Dominanz der Hoftheater nicht über- und diejenige der Stadttheater unterbewertet. Wenn Meyer über die Stadttheater schreibt, dass »die bürgerlichen Aktiengesellschaften infolge ihrer geringen Finanzkraft relativ bedeutungslos blieben«, unterschlägt er die lebendige Theaterkultur, die sich in Städten wie Hamburg, Frankfurt und Leipzig entwickelte. Zu behaupten, dass es »städtische Theater […] nicht gegeben« habe (S. 643), geht an der Realität vorbei. Zwar ist es richtig, dass etwa der Hamburger Senat das Stadttheater finanziell nicht unterstützte, dieses konnte sich aber in Form einer Aktiengesellschaft über die Jahre hinweg halten und mit Friedrich Ludwig Schröder einen der bedeutendsten Schauspieler und Direktoren der Zeit an sich binden. Zwar räumt Meyer in einer Fußnote ein, dass Schröders Hamburger Unternehmen »gern als (einziges) Beispiel bürgerlicher Theaterinitiative in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts angeführt« werde, wendet jedoch ein, dass Schröder sein Unternehmen zuerst abgebrochen und dann, nach seiner Rückkehr, mit der Konkurrenz einer französischen Truppe zu kämpfen gehabt habe (S. 646). Diese Probleme hinderten Schröder jedoch nicht daran, in Hamburg wichtige Theaterreformen zu initiieren und nicht nur die deutsche Shakespeare-Rezeption mit seinen Inszenierungen voranzubringen. Das Beispiel des Hamburger Stadttheaters zeigt, dass es bereits im späten 18. Jahrhundert in Deutschland Theater gab, die von Bürgern für Bürger gemacht wurden und von höfischem Einfluss frei waren.

[23] 

Auch an anderen Stellen schießt Meyer übers Ziel hinaus. Goethes Götz von Berlichingen nennt er als Beispiel für ein bühnenuntaugliches Werk, das »sich seiner Dramatisierung wegen fundamentaler Verstöße gegen die Ökonomie der Bühnen« verweigere (S. 315). Am Beispiel der Hamburger Erstaufführung (Oktober 1774) versucht er zu zeigen, dass gerade die »privaten Theater in den Bürgerstädten« außerstande gewesen seien, »den Götz mit ihren beschränkten technischen Mitteln und in ihren kleinen Räumen angemessen und verständlich aufzuführen.« (S. 333) Goethe habe sich nicht an »die medialen Grundbedingungen« gehalten, die »alle Schreibformen strukturieren.« (S. 337) Doch wie die zeitgenössischen Rezensionen des Stückes zeigen, wurde die Hamburger Erstaufführung gerade wegen ihrer bühnentechnischen Umsetzung und der Dekorationsmalerei gelobt. 9 Offenbar war man doch imstande, Goethes anspruchsvolle Dramaturgie – wie verändert auch immer – in die Praxis zu übertragen. Hier zeigt sich, dass Meyers materialistischer Ansatz zu beschränkt ist: Es ist nämlich durchaus möglich, dass ein Dramentext die Bühnenpraxis überschreitet und so eben diese Bühnenpraxis voranbringt. Dieses Wechselspiel zwischen Text und Aufführung übersieht Meyer, da er sich zu wenig für den Inhalt der Dramentexte interessiert und stattdessen ausschließlich ihre sozialgeschichtliche und institutionelle Rahmung in den Blick nimmt.

[24] 

Fazit

[25] 

In zu wenig beachteten Ideen schlummern oft Erkenntnisse, die es zu wecken gilt, und das trifft auf Meyers Texte allemal zu. Sie zeigen eindrucksvoll, dass in der Geisteswissenschaft das Alte nicht unbedingt der Feind des Neuen sein muss: Obwohl viele der im Band versammelten Aufsätze vor mehr als zwei Jahrzehnten erschienen sind, lohnt sich ihre Lektüre auch heute noch. Für die Kenntnis der Sozial- und Aufführungsgeschichte des deutschen Theaters im 18. Jahrhundert sind sie grundlegend. Zu ihren Stärken gehört es nicht zuletzt, dass sie trotz ihrer Materialnähe keineswegs spröde daherkommen, sondern souveränen Überblick mit analytischer Schärfe verbinden und die zentralen Thesen pointiert vortragen. Selbst wenn Meyer dabei manchmal in Polemik verfällt und übers Ziel hinausschießt, so ist das eher anregend als verstörend. Die Veröffentlichung seiner wichtigsten Aufsätze in einem Band lässt hoffen, dass sie vor allem in der Germanistik endlich jene Aufmerksamkeit erfahren, die ihnen gebührt.

 
 

Anmerkungen

Allerdings scheint die Grundlagenforschung zu Iffland und Kotzebue in jüngster Zeit durch die folgenden Lexika und Editionen in Gang zu kommen: Mark-Georg Dehrmann, Alexander Košenina (Hg.): Ifflands Dramen. Ein Lexikon. Hannover: Wehrhahn Verlag 2009; Johannes Birgfeld / Julia Bohnengel / Alexander Košenina (Hg.): Kotzebues Dramen. Ein Lexikon. Hannover: Wehrhahn Verlag 2011; August Wilhelm Iffland: Albert von Thurneisen. Ein bürgerliches Trauerspiel in vier Aufzügen. Mit einem Nachwort herausgegeben von Alexander Košenina (Theatertexte 1). Hannover: Wehrhahn Verlag ²2008; August Wilhelm Iffland: Beiträge zur Schauspielkunst. Mit einem Nachwort herausgegeben von Alexander Košenina (Theatertexte 20). Hannover: Wehrhahn Verlag 2009; August von Kotzebue: Das neue Jahrhundert. Eine Posse in Einem Akt. Mit einem Nachwort herausgegeben von Alexander Košenina (Theatertexte 32). Hannover: Wehrhahn Verlag 2012. Zum Unterhaltungstheater vgl. den Sammelband: Johannes Birgfeld / Claude D. Conter (Hg.): Das Unterhaltungsstück um 1800: literaturhistorische Konfigurationen – Signaturen der Moderne. Zur Geschichte des Theaters als Reflexionsmedium von Gesellschaft, Politik und Ästhetik. Hannover: Wehrhahn Verlag 2007.    zurück
Reinhart Meyer: Bibliographia dramatica et dramaticorum. Kommentierte Bibliographie der im ehemaligen deutschen Reichsgebiet gedruckten und gespielten Dramen des 18. Jahrhunderts nebst deren Bearbeitungen und Übersetzungen und ihrer Rezeption bis in die Gegenwart. Tübingen: Niemeyer 1986 ff.   zurück
Vgl. hierzu Jan Lazardzig / Viktoria Tkaczyk / Matthias Warstat: Theaterhistoriografie. Eine Einführung. Tübingen: A. Francke 2012.   zurück
Vgl. hierzu das von 2013 bis 2016 geförderte DFG-Projekt »Bühne und Bürgertum. Das Hamburger Stadttheater 1770–1850« am Institut der Germanistik der Universität Hamburg. Im Rahmen dieses Projektes wird auch anhand der Theaterzettel-Sammlung ein Online-Spielplan des Stadttheaters erstellt: www.stadttheater.uni-hamburg.de (18.12.2013). Von der DFG gefördert werden auch das von 2009 bis 2014 laufende Projekt »Theater und Musik in Weimar 1754–1969. Theaterzettel und Online-Spielplan des Hoftheaters und Deutschen Nationaltheaters Weimar« http://www.urmel-dl.de/Projekte/TheaterzettelWeimar.html (18.12.2013) sowie das Projekt »Düsseldorfer Theaterzettel«, das die Theaterzettel von Düsseldorfer Theatern aus den Jahren 1802 bis 1918 erschließt und digitalisiert: http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/theaterzettel (18.12.2013). Zur Digitalisierung von Theaterzetteln vgl. den Sammelband Matthias J. Pernerstorfer (Hg.): Theater – Zettel – Sammlungen. Erschließung, Digitalisierung, Forschung. Wien: Hollitzer 2012.   zurück
Vgl. Jörg Krämer: Rezension zu Reinhart Meyer: Bibliographia Dramatica et Dramaticorum. 2. Abteilung (1993 ff.). In: Arbitrium 16 (1998), S. 131–135.   zurück
Jörg Krämer: Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung. 2 Bde. Tübingen: Niemeyer 1998.    zurück
Vgl. etwa die jüngst erschienene Studie von Birgit Himmelseher: Das Weimarer Hoftheater unter Goethes Leitung. Kunstanspruch und Kulturpolitik im Konflikt. Berlin, New York: De Gruyter 2010.   zurück
Ute Daniel: Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart: Klett-Cotta 1995.   zurück
Vgl. hierzu die Aufführungskritiken in: Theatralisches Wochenblatt 1774, 10.-12. Stück, S. 74–96; Der teutsche Merkur 1775, H. 2, S. 272 f. sowie die Darstellung in Johann Friedrich Schütze: Hamburgische Theater-Geschichte. Hamburg: Selbstverl. 1794, S. 417 f.   zurück