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Vom vir bonus zur »Testosteron-Rhetorik«:

Lily Tonger-Erk untersucht Körper und Geschlecht in der Rhetoriklehre

  • Lily Tonger-Erk: Actio. Körper und Geschlecht in der Rhetoriklehre. (Studien zur deutschen Literatur 196) Berlin, Boston: Walter de Gruyter 2012. 490 S. Gebunden. EUR (D) 119,95.
    ISBN: 978-3-11-026636-8.
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Anfang des Jahres 2015 ging der Neologismus manterruption durch die US-Medien. Die New Yorker Journalistin Jessica Bennett versteht darunter eine (unnötige) Unterbrechung einer Frau durch einen Mann. 1 Sozialwissenschaftliche Forschung, auf die Bennett sich beruft, belegt, dass Frauen während ihrer Redebeiträge besonders häufig unterbrochen werden, und das zumal von Männern. Die Wortschöpfung veranschaulicht, dass die Frage nach Geschlecht im Zusammenhang mit Rhetorik, die Lily Tonger-Erk in ihrer brillanten Studie Actio behandelt, auch im 21. Jahrhundert virulent ist. Einer Neuauflage ihrer Untersuchung könnte Tonger-Erk womöglich mit Gewinn die Analyse der empfohlenen Strategien, mit manterruption umzugehen, hinzufügen (nahe gelegt wird u.a., sich bei Arbeitszusammenkünften am Tisch nach vorne und nicht etwa zurück zu lehnen, um stärkere körperliche Präsenz zu entfalten). Nach wie vor gilt, was Tonger-Erk schon im ersten Kapitel ihrer Arbeit mit Pierre Bourdieu und Judith Butler festhält: die »Aussicht auf die Wirkmächtigkeit der Rede für Redner und für Rednerinnen [ist] – bei gleicher rhetorischer Kompetenz – aufgrund der historischen Codierung der Rednerposition als eine männliche nicht gleichermaßen gegeben« (S. 19).

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Körper und Geschlecht spielen, wie Tonger-Erk zeigt, bereits in der alten, d.h. antiken Rhetorik eine tragende Rolle. »Keine Rede wirkt, wenn der Redner sein Publikum nicht mit der Art und Weise seines Auftretens, seiner Stimmführung, Gestik, Mimik und Kleidung – kurz: mit seiner actio – zu überzeugen vermag« (S. 1). Dabei stellt die actio den sprechenden und gestikulierenden Körper weniger dar als vielmehr her. Rhetorik sei, so die zentrale These der nicht nur an Bourdieu und Butler, sondern auch an Michel Foucault geschulten Studie, mithin als »Körperbildungsmacht« zu verstehen. Schon der klassischen Rhetorik geht es »um die Einübung körperlicher Praktiken« (S. 6). Indem Tonger-Erk dies vehement betont, etabliert sie auch ein neues, umfassenderes Verständnis von Rhetorik, das der Rhetorikforschung insgesamt zugute kommt.

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Rhetorik als »Körperbildungsmacht« ist nicht geschlechtsneutral, sie hat vielmehr Teil an der Herausbildung, Fest- und Umschreibung, der Verhandlung von Geschlecht. Rhetorik erweist sich damit, so Tonger-Erk, als eine Art Performativitätstheorie avant la lettre. Der Studie geht es also um die Verknüpfung von Redeauftritt und Geschlechterperformanz; mit Actio wird diese erstmals historisch-systematisch aufgearbeitet. Der Blick auf Rhetorik als Körperbildungsmacht war bislang Desiderat sowohl der Rhetorik- als auch der Genderforschung. Dabei lohnt sich das Unternehmen: »Rhetorik aus einer gender-orientierten Perspektive zu untersuchen, ist gerade deshalb so aufschlussreich, weil die Rhetorik eben nicht nur ausführt, wie Rede hergestellt wird und wirkt, sondern auch wie Geschlecht hergestellt wird und wirkt« (S. 459).

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Tonger-Erks Studie leistet eine umfassende Darstellung von Körper und Geschlecht in der Rhetoriklehre von der Antike bis in die Gegenwart. Der Leserin, dem Leser dieser Untersuchung wird viel geboten; schon der schiere Umfang des auf knapp fünfhundert Seiten aufbereiteten Quellenmaterials ist beeindruckend. Um es zu ordnen, geht Tonger-Erk in drei großen Schritten vor: Zunächst befragt sie die grundlegenden Texte der Antike. Im großen Mittelteil der Untersuchung wird die Rhetorik des 18. Jahrhunderts untersucht. Ein Blick auf seit den späten 1980er Jahren in Deutschland erschienene Rhetorikratgeber für Frauen rundet die Studie ab.

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Tonger-Erk geht von einem weiten Rhetorikbegriff aus, der vor allen Dingen im dem 18. Jahrhundert gewidmeten Mittelteil der Untersuchung zum Tragen kommt. Gerade dadurch gelingt es, Rhetorik überhaupt bezogen auf Frauen zu denken. Denn die ›große Rede‹ ist im 18. Jahrhundert noch strikt dem Mann vorbehalten. So bezieht Tonger-Erk auch die Konversation als Frauen zugängliche Form der Rede in ihre Untersuchung mit ein.

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Alte Rhetorik: Herstellung des vir bonus

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Explizit tauchen Frauen in der alten Rhetorik nicht auf; der weiblichen Rede kommt vielmehr die Funktion zu, »die Grenzen der ›guten‹ männlichen Rede [zu] markieren« (S. 409). Tonger-Erks Analyse der actio-Lehre zeigt aber, »dass der alten Rhetorik geschlechtliche Parameter eingeschrieben sind, und zwar in einem bemerkenswerten Umfang und auf verschiedenen Ebenen« (S. 134). Dabei gilt vor allen Dingen, dass der gute Redner in Abgrenzung zu einem weiblichen, aber auch z.B. zu einem alten, statusniedrigen oder fremdländischen Redner definiert wird: »Die rhetorikfähige Stimme wird als männliche, starke, feste, widerstandsfähige, kräftige, disziplinierte Stimme definiert, die nicht weibisch, weich, zart, dürftig, dünn, hohl oder singend sein darf« (S. 135). Der Redeauftritt einer Frau gilt in der Antike grundsätzlich als Übertretung des decorum. So werden hier rhetorikfähige und nicht-rhetorikfähige Subjektpositionen konstruiert – mit Nachwirkungen, wie Lily Tonger-Erk schreibt, bis in die heutige Zeit. Im Zentrum der alten Rhetorik steht der vir bonus; die Rhetorik dient letztlich seiner Produktion. Die ständige Problematisierung des Auftretens des vir bonus verweist dabei, so Tonger-Erks Argument, auf die Instabilität dieser Subjektposition: Judith Butler grüßt die Antike.

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Die Rednerin als ›öffentliche Frau‹: Transformationen der Rhetorik im 18. Jahrhundert

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Das 18. Jahrhundert steht im Zentrum der Untersuchung. Denn gerade jetzt gewinnt die Körperbildungsmacht Rhetorik neue Relevanz – und das aus drei Gründen. Erstens werden Wissensbestände der klassischen Rhetorik nun auch in anderen Bereichen, z.B. der Pädagogik und Schauspiellehre, aufgegriffen. Zweitens ist das 18. Jahrhundert der Zeitraum, in dem sich die Vorstellung zweier entgegengesetzter Geschlechter durchsetzt. Erst jetzt bilden sich jene polaren Geschlechtscharaktere heraus, die schon bald (und teils bis heute) als ›natürlich‹ gelten werden. Und drittens erhält ›Bildung‹ – auch rhetorische – im Kontext der Aufklärung einen zuvor nicht gekannten Rang. Hier vor allen Dingen bewährt sich der von der Autorin veranschlagte weite Rhetorikbegriff, der es möglich macht, Ratgeberliteratur des 18. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen. Denn »gerade in solchen Gebrauchstexten, die nicht der traditionellen Systemrhetorik zuzurechnen sind, [finden sich] Aussagen über eine geschlechtsdifferenzierte actio«, so eines von Lily Tonger-Erks Ergebnissen (S. 3). Von einem Verschwinden der Rhetorik im 18. Jahrhundert, wie die ältere Forschung glaubte, kann keine Rede sein. Vielmehr gilt es, die Transformationen der Rhetorik in den Blick zu nehmen, die sich im 18. Jahrhundert ereignen und die u.a. zur bereits erwähnten Einwanderung der Rhetorik in die Schauspiellehre führen: Tonger-Erk zieht als actio-Abhandlungen insbesondere Johann Jakob Engels Ideen zu einer Mimik, Hermann Heimart Cludius’ Grundriß der körperlichen Beredsamkeit und Johann Gottfried Pfannenbergs Über die rednerische Action heran. Darüber hinaus fasziniert die Analyse der von einem anonymen Verfasser stammenden Redekunst für Frauenzimmer. Bei dieser einzigen Rhetorik für Frauen im 18. Jahrhundert handelt es sich – nicht zufällig, wie Tonger-Erk betont – um eine Übersetzung aus dem Französischen. Die Pointe der Lektüre: »Obwohl anzunehmen wäre, dass ein Rhetorikratgeber seine Rezipient/innen rhetorisch ermächtigen sollte, bietet der Text in erster Linie eine Bühne für die galante Rhetorik des Verfassers« (S. 413).

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Die pädagogischen Texte schließlich, die Tonger-Erk in den Blick nimmt, darunter Jean-Jacques Rousseaus Émile ou de l’éducation und Joachim Heinrich Campes Väterlicher Rath für meine Tochter orientieren das Mädchen und die Frau daran, zu ›gefallen‹. Diesem Ideal ordnet sich dann auch die weibliche Rede unter – sie tue dies jedoch, so Rousseau, aus innerem Bedürfnis heraus, denn gefallen zu wollen entspricht, so die Argumentation des Aufklärers, dem inneren Wunsch, der ›Natur‹ der Frau. Dieser Programmatik sind auch die Anstandslehren der Zeit verpflichtet, die Tonger-Erk auf ihre Aussagen zur Rhetorik hin liest. Die Analyse der Anstandslehren zeigt, dass auch hier die actio der Frau auf Bescheidenheit und Inszenierung der eigenen Anspruchslosigkeit abzielt. Dabei geht es um mehr als die Rede selbst, wie etwa in Gottfried Immanuel Wenzels Mann von Welt deutlich wird: »Den Mann kleidet das unternehmende Wesen, das frei sich ankündigende in seinem Anstande; bei dem Frauenzimmer gefällt dies aber nicht; hier müssen Bescheidenheit, sittliche Zurückhaltung und Schamhaftigkeit in Miene, Stellung, Ton, Gang, Bewegung und Wendungen herrschen.« 2 Drastisch kommt diese Einschätzung in der topischen Gleichsetzung der Rednerin mit der Prostituierten, der ›öffentlichen Frau‹, zum Ausdruck (S. 181). Damit ist auch die Schauspielerin gemeint. Das öffentliche Auftreten der Frau ist etwa für Rousseau per se »unschicklich«. 3

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So unschicklich die öffentliche Rede für die Frau des 18. Jahrhunderts sein sollte, so prädestiniert erschien sie für das Briefeschreiben, wie die zahlreichen sich an Frauen richtenden Briefsteller – also Anleitungen zum Briefeschreiben – der Zeit zeigen. Hier vermerkt Tonger-Erk mit Recht weiteren Forschungsbedarf: die Vielzahl der Briefsteller ist in Bezug auf Gender-Fragen noch wenig erforscht, reizvoll erscheint dies gerade vor dem Hintergrund der nun vorgelegten Studie zur Rhetorik der Zeit. Denn die Förderung des weiblichen Briefeschreibens steht, so lässt sich vermuten, gerade nicht in Widerspruch zum Ausschluss der Frau von der öffentlichen Rede. Über das in den Briefstellern propagierte Natürlichkeitsideal wird die weibliche Mitteilung als ›Sprache des Herzens‹ kodiert. Genau dies aber, so Lily Tonger-Erk, zementiert den Ausschluss der Frau aus der Öffentlichkeit. ›Öffentliche‹ und ›private‹ Rede werden im 18. Jahrhundert voneinander getrennt. Waren in der höfischen Öffentlichkeit Frauen noch präsent, gilt dies für die bürgerliche Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts immer weniger. Damit einher geht der Abschied vom Bildungsideal des gelehrten Frauenzimmers – u.a. prozessiert durch Rousseaus Erziehungsroman Émile. Denn in der Frühaufklärung, auch das stellt Tonger-Erk überzeugend dar, erscheint die Rednerin gerade durch die jetzt veröffentlichten Frauenzimmer-Lexika zumindest denkbar: »Mit ihrem expliziten Aufruf zur imitatio zielen die Frauenzimmer-Lexika auf eine sich schrittweise vollziehende Bildungsgleichheit und damit einhergehende rhetorische Ermächtigung von Frauen« (S. 411). Wenn auch nicht unbedingt als »sozialhistorisches Subjekt«, so doch als »rhetorisches Gedankenspiel« ist die Frau als Rednerin in der Frühaufklärung denkbar (S. 411). Das aufstrebende Bürgertum des 18. Jahrhunderts wird dieses Ideal gänzlich verabschieden.

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Abschied vom ›Gefallenwollen‹: Rhetorikratgeber für Frauen

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Im dritten Teil ihrer Untersuchung nimmt Tonger-Erk jene Rhetorikratgeber für Frauen in den Blick, die seit den 1980er Jahren auf dem deutschen Buchmarkt veröffentlicht werden. Im Zuge der zweiten Frauenbewegung ab 1968 wird die Ungleichbehandlung von Frauen u.a. auf entsprechende Kommunikationsstrukturen zurückgeführt. Die feministische Sprachwissenschaft stößt auch die bis heute virulente Genus-Debatte an. Ein Teil der mittlerweile bereits historischen Thesen bestätigte paradoxerweise die Gender-Dichotomie, die es zu überwinden galt. Deborah Tannens inzwischen widerlegte Forschungen konstruierten etwa einen ›männlichen‹ und einen ›weiblichen‹ Stil entlang der Kategorien ›Bericht‹ und ›Beziehung‹. Vor allen Dingen aber wird das in den Anstandslehren des 18. Jahrhunderts propagierte ›Gefallenwollen‹ der Frauen nun problematisch und von den Rhetorikratgebern als Kern des Übels entlarvt. Zudem widmen sich die Ratgeber besonders intensiv dem Redeauftritt, der actio – meist unter dem Stichwort ›Körpersprache‹. Dabei geht es – eine maßgebliche Verschiebung gegenüber dem 18. Jahrhundert, bei dem insbesondere die Konversation im Zentrum der rhetorischen Überlegungen stand – um eine spezifische Situation, die auch Bennett im Sinn hat, nämlich die der beruflichen Konkurrenz. Frauen wird von den Ratgebern die Verantwortung für berufliche Benachteiligungen selbst zugeschrieben: »Die weibliche Rhetorik – und nicht so sehr die bösen Männer! – hält Frauen im Beruf und anderswo davon ab, das zu bekommen, was ihnen zusteht,« 4 so heißt es in einer Rhetorik für freche Frauen. Damit erweisen sich die Rhetorikratgeber als tendenziell unpolitisch. Gefragt wird nicht etwa nach gesellschaftlichen Strukturen, die die Ungleichheit der Geschlechter bedingen. Suggeriert wird vielmehr, dass bereits einige Anleihen bei einem als männlich codierten Sprachstil die Probleme auf der individuellen Ebene lösen könnten: »Je charmanter und weiblicher der Sprachstil einer Frau, desto wirkungsvoller und gleichzeitig weniger image-schädlich sind gelegentliche Anleihen beim testosteronen Sprachstil.« 5 Insgesamt legen die Rhetorikbücher für Frauen den Fokus eher auf ein Mental-Training denn auf Disziplinierung des Körpers. Die Einübung bestimmter körperlicher Haltungen bzw. die Vermeidung vermeintlich typisch weiblicher Gesten wie z.B. des schiefgelegten Kopfes dient insofern der Rückwirkung auf die eigene psychische Befindlichkeit: der »Stärkung des äußeren Auftritts [folgt] unmittelbar eine Stärkung des Selbstbewusstseins« (S. 452).

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Es ist Lily Tonger-Erk hoch anzurechnen, dass sie der Versuchung bewusst wiedersteht, eine ›große Erzählung‹ anzubieten. So geht es der theoretisch avancierten und historisch-systematisch informierten Studie nicht darum, eine Konstante der unterdrückten weiblichen Rede zu konstruieren. Vielmehr weist Tonger-Erk gerade auf die »veränderliche rhetorische Konstruktion der Geschlechterdifferenz« hin (S. 14).

 
 

Anmerkungen

Jessica Bennett: How not to be ›Manterrupted‹ in meetings (14.01.2015), in: Time. http://time.com/3666135/sheryl-sandberg-talking-while-female-manterruptions/ (15.03.2015)   zurück
Gottfried Immanuel Wenzel (1801): Der Mann von Welt oder Grundsätze und Regeln des Anstandes, der Grazie, der feinen Lebensart, und der wahren Höflichkeit, 6., unveränderte Aufl., Pest: Conrad Adolf Hartleben 1817, S. 141.   zurück
Jean-Jacques Rousseau: Brief an Herrn d’Alembert über seinen Artikel ›Genf‹ im VII. Band der Enzyklopädie und insbesondere über den Plan, ein Schauspielhaus in dieser Stadt zu errichten (1758). In: Rousseau, Schriften, hg. von Henning Ritter, Bd. 1, München, Wien 1978, S. 333–474, hier S. 423, vgl. 418.   zurück
Cornelia Topf: Rhetorik für freche Frauen. Sagen Sie, was Sie meinen – erreichen Sie, was Sie wollen!, Frankfurt 2005, S. 12.   zurück
Ebd., S. 131.   zurück